Vom Klatschen auf offener Bühne zur COVID-19-Arbeitszeitverordnung: Wenn das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinwesens (angeblich) erheblich gefährdet ist, dann dürfen die Systemrelevanten auch außerhalb des Schutzsystems ran

Was war in den vergangenen Tagen überall die Rede von den „systemrelevanten“ Berufen, die auf einmal für viele aus dem Schatten der Nicht-Aufmerksamkeit in den Fokus der Berichterstattung gezogen worden sind. Akklamatorischer Höhepunkt war das Aufstehen und kollektive Beklatschen der Pflegekräfte, der Kassiererinnen in den Supermärkten und anderen „Helden“ der Corona-Krise durch die Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Nun mag so eine Geste dem einen oder anderen gut tun und das Herz wärmen, vor allem aber ist sie ziemlich billig zu haben. Schon weitaus sperriger erscheint da eine handfeste Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu denen auch, aber nicht nur die Vergütung gehört, wenn denn diese nachhaltig sein soll, also über die aktuelle Krisenzeit hinaus zu verankern wäre im Sinne einer strukturellen Aufwertung der Berufe und sich nicht in einem 75-Euro-Gutschein für Waren des eigenen Ladens, wie bei einem der großen Player des deutschen Lebensmitteleinzelhandels, gleichsam als ziemlich schlappe Geste erschöpft.

Und zu den Arbeitsbedingungen gehört wie gesagt nicht nur die Vergütung – sondern auch die Arbeitszeitregelungen. Und da haben wir neben zahlreichen tariflichen Ausformungen, die aber nur tarifgebundene Bereiche betreffen, mit dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ein fundamentales Schutzgesetz für die Arbeitnehmer, das für alle zur Anwendung kommt bzw. kommen soll. Man muss an dieser Stelle – erst einmal unabhängig von den aktuellen krisenbedingten Diskussionen – darauf hinweisen, dass viele Regelungen dieses Gesetzes seit Jahren immer wieder von interessierter Seite angegriffen werden, um sie zu schleifen, was dann immer irgendwie unverdächtig daherkommend als „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit tituliert wird. Dabei ging und geht es hier schlichtweg darum, im zugrundeliegenden grundsätzlichen Konflikt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen den Zugriff auf die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zugunsten der Arbeitgeberseite zu erweitern und bestehende gesetzliche Hemmnisse einer Verwertung der Arbeitskraft zu reduzieren oder gar zu beseitigen.

Nun ist es durchaus verständlich und nachvollziehbar, dass die Arbeitgeberseite wenig Interesse an einem nur begrenzten oder versperrten Zugriff auf die Arbeitszeit der Beschäftigten hat und betriebswirtschaftlich erscheint eine – von außen betrachtet – Übernutzung der Arbeitskräfte zumindest kurzfristig als eine reizvolle Option im Baukasten der personalwirtschaftlichen Instrumente (wenngleich viele Arbeitgeber sehr genau um die Grenzen wissen und diese auch respektieren). Eine der zentralen Funktionen des Arbeitszeitgesetzes ist es vor diesem Hintergrund, Übergrifflichkeiten entgegenzutreten und dem zumeist schwächeren Glied in der Kette, also den einzelnen Arbeitnehmer, davor zu schützen, dass er sich dem Begehr einer faktischen Übernutzung nicht verweigert bzw. aufgrund der Machtasymmetrie zum Arbeitgeber nicht verweigern kann.

Und das von hoheitlicher Seite in die Welt gesetzte Arbeitszeitgesetz versucht außerdem, die weit über den engeren betriebswirtschaftlichen Kontext hinausreichenden Erkenntnisse über die negativen, teilweise enorme Folgekosten (an anderer Stelle) beispielsweise von zu langen Arbeitszeiten oder zu kurzen Ruhezeiten in strukturelle Begrenzungen der zulässigen Arbeitszeit zu übersetzen. Deshalb gibt es beispielsweise im bestehenden ArbZG diese drei Komponenten:

Werktägliche Arbeitszeit: 8 Stunden (10 Stunden) pro Tag
§ 3 ArbZG: Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
Ruhezeit zwischen zwei Arbeitseinsätzen: 11 Stunden (10 Stunden)
§ 5 ArbZG: Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben. Die Dauer der Ruhezeit des Absatzes 1 kann in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen, in Gaststätten und anderen Einrichtungen zur Bewirtung und Beherbergung, in Verkehrsbetrieben, beim Rundfunk sowie in der Landwirtschaft und in der Tierhaltung um bis zu eine Stunde verkürzt werden, wenn jede Verkürzung der Ruhezeit innerhalb eines Kalendermonats oder innerhalb von vier Wochen durch Verlängerung einer anderen Ruhezeit auf mindestens zwölf Stunden ausgeglichen wird.
Sonn- und Feiertagsruhe: Arbeitnehmer dürfen an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden. (§ 9 ArbZG)
§ 10 Abs. 1 ArbZG regelt das generelle Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit. Ausnahmen einer Sonn- und Feiertagsbeschäftigung sind in § 11 ArbZG geregelt, beispielsweise für die Arbeit in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen.

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese hier in Paragrafen gegossenen Schutzbestimmungen keineswegs vom Himmel gefallen sind oder als Spielwiese für Arbeitgeber-Folter seitens regulierungswütiger Beamter zu verstehen sind, sondern als Ausdruck für zahlreiche und langjährige Erkenntnisse aus der Arbeitswissenschaft. Dazu ausführlicher anlässlich einer Anhörung im Deutschen Bundestag diese übersichtshafte Darstellung seitens der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA):

➔ Beate Beermann, Nils Backhaus, Anita Tisch und Frank Brenscheidt (2019): Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu Arbeits­zeit und gesundheit­lichen Aus­wirkungen, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2019

Aus dieser Zusammenfassung des umfangreichen Forschungsstandes nur dieses eine Beispiel:

➔ Zum Thema „Lange Arbeitszeiten und Unfälle“: »Neben ungünstigen Einflüssen auf die Gesundheit zeigen sich negative Zusammenhänge zwischen langen werktäglichen Arbeitszeiten und der Arbeitsleistung bzw. -produktivität der Beschäftigten sowie dem Unfallgeschehen am Arbeitsplatz … Umfassend belegt ist, dass die Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit mit der Höhe des Risikos für Fehlhandlungen und arbeitsbedingte Unfälle zusammenhängt … Das Unfallrisiko steigt dabei jenseits der achten Arbeitsstunde exponentiell an, so dass Arbeitszeiten über zehn Stunden täglich hinaus als hoch riskant erscheinen … Nach einer Arbeitszeit von zwölf Stunden ist die Unfallrate im Vergleich zu acht Stunden um das Zweifache erhöht … Schließlich nimmt das Unfallrisiko deutlich zu, wenn Ruhepausen oder Ruhezeiten aufgeschoben oder selten in Anspruch genommen werden.« (Beermann et al. 2019, S.4).

Solche Erkenntnisse sollte man sich merken, wenn man sich nun anschaut, was seitens der Bundesregierung, konkret: von einem sozialdemokratischen Bundesarbeitsminister, auf den Weg gebracht wurde inmitten der Corona-Krisenzeit.

Die Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung)

Durch den am 28. März 2020 in Kraft getretenen § 14 Abs. 4 ArbZG wird das des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeitlich befristet ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit im aktuellen außergewöhnlichen Notfall, der bundesweite Auswirkungen hat, bundeseinheitliche Ausnahmen vom ArbZG zu erlassen. Diese gesetzliche Ausnahmevorschrift hat man nun genutzt und das hier in die Welt gesetzt:

Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung – COVID-19-ArbZV) vom 7. April 2020

Und die hat es in sich. Durch diese Rechtsverordnung werden ab dem 10. April 2020 für bestimmte Tätigkeiten und für einen befristeten Zeitraum bis 30. Juni 2020 Ausnahmen von den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes zugelassen. Um welche Ausnahmen geht es hier?

In der Rechtsverordnung sind Ausnahmen von den Höchstarbeitszeiten, den Mindestruhezeiten sowie vom grundsätzlichen Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen geregelt. Konkreter:

➔ Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kann auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden.
➔ Die tägliche Ruhezeit darf um bis zu zwei Stunden verkürzt werden, wobei eine Mindestruhezeit von neun Stunden nicht unterschritten werden darf.
➔ Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen auch an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden.
➔ Wird von den Abweichungen Gebrauch gemacht, darf die Arbeitszeit 60 Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Nur in dringenden Ausnahmefällen darf die Wochenarbeitszeit auch über 60 Stunden hinaus verlängert werden

Und welche Arbeitnehmer betrifft das? Da tauchen sie wieder auf, die derzeit beklatschten „systemrelevanten“ Berufe:

Dazu nur zwei kritische Anmerkungen – viele weitere wären möglich:

➔ Nehmen wir als Beispiel unter Punkt 1 das „Einräumen von Waren des täglichen Bedarfs“. Hier handelt es sich also u.a. um die Menschen, die viele von uns in den zurückliegenden Wochen vielleicht zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben: die Regaleinräumer in den Supermärkten. Oft sind das Schüler oder Studenten, die sich darüber etwas dazuverdienen. Warum sollen die nun zwölf Stunden arbeiten dürfen? Natürlich ist es für die Supermärkte einfacher und betriebswirtschaftliche effizienter, die vorhandenen Regaleinräumer eine oder mehrere Stunden länger zu beschäftigen – aber grundsätzlich spricht doch nichts dafür (außer der Aufwands für die Unternehmensseite), dass man bei Mehrbedarf dann zusätzliche Arbeitskräfte für diese Tätigkeit einstellt, viele haben beispielsweise ihren Nebenjobs in der Gastronomie verloren und würden das sicher machen. Und eine qualifizierte Ausbildung braucht man dafür nicht.

➔ Richtig problematisch – und von nicht wenigen Betroffenen als Schlag ins Gesicht empfunden – wird es beim Punkt 2 der Tätigkeitsliste: „bei der medizinischen Behandlung sowie bei der Pflege, Betreuung und Versorgung von Personen einschließlich Assistenz- und Hilfstätigkeiten“, so heißt es. Also bei den Pflegekräften kann man nun also von den entsprechenden Abweichungen beim Arbeitsschutz Gebrauch machen. Neben den grundsätzlichen Bedenken angesichts der vorliegenden empirischen Evidenz gegen zu lange Arbeitszeiten und den Gefahren (für die Beschäftigten, in diesem Fall aber auch für die zu pflegenden Menschen) sei in Zeiten der Corona-Krise (die ja auch als Legitimation für diesen schweren Eingriff herangezogen wird) ganz bewusst auf Erfahrungen aus Wuhan hingewiesen, die verdeutlichen, dass hier ein verdammt gefährlicher Weg beschritten werden würde:

»Man hat in Wuhan eine klare Relation zwischen der Länge der Arbeitsschichten und der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten sowie der Ansteckungswahrscheinlichkeit der Krankenhaus-Mitarbeiter entdeckt. In der ersten hektischen Phase arbeiteten Ärzte und medizinisches Personal in Wuhan oft 12 bis 14 Stunden. Sehr viele Helfer haben sich damals angesteckt. Diese Entwicklung sehen wir auch in Italien und Spanien. Erst als in China sehr viel mehr Personal zur Hilfe kam und die Schichten sich auf sechs Stunden verkürzten, sanken die Ansteckungs- und Sterberaten. Das Personal konnte sich dann sehr viel genauer an die Vorschriften halten. Die Kehrseite der Medaille: Kürzere Schichten bedeuten einen sehr viel höheren Bedarf an Schutzausrüstung … Die Lehre für Deutschland und Europa ist, dass eine Sechs-Stunden-Schicht Leben rettet.«

Wer sagt das? Das ist ein Zitat von Eckhard Nagel. Er ist seit 2018 einer von zwei Präsidenten des Chinesisch-Deutschen Freundschaftskrankenhauses im Tongji Klinikum in Wuhan – der Metropole, in der die Pandemie ihren Lauf nahm. Nagel ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften wirkt. Von 2010 bis 2015 war er Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen. Der Öffentlichkeit ist Nagel auch als langjähriges Mitglied des Deutschen Ethikrats und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages bekannt. Das Interview mit ihm, dem auch das Zitat entnommen wurde, findet man hier:

Lehren aus Wuhan: „Ärzte und medizinisches Personal sollten nur sechs Stunden arbeiten“. Interview mit Eckhard Nagel, Präsident des Chinesisch-Deutschen Freundschaftskrankenhauses in Wuhan (01.04.2020)

Fazit: Das parlamentarische Beklatschen der „Helden der Corona-Krise“ und die Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung – COVID-19-ArbZV) vom 7. April 2020 müssen in einem mehr als kritikwürdigen Kontext gesehen werden.