Betten pflegen keine Menschen. Und Beatmungsgeräte sind notwendig, aber eben für sich nicht hinreichend. Diese scheinbaren Trivialitäten werden in diesen Tagen wieder einmal zum großen Thema. „Wir wiegen uns bei der Zahl der freien Intensivbetten in falscher Sicherheit.“ Mit diesen Worten wird Christian Karagiannidis, der Sprecher des DIVI-Intensivregisters, in dem Artikel Zahl der verfügbaren Intensivbetten in Deutschland geringer als gedacht zitiert. Und er erläutert: „Bundesweit melden Kliniken freie Betten als verfügbar an, obwohl einige wegen des Personalmangels gar nicht genutzt werden können.“ Er rufe daher alle Kliniken auf, „ganz ehrlich“ ihre freien Betten zu melden. Das sollte man bedenken, wenn man in diesen Tagen die täglich vom Intensivregister der Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) veröffentlichten Zahlen vor allem zu den (noch) freien Kapazitäten für eine intensivmedizinische Behandlung richtig interpretieren möchte.
»Aufgefallen ist Karagiannidis die Entwicklung in den vergangenen zwei, drei Wochen. „Wir bekommen immer mehr Rückmeldungen von Notärzten quer aus Deutschland, die uns sagen: Ich habe Schwierigkeiten, meine Patienten in Kliniken unterzubringen, obwohl uns das Register in der Region Dutzende freie Betten anzeigt“, sagt der Intensivmediziner.«
Und das, wo doch so viele Intensivbetten leer stehen. Der Hintergrund ist bekannt: »Die pflegerische Versorgung wird der zentrale Engpassfaktor bei der Versorgung von COVID-19-Patienten auf Intensivstationen sein«, so Florian Staeck in seinem Artikel Intensivstationen: Das Personal ist der Flaschenhals. Intensivmediziner berichten von dem hohen Aufwand in der Versorgung der Corona-Patienten. Diese binde „extrem viele Ressourcen“, so beispielsweise Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivstation am Universitätsklinikum Köln. Nötig sei fast eine 1 zu 1-Betreuung. Hinzu kommt, dass man das Schichtsystem berücksichtigen muss: Ein beatmeter COVID-19-Patient braucht allein bis zu fünf Pflegefachkräfte für die Versorgung pro Tag.
➞ »Die Hygienemaßnahmen seien extrem aufwändig, für das An- und Ausziehen der Schutzkleidung müsse man jedes Mal drei bis fünf Minuten einkalkulieren, so Kochanek. Wenn ein Diffusor piepst, könne man nicht mal eben zum Patientenbett springen, sagte Professor Uta Merle, kommissarische ärztliche Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektionen und Vergiftungen am Universitätsklinikum Heidelberg. „All das, was man gewöhnt ist, geht in diesem Fall nicht“, so Merle. Das generiere Stress, wenn etwa ein Monitoringgerät Alarm schlägt. Und das passiert oft. Für eine Studie, berichtet Kochanek, habe man die Zahl der Alarmmeldungen pro 24 Stunden und Intensivpatient zusammengezählt: es waren 120.«
Und mit Blick auf die immer wieder an dieser Stelle eingeworfenen Hinweise, dass man dann ja Pflegepersonal aus anderen Bereichen abziehen und auf den Intensivstationen einsetzen könne: »Intensivpflegekräfte seien so hochspezifisch ausgebildet, dass ihre Arbeit allenfalls teilweise auf andere Pfleger verteilt werden könnten, hieß es … die bisherige Erfahrung zeige, dass Pflegekräfte aus anderen Stationen höchstens 30 bis 40 Prozent der Tätigkeiten von Intensivpflegekräften übernehmen könnten, berichtete Kochanek. Die übrigen Tätigkeiten seien einfach „viel zu spezialisiert“.«
„Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal“, so wird Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), in diesem Artikel zitiert: Intensivmediziner warnen vor drohender Überlastung. Und Janssens ergänzt: „Bis jetzt sind wir zurechtgekommen. Aber wir müssen die Pflegepersonal-Untergrenzen wieder aussetzen, wenn das so weitergeht.“
Pflegepersonal-Untergrenzen? Da war doch was, schon lang vor Corona. Und überhaupt – auch die angesprochenen und im Kontext der derzeitigen „zweiten Welle“ der Corona-Pandemie so dramatisch als aktuelles Problem aufgerufenen Personalprobleme gerade auf den Intensivstationen sind doch nicht erst diese Tage gleichsam vom Himmel gefallen?
