Jetzt aber: „Wir werden aufräumen mit diesen Verhältnissen“, sagt der Bundesarbeitsminister. Und meint die Zustände in der Fleischindustrie. Man darf gespannt sein

Es gibt Zufälle, die so konstruiert erscheinen, dass man den Kopf schütteln muss. Der 14. Mai ist ein Beispiel dafür. Es ist der Gedenktag der heiligen Corona. Ja, die gibt es wirklich. Und die ist nicht irgendeine Heilige, die man aus dem Frühchristentum in die Gegenwart zu retten versucht: Im katholischen Universum handelt es sich um die Patronin des Geldes, der Fleischer und Schatzgräber. Und eines muss man der katholischen Kirche ja lassen – sie sichert ihre Gläubigen gerne mehrfach ab und deshalb legt sie bei der heiligen Corona noch einen drauf: Die ist nämlich auch eine der zahlreichen Patrone gegen Pest und andere Seuchen. Wie passend. Manche andere hingegen würden in diesen Tagen von einem zynisch daherkommenden Humor sprechen.

Der Schutzheiligen des Geldes und der Fleischer werden in normalen Zeiten Wallfahrten dargebracht, vor allem in Österreich (möglicherweise auch in Ischgl). In diesem Jahr bewegt Corona, allerdings in viraler Form, den Globus und speziell am Gedenktag der Heiligen in Deutschland auch die Fleischindustrie und aufgrund der vielen Corona-Infektionsfälle in den Schlachthöfen der Republik auch Medien und Politik. Sogar bis in den Bundestag haben es die Vorgänge und damit (wieder einmal) der Blick auf die Zustände im Billigschlachthaus Deutschland geschafft. Und da geht es nicht nur um Fleischer, sondern eigentlich um viele Geld und um Unternehmen, die für sich einen Schaft gehoben haben – eine Schatzkiste voll mit billiger und gut ausbeutbarer Arbeit aus dem Osten.

Das wurde wie gesagt mal wieder in diesen Tagen für einen Moment erkennbar, als aus zahlreichen der ansonsten im Schatten jeglicher Aufmerksamkeit vor sich hin schlachtenden und verwurstenden Fleischfabriken hunderte Corona-Infektionsfälle unter dem meist aus Rumänien und Bulgarien stammenden Werkvertragsarbeitnehmern gemeldet wurden. Unzählige aufgeregte Medienberichte über die Zustände, unter denen die dort schuften müssen, sind in den letzten Tagen erschienen. Vgl. dazu am Beispiel rumänischer Werkvertragsarbeitnehmer den kurzen Radio-Beitrag Corona und die Fleischindustrie. Und auch der Bundestag musste sich mit dem Thema auseinandersetzen:

Arbeits­bedingungen in der Fleisch­industrie kontrovers debattiert, so ist ein kurzer Bericht über die Debatte im Plenum des Parlaments überschrieben. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatte die Aktuelle Stunde zum Thema „Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie“ verlangt. Und der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wurde deutlich:

»Kern des Übels sei „diese Art von Sub-Sub-Sub-Unternehmertum“ in der Branche. Er kündigte an, bei der nächsten Sitzung des Corona-Kabinetts am 18. Mai ein Konzept für Konsequenzen vorzulegen … Heil rief dazu auf, jetzt nicht bei der Empörung stehen zu bleiben. Gefordert seien alle Ebenen: Unternehmer ebenso wie Bund und Länder. Es müsse mehr Personal und schärfere Kontrollen im Arbeitsschutz geben. Denn die schärfsten Regeln nutzten nichts, wenn sie nicht kontrolliert würden. Der Minister erinnerte daran, dass es für den Bereich der Fleischindustrie immer wieder Gesetzesverschärfungen gegeben habe, um Missstände zu bekämpfen. Doch sei daraus ein Katz-und-Maus-Spiel geworden, weil einige Unternehmen stets Umgehungsmöglichkeiten gefunden hätten.«

Und um sicher zu gehen, dass mögliche Maßnahmen gegen die eigentlichen Profiteure der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, also die großen Unternehmen der Fleischindustrie, auch wirklich verstanden und akzeptiert werden, betont der Minister weniger das Leid der betroffenen, aus dem Osten Europas kommenden Arbeiter, sondern die eigenen Befindlichkeiten und Unannehmlichkeiten für die hier lebenden Menschen: Minister Heil »verwies darauf, dass es beim aktuellen Fall der zahlreichen Corona-Infektionen in einem Coesfelder Betrieb zunächst zu keinen Lockerungen der Pandemie-Maßnahmen kommen könne und damit die Wirtschaft und Bevölkerung eines ganzen Landkreises in Geiselhaft genommen worden sei.«

Selbst Bundeskanzlerin Merkel sprach von „erschreckenden Nachrichten“ aus der Fleischindustrie und verwies auf die oft prekären Arbeits- und Wohnbedingungen der Beschäftigten. Heil sagte: „Wir werden aufräumen mit diesen Verhältnissen“, so diese Meldung zu der Debatte im Bundestag: Heil will in der Fleischindustrie „aufräumen“. Also jetzt wird endlich durchgegriffen, werden die einen denken und mitnehmen. Die anderen werden sagen: Schauen wir mal. Es ist schon viel heiße Luft in den vergangenen Jahren gemacht worden, immer, wenn irgendwelche Skandale ans Tageslicht befördert wurden oder wieder einmal kritische Medienberichte über skandalöse Arbeitsbedingungen zur Kenntnis genommen werden mussten, von denen es wahrlich viele gegeben hat – vgl. nur als ein höchst aktuelles Beispiel: Wenige Tage vor dem Shutdown wurde dieser Beitrags des MDR-Fernsehens ausgestrahlt: Harte Arbeitsbedingungen für Fleischverarbeiter in Zerbst (11.03.2020): »Streit um Löhne, harte Arbeitsbedingungen, nicht eingehaltene Verträge – davon berichten osteuropäische Mitarbeiter, die bei einem Subunternehmer angestellt sind und in der Fleischfabrik von Tönnies in Zerbst arbeiten.« Und das schon seit Jahren immer wieder neben einer punktuellen und skandalisierenden Berichterstattung über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie auch auf die strukturellen Probleme der Branche hingewiesen wurde, kann man in diesem Beitrag vom 9. Mai 2020 nachlesen: Keine Überraschung: Die Fleischfabriken werden zu Hotspots der Corona-Krise und die normalerweise unsichtbaren Menschen werden in Umrissen erkennbar.

Und die beiden zentralen, miteinander verwobenen strukturellen Dimensionen, die das grundsätzliche Problem in dieser Branche verständlicher werden lassen, sind vom Bundesarbeitsminister ausdrücklich angesprochen worden: Zum einer das Sub-Unternehmerunwesen in Verbindung mit der exzessiven Nutzung von Werkverträgen sowie ein manifestes Kontrollversagen des Staates beim Arbeitsschutz (vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag Wenn man ein Kind groß ziehen kann, bis die Kontrolleure wieder vorbeikommen. Das Staatsversagen beim Arbeitsschutz geht weiter, der hier am 5. Mai 2020 veröffentlicht wurde).

Insofern müssten wirklich substanzielle Änderungen an diesen beiden Dimensionen ansetzen und wir dürfen gespannt sein, was uns der Bundesarbeitsminister angeblich Anfang der kommenden Woche dazu präsentieren wird.

Die Fleischarbeiter als Hoch-Risikogruppe in Corona-Zeiten und die Rolle der Werkverträge bzw. der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung

Werner Rügemer legt in seinem Beitrag Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter den Finger auf eine offensichtliche Wunde: Wie glaubwürdig sind die aktuellen Virus-Bekämpfer?

»Vorher haben sie die Fleischproduktion als „systemrelevant“ erklärt: Die Wanderarbeiter wurden unkontrolliert und ungeschützt zu noch mehr Sonderschichten getrieben. Clemens Tönnies, Haupteigentümer des größten Schweineschlachtkonzerns Deutschlands und Europas, der Tönnies Holding, lobt ausdrücklich, dass er als „systemrelevant“ eingestuft wurde. Die Böklunder Würstchen im Glas von Tönnies: systemrelevant. „Durch Corona ist die Nachfrage nach unseren Fleischwaren um ein Drittel gestiegen. Wir suchen kurzfristig 100 Aushilfen“, erklärte er. Er durfte im Handelsblatt stolz verkünden: Meine „Mitarbeiter“ schieben jetzt zusätzlich 16-Stunden-Schichten am Wochenende.«

Dass die Fleischzerleger zu einer der höchsten Risikogruppen in diesen Zeiten gehören, ergibt sich aus einer Kombination von Risikosituationen: »Die Werkvertragler arbeiten vielfach Schulter an Schulter. Sie arbeiten zwar unter kühlen Temperaturen, aber die Luft wird ständig ausgetauscht. Die Arbeit ist anstrengend, der Zeitdruck ist extrem hoch, die Schichten können auch mal 16 Stunden dauern und auch das noch überschreiten. Die Körper sind geschwächt, gesundheitlich angegriffen. Pausen werden nicht immer eingehalten. Deshalb halten die meisten der osteuropäischen Werkvertragsarbeiter den Stress nur zwischen zwei und vier Jahren aus und werden dann von den Werkvertragsfirmen zurück nach Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn, Moldau und in die Ukraine zurückgeschickt, ob krank oder gesund.«

Und das sind nicht nur irgendwelche in den Raum gestellten Vorwürfe: Bei einer »größeren Ermittlung durch das NRW-Arbeitsministerium im Jahr 2019 – ein halbes Jahr vor Corona – wurden in 30 NRW-Großbetrieben mit 17.000 Beschäftigten folgende häufig wiederkehrende Rechtsbrüche, Praktiken und Folgen festgestellt: „5.800 Arbeitszeitverstöße“, „unangemessene Lohnabzüge“, „unwürdige Unterkünfte“, „mangelhafter Arbeitsschutz“, „Schichten mit über 16 Stunden“, „nicht eingehaltene Ruhepausen“, „lärmbedingte Hörschäden“, „entfernte Schutzeinrichtungen“, „abgeschlossene Notausgänge“, „gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen“. Der Untersuchungsbericht wurde im Januar 2020 veröffentlicht.«

Rügemer kritisiert: »Der Bericht nennt allerdings komplizenhaft keine Namen von Konzernen und ihren zahlreichen Subunternehmen. Keine Staatsanwaltschaft wurde informiert.«

Die Mehrfach-Risiken für die Werkvertragsarbeitnehmer entspringen nicht nur der konkreten Arbeit in den Fleischfabriken, sondern auch der Unterkunftssituation: »Das Infektionsrisiko entsteht nicht nur in der Arbeitssituation. In der Regel sind die Werkvertragler in engen Mehrbettzimmern untergebracht. Sechs bis acht Arbeiter auf 30 Quadratmetern, mit gemeinsamer kleiner Küche und gemeinsamen knappen Sanitäranlagen. Weil die Subunternehmer, die die Unterkünfte vermieten, möglichst viel verdienen wollen, bleibt der Einrichtungs- und Hygiene-Standard auf niedrigstem Niveau.«

Und oftmals werden die Arbeiter lange Wege hin- und hergekarrt: »Die Schlachtbetriebe stehen in der Stadt, die Massenunterkünfte sind meist entfernt in ländlicher Gegend. So wohnen die Werkvertragler der Anhalter Fleischwaren GmbH in Zerbst – gehört zur Mühlen-Gruppe des Tönnies-Konzerns – 20 Kilometer entfernt in Dessau. Da sind die Mieten, die der Subunternehmer zahlt, billiger. Und die Arbeiter bleiben für die Konsumenten, für die städtische Öffentlichkeit und für die Behörden unsichtbar. Deshalb werden die Arbeiter in Kleinbussen täglich hin- und hertransportiert, eng nebeneinander sitzend.«

Ein unterschiedlich hoher Anteil der Beschäftigten – etwa zwischen 20 und 80 Prozent – sind Werkvertragsarbeiter. Sie kommen meist aus den osteuropäischen Armenhäusern der EU und sie kommen aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles.

Zu den Werkverträgen vgl. auch den Beitrag Zustände in der Fleischindustrie: Werkverträge oder illegale Arbeitnehmerüberlassung? von Elmar Wigand von der Aktion gegen Arbeitsunrecht. Die haben insbesondere den größten europäischen Schweineschlachter im Visier – das Unternehmen Tönnies, ein Vorreiter des Werkvertragssystems, denn der Konzern beschäftigt nur noch ca. 20 Prozent Festangestellte.

In dem Artikel von Wigand wird der Finger auf eine offene und den vielen Jahren, in denen wir schon über die Werkverträge kritisch diskutieren (vgl. dazu beispielsweise die Beiträge über das Thema Werkverträge, die in diesem Blog veröffentlicht wurden), immer wieder angesprochene Wunde: Handelt es sich wirklich um echte Werkverträge oder haben wir es mit illegaler Leiharbeit zu tun? Dazu behauptet die Aktion gegen Arbeitsunrecht:

»Alles spricht nach unseren Recherchen dafür, dass es sich in der Realität gar nicht um Werkverträge handelt sondern der Sache nach um Arbeitnehmerüberlassungsverträge (also verdeckte Leiharbeit bzw. Schein-Werkverträge). Das hätte weitreichende Auswirkungen, da nach unserer Kenntnis keiner der Werkunternehmer die Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung hat. Wir hätten es hier also mit einem kriminellen System zu tun, das sowohl die Arbeiter schädigt als auch — über Hinterziehung von Sozialabgaben und Steuern — das Gemeinwesen.
Bei illegaler Arbeitnehmerüberlassung bestände gegenüber dem Werkunternehmer ein Anspruch auf denselben Lohn wie die Stammbelegschaft ihn erhält (Equal pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit), darüber hinaus bestände sogar ein Anspruch auf Einstellung gegenüber dem Schlachthof selbst, da dessen Vereinbarung mit dem Werkunternehmer nichtig wäre.«

Hinzu kommt: »Analog zum mutmaßlichen Schwindel rund um Schein-Werkverträge zahlen die Wanderarbeiter anscheinend regelmäßig überhöhte Mieten, die wir als Wucher bewerten. Auch hier stellt sich die Frage, warum die Staatsanwaltschaft nicht wegen Mietwuchers (§ 291 StGB) gegen die Vermieter von Sammelunterkünften durchgreift.«

Wir dürfen gespannt sein, welche Antworten uns der Bundesarbeitsminister in der kommenden Woche hinsichtlich der hier nur angerissenen (und seit Jahren in der Fachdiskussion immer wieder vorgetragenen Grundprobleme der „Werkverträge“ und des damit verbundenen Systems von Vermittlungsagenturen und Subventionen-Unternehmen, auf die man dann gerne die Verantwortung abzuwälzen versucht), Systems der organisierten Unverantwortlichkeit geben wird bzw. geben kann. Wenn denn nicht sowieso die Strategie darin besteht, die derzeit beunruhigte Öffentlichkeit mit kräftig daherkommenden Ankündigungen wieder ruhig zu stellen und darauf zu hoffen, dass das Thema erneut abkühlt, wenn man nur etwas symbolische Politik betreibt.

Ein System der organisierten Unverantwortlichkeit auch und gerade bei einer elementaren Staatsaufgabe – dem Arbeitsschutz

»Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) räumte jahrelanges parteiübergreifendes Versagen bei Missständen in Schlachtbetrieben ein. Niemand, der schon länger Arbeits- und Sozialpolitiker sei, könne „so tun, als wenn wir nicht wüssten, dass wir es in der Arbeits- und Unterbringungssituation der osteuropäischen Werkvertragsarbeitnehmer in der Fleischindustrie oft mit prekären Verhältnissen zu tun haben“, sagte Laumann am Mittwoch in Düsseldorf«, kann man diesem Artikel entnehmen: Bundesregierung will in der Fleischindustrie „aufräumen“. Interessante Randnotiz an dieser Stelle: »Clemens Tönnies, geschäftsführender Gesellschafter bei Deutschlands größtem Schlachtbetrieb Tönnies, widersprach einem Generalverdacht gegen die Fleischindustrie in der Corona-Pandemie. „Ich habe viel Verständnis für Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann. Er steht gerade sehr unter Druck“, sagte er in Rheda-Wiedenbrück. „Aber seine Kritik darf nicht zur Manie werden.“«

Das ist schon frech, angesichts dessen, was wir wissen, wenn wir wissen wollen.

Aber werfen wir noch einen Blick auf die (eigentlich zuständige) Schutzinstanz namens Arbeitsschutz. Die staatliche Aufsicht ist ein elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge für die Bürger in diesem Land. Und gerade in der aktuellen Krise – also dem Zusammenspiel der seit vielen Jahren beklagenswert skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und der vielen Infektionsfälle unter den Werkvertragsarbeitnehmern – müsste es doch ein beherztes Durchgreifen der Arbeitsschutzbehörden geben. Sollte man denken.

»Auch die niedersächsische Landesregierung will nun sämtliche Schlachthof-Mitarbeiter im Land überprüfen. Dabei gehe es um 23.700 Beschäftige in 183 fleischverarbeitenden Betrieben, kündigte Sozialministerin Carola Reimann (SPD) im Landtag in Hannover an.«

Also, geht doch. Und dann so etwas: »In Niedersachsen gerät die Kontrolle der Arbeiterunterkünfte zur Farce«, behauptet Nadine Conti in ihrem Artikel Landkreise kontrollieren per Brief: »Niedersachsen hat umfassende Kontrollen der Unterkünfte von Schlachthof-Arbeitern angekündigt, nachdem es in Nachbarländern zu massenhaften Corona-Infektionen gekommen war. Nun stellt sich heraus, dass die Kontrollen bestenfalls sehr lückenhaft stattfinden.« Was genau muss man sich darunter vorstellen: »„Im April wurde von den Gewerbeaufsichtsämtern in 15 Betrieben eine Überprüfung in den Schwerpunktregionen Schlacht- und Zerlegebetriebe begonnen“, schreibt das Gesundheitsministerium auf taz-Anfrage. 183 Betriebe mit 23.700 Beschäftigten hat die Branche im Land.« Das hört sich doch gut an. Schauen wir aber genauer hin: »Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) musste am Mittwoch in ihrer Antwort auf eine Grünen-Anfrage im niedersächsischen Landtag einräumen: „Die Überprüfungen erfolgten bis auf eine Ausnahme in fernmündlicher und schriftlicher Form.“ Im Klartext heißt das: Die Betriebe werden angeschrieben und aufgefordert ein schriftliches Konzept vorzulegen. Die Ergebnisse sind noch in der Auswertung.«

Ja Wahnsinn, das wird die Unternehmen aber sowas von beeindrucken.

➞ »Ähnlich ergiebig fallen die Kontrollen der Unterkünfte von Erntearbeitern aus, die das Ministerium ebenfalls auflistet. Auch hier haben manche Landkreisen die Betriebe lediglich angeschrieben und auf die zu treffenden Hygienemaßnahmen aufmerksam gemacht.« Es könnte durchaus sein, dass manche Zeitgenossen das, was uns hier präsentiert wird, völlig unakademisch als „Verdummbeutelung“ der Leute titulieren würden.

Und selbst wenn man anders wollte, wird man konfrontiert mit der Masse: So zitiert Conti in ihrem Artikel den »Bürgermeister der Samtgemeinde Sögel im Emsland …, Einzelzimmer für die rund 1.800 osteuropäischen Arbeiter, die hier im Schlachthof Weidemark arbeiten, seien „völlig lebensfern“. So viel Wohnraum gäbe es im Ort ja gar nicht.«

Der DGB