Mehr als nur „Hinterher ist man immer schlauer“: Die Versäumnisse der Vergangenheit fallen einem jetzt auf die Füße
Bereits in den Jahren vor dem Ausbruch der Corona-Krise und der aktuell wieder diskutierten Gefahr einer Überlastung intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten wurde das Thema Personalmangel immer wieder aufgerufen – und es ist offensichtlich notwendig, in diesen Tagen erneut darauf hinzuweisen.
➞ »Kinder sind die schwächsten aller Patienten. Die Versorgungsengpässe in deutschen Kliniken sind mittlerweile so massiv, dass Kinder in Lebensgefahr geraten oder sogar sterben. Das erklären Ärzte gegenüber Kontraste. Eine aktuelle Studie der Universität Köln bestätigt die Missstände. Hintergrund ist die Kommerzialisierung des Krankenhauswesens, unter der Kinderkliniken besonders leiden. Mit der Einführung der Fallpauschalen werden nicht mehr die tatsächlich anfallenden Kosten erstattet. Die Zahl der behandelten Kinder ist in 16 Jahren um 25 Prozent gestiegen, im gleichen Zeitraum wurden unter dem Spardruck 33 Prozent der Betten in der Kindermedizin abgebaut. Hinzu kommt: Intensivbetten müssen teilweise wegen Personalmangel gesperrt werden.« Damit beginnt der Bericht Warum Kinder an deutschen Kliniken in Lebensgefahr geraten des Politikmagazins „Kontraste“ vom 14. November 2019. »Betten gibt es zwar genug, das Problem aber ist, dass Pfleger und Schwestern fehlen, die die Kinder versorgen können. Bei Prof. Mall, Chefarzt der Kinderklinik der Berliner Charité, sind deshalb im Schnitt 20 Prozent der Intensiv-Betten gesperrt und er sucht händeringend qualifiziertes Personal.« Und er wird mit diesen Worten zitiert: „Wenn wir keine Betten haben, ist es so, dass wir zunächst versuchen, dass wir zunächst erstmal versuchen, die Kinder innerhalb von Berlin zu verlegen, dass wir, wenn das nicht gelingt, auch Kinder in Kliniken nach Brandenburg verlegen. Im Einzelfall ist es auch schon vorgekommen bis nach Rostock und Stralsund.“
➞ Ein weiteres von den vielen Beispielen aus der Vor-Corona-Zeit: »Rettungsleitstellen sollen auf den ersten Blick erkennen, welche Kliniken freie Kapazitäten haben und Notfallpatienten so möglichst schnell in die Klinik mit der besten Versorgung bringen. Das ist das Ziel des internen Meldesystems namens Ivena. Nun zeigen Recherchen des Magazins Panorama 3, dass sich immer mehr Intensivstationen über lange Zeiträume komplett aus der Notfallversorgung abmelden und damit angeben, dass sie keine freien Kapazitäten mehr haben.« Darüber berichtete der NDR am 11. Februar 2020 unter der Überschrift Immer mehr Intensivstationen überlastet. »Über einen Zeitraum von vier Monaten analysierte der NDR Millionen von Daten, die zwischen Rettungsleitstellen und Intensivstationen in Bremen und Niedersachsen ausgetauscht werden. Sind Intensivstationen bereits voll ausgelastet, stellen sie sich in dem System auf rot, Rettungswagen sollen Patienten nach Möglichkeit in andere Kliniken bringen. Nach den aktuellen Daten hat sich die Lage auf den Intensivstationen in den letzten eineinhalb Jahren deutlich verschärft. Die sieben Kliniken der Stadt Bremen zusammengenommen haben demnach eine Abmeldequote für die Intensivstationen von mittlerweile 66 Prozent. Das bedeutet, dass alle Intensivstationen der sieben Kliniken in Bremen in dem erhobenen Zeitraum von vier Monaten 66 Prozent der Auswertungszeit auf rot standen, also abgemeldet waren. Auch in der Region Hannover hat sich die Situation verschlechtert: So lag hier die Abmeldequote für die chirurgischen Intensivbetten bei inzwischen 32 Prozent, im Bereich der internistischen Intensivbetten bei zusammengerechnet 53 Prozent der Gesamtzeit.« In einer vergleichbaren Analyse aus dem Jahr 2018 waren die Zahlen noch niedriger. »Auch die Dauer der einzelnen Abmeldungen hat im Vergleich zu damals deutlich zugenommen. Standen Intensivstationen Ende 2018 längstens zwei bis drei Tage am Stück auf rot, sind es nun bis zu acht Tage am Stück.« Mit den Abmeldungen einher gehen Kettenreaktionen: »So meldeten sich in Bremen an mehr als jedem dritten Tag alle Intensivstationen der sieben Kliniken gleichzeitig ab, an elf Tagen länger als acht Stunden.«
Und bei der Ursachensuche ist man schnell auf das Pflegepersonal als Flaschenhals gestoßen: »Ein Grund für die zunehmenden Engpässe ist offenbar die Personalnot. Fehlt Personal, werden Betten dauerhaft gesperrt. Nach Panorama 3 Recherchen können in manchen Krankenhäusern bis zu einem Drittel der vorhandenen Intensivkapazitäten nicht genutzt werden, da die notwendigen Intensivpflegekräfte fehlen.«
In dem Bericht tauchen sie auch schon auf, die „Pflegepersonaluntergrenzen“: »Offenbar haben die seit Januar 2019 geltenden Personaluntergrenzen das Problem an einigen Häusern noch verschärft.« Die Untergrenzen führten dazu, dass „zusätzliche Versorgungskapazitäten abgemeldet werden und Versorgungsengpässe entstehen“, so Georg Baum, Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) in dem Bericht. Die Antwort aus Berlin: »Das Bundesgesundheitsministerium weist die Kritik an den Personaluntergrenzen zurück. Diese „stellten ein Mindestmaß dar, um die Sicherheit der Patientinnen und Patienten nicht zu gefährden“, heißt es aus dem Ministerium.«
Man muss sich an dieser Stelle vergegenwärtigen, was es mit diesen Pflegepersonaluntergrenzen auf sich hat: Es handelt sich um Personalschlüssel, die sicherstellen sollen, dass es nicht zu einer Gefährdung der Patienten aufgrund von zu wenig Pflegepersonal kommt. Also es geht hier nicht um die Frage, wie viel Personal man idealerweise und für eine gute Versorgung haben sollte/müsste, sondern um eine Art Sicherheitsvorschrift, die eine möglicherweise lebensgefährliche Unterversorgung verhindern soll.
Man muss zum Hintergrund wissen, dass bereits seit Jahren auf die teilweise desaströs Personalausstattung in der Intensivpflege in deutschen Kliniken hingewiesen wird. Hier nur als ein Beispiel aus meinem am 28. Juli 2017 veröffentlichten Beitrag Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt: 53 Prozent der Kliniken haben Probleme Pflegestellen im Intensivbereich zu besetzen. Bundesweit sind in der Intensivpflege 3.150 Stellen vakant und können nicht besetzt werden. Das waren Ergebnisse des Gutachtens Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin, das die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beim Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) in Auftrag gegeben hatte. Auch wenn die Vertretung der deutschen Krankenhäuser darauf hingewiesen hat, dass die intensivmedizinische Versorgung im Durchschnitt gut sei, wurde bereits damals erkennbar, dass die Personalschlüssel – gemessen an dem, was die Fachgesellschaften fordern – in den meisten Kliniken zu schlecht waren. Die DKG versuchte sogleich zu beruhigen: »Wie die repräsentative Studie zeigt, ist die Versorgung der Patienten objektiv gut. Im Jahresdurchschnitt 2015 lag das Verhältnis von Intensivpatienten zu Pflegekräften bei 2,2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft (VK). Die Empfehlung der Fachgesellschaft Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) eines Pflegekraft-zu-Patienten-Verhältnisses von 2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft wird im Mittel in etwa erreicht«, so die Ausführungen seitens der Krankenhausträger.
Diese Studie muss man vor dem Hintergrund der damals bereits geforderten und in Planung befindlichen Pflegepersonaluntergrenzen sehen, die man seitens der Krankenhausvertreter gerne verhindern wollte. Dabei wurde auch von wissenschaftlicher Seite für diesen Regulierungsansatz Schützenhilfe geleistet, so beispielsweise mit dieser Studie:
➔ Michael Simon und Sandra Mehmecke: Nurse-to-Patient Ratios: Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser. Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 27, Düsseldorf, Februar 2017
Rechtliche Vorgaben für die Personalbemessung in der Krankenpflege sind international verbreitet. Auch in Deutschland, wo die so genannte Nurse-to-Patient-Ratio oft schlechter ist als in vielen anderen Industrieländern, könnten gesetzlich festgelegte Mindestschlüssel Arbeitsüberlastung und Qualitätsmängel lindern, so die Studie, die sich damit eindeutig auf die Seite derjenigen schlägt, die den Weg einer gesetzlichen Vorgabe von Personalschlüsseln präferieren.
Und Michael Simon hatte sich dann auch explizit zu der zitierten Auftragsstudie der DKG geäußert. Dazu der Beitrag Immer diese Studien. Und die so wichtige Kritik daran. Die Intensivpflege in deutschen Krankenhäusern als Beispiel vom 31. August 2017, in dem auf diese Stellungnahme von Michel Simon aus dem August 2017 hingewiesen wurde: Kommentar zur Studie des Deutschen Krankenhausinstituts „Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin“. Daraus nur einige kritische Anmerkungen: »Die vom DKI durchgeführte Befragung weist jedoch erhebliche Limitationen auf … Da nur 25% der befragten Krankenhäuser geantwortet haben, können die Ergebnisse nicht als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten … Zudem wurden bei der Berechnung so genannte »Stundenfälle«, die nur kurze Zeit auf einer Intensivstation lagen und nicht in der Mitternachtsstatistik erscheinen, nicht berücksichtigt. Auf der Seite der Personalbesetzung wurden hingegen offenbar auch Leitungskräfte, die nicht oder nur gelegentlich in der direkten Pflege tätig sind, mitgezählt.« Simon schlussfolgert in seiner Kommentierung: »Angesichts dieser Limitationen erscheint es gerechtfertigt davon auszugehen, dass die tatsächliche Pflegekraft-Patienten-Verhältniszahl über dem in der Befragung errechneten Wert von 1:2,2 liegt und eher im Bereich von 1:2,5 oder höher zu vermuten ist.«
Hinzu kommt: Selbst ein Wert von 1:2,2, wie von der DKG mit Bezug auf die Studie als Durchschnittswert behauptet, würde von den Empfehlungen der Fachgesellschaft der Intensivmediziner nach oben abweichen.
Und einen weiteren wichtigen Aspekt hatte Simon in seiner Kommentierung der DKI-Studie auf den Punkt gebracht: »Selbst wenn im Jahresdurchschnitt eine Pflegekraft-Patienten-Verhältniszahl von 1:2 eingehalten wird, so können sich hinter einem solchen Durchschnittswert erhebliche Varianzen verbergen. Um dies an einem fiktiven Beispiel zu veranschaulichen: Wenn eine noch relativ unerfahrene Pflegekraft auf einer Intensivstation nur einen Beatmungspatienten versorgt und neben ihr eine erfahrenere und fachweitergebildete Intensivpflegekraft drei Patienten versorgen muss und von diesen Patienten zwei beatmet sind, dann wird in diesem Fall zwar der Durchschnittswert eingehalten, aber dennoch können Patienten durch die Überlastung des Pflegepersonals einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt sein. Ein Jahresdurchschnittswert kann auch nicht verhindern, dass nicht nur einzelne Pflegekräfte, sondern zeitweilig sogar alle Pflegekräfte einer Station überlastet sind, weil sie im Schnitt 3-4 Patienten zu versorgen haben.«
Rein in die Pflegepersonaluntergrenzen für die Intensivmedizin, raus und wieder rein – und jetzt wieder raus?
Die dann tatsächlich vom Bundesgesundheitsministerium erlassenen Pflegepersonaluntergrenzen, die zum 1. Januar 2019 in Kraft traten, haben im Prinzip die (tatsächliche) schlechtere Personalausstattung berücksichtigt, wie man den Vorgabewerten entnehmen kann – und dennoch liefen zahlreiche Kliniken Sturm gegen die „unerfüllbaren“ Vorgaben (vgl. dazu ausführlicher die Darstellung in dem Beitrag Wenn Pflegepersonaluntergrenzen in der Realität zu erheblichen Problemen in vielen Krankenhäusern führen, dann wird der in Zahlen gegossene Pflegenotstand sichtbar. Und was das auch mit einer „Bereinigung“ der Krankenhauslandschaft zu tun haben könnte vom 16. Juni 2019):
Dann kam in diesem Jahr Corona. Und eine der ersten Maßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums war die Aussetzung der Vorgaben der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung: »Durch die Erste Verordnung zur Änderung der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung vom 25. März 2020 erfolgte daher die Aussetzung der Anwendung der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung mit Wirkung vom 1. März 2020 bis einschließlich 31. Dezember 2020. Mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung vom 16. Juli 2020 wurden die Pflegepersonaluntergrenzen in den pflegesensitiven Bereichen Intensivmedizin und Geriatrie ab dem 1. August 2020 wieder in Kraft gesetzt«, berichtet das Ministerium.
Wie wir bereits gesehen haben, wird nun bereits wieder die Aufhebung der Pflegepersonalmindestvorgaben gefordert. Das mag aus der kurzfristigen Sicht der betroffenen Kliniken nachvollziehbar sein, wenn sie denn wissen, dass sie die Vorgaben schon unter Normalbedingungen kaum oder oft auch gar nicht einhalten können. Aber letztendlich ist das natürlich nur eine verzweifelte Reaktion auf die seit Jahren gegebene und sich zuspitzende Mangellage beim Pflegepersonal. Vor allem bei den besonders qualifizierten Pflegefachpersonen, die man aber wie dargestellt gerade im intensivmedizinischen Bereich braucht.
„Hätte, hätte – Fahrradkette“: Mit diesem prägnanten Lehrsatz hat einmal der berühmte deutsche Staatsphilosoph Peer Steinbrück (SPD) handwerkliche Fehler in seinem Wahlkampf wegzubügeln versucht und man könnte das jetzt übertragen auf die dargestellten Fehler der Vergangenheit hinsichtlich des sich kontinuierlich zuspitzenden Mangels an Pflegefachkräften auf den Intensivstationen der Krankenhäuser (und natürlich darüber hinaus in vielen anderen pflegerelevanten Bereichen auch). Selbst wenn es nervt – seit Jahren wird gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass man endlich Schritte einer kräftigen Aufwertung der Pflegeprofession gehen müsste. Der Konjunktiv wird hier besonders unterstrichen. Man hätte das schon längst tun müssen. Und das mit der Aufwertung meint nicht nur, aber eben auch die Vergütung. Und gerade der in vielen Berichten nur oberflächlich zur Kenntnis genommene neue Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst, wo Gewerkschaft und Arbeitgeber angeblich eine „deutliche Aufwertung der Pflegeberufe“ erreicht haben, verdeutlicht bei genauerem Hinsehen, dass man offensichtlich immer noch nicht bereit ist, den Schuss bzw. die zahlreichen Schüsse hören zu wollen (vgl. dazu den Beitrag Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst: „Ein respektabler Abschluss“ und „Das Machbare haben wir erreicht“, sagen Gewerkschaftsvertreter. Ein „wirtschaftlich verkraftbarer, maßvoller Abschluss“ sagen die Arbeitgeber. Alles gut? vom 26. Oktober 2020). Unabhängig von der Einschränkung, dass von diesem Tarifabschluss unmittelbar sowieso nur eine überschaubare Zahl an Pflegekräften betroffen ist kommt hinzu, dass man erneut eine angesichts der tatsächlichen Mangellagen längst überfällige strukturelle Aufwertung der Pflegefachkräfte im Vergütungsgefüge auf die lange Bank schiebt. Das wird sich rächen, wie sich die Versäumnisse der Vergangenheit jetzt schon rächen.
Die Erkenntnis, das wir die Bedingungen massiv verbessern müssen, wird an den größer werdenden Fragezeichen hinsichtlich der Belastung und Überlastung in der vor unseren Augen ablaufenden zweiten Krise nichts ändern. Man kann vielleicht hoffen, dass es auch jetzt wieder relativ glimpflich ausgehen wird wie im März und April dieses Jahres. Wenn es schlimmer kommen sollte, dann wird kein Weg an fragwürdigen Überbrückungslösungen vorbei führen. Man wird das irgendwie organisieren müssen. Aber man sollte nun endlich verlangen und einfordern, dass es klare Signale gibt, wie man aus der seit Jahren beschriebenen Malaise wenn nicht herauskommt, so doch eine deutliche Verkleinerung erreichen kann.
Man kann jahrelang von der Substanz leben, aber irgendwann ist Schicht im Schacht. Und diesem Punkt scheinen wir erreicht zu haben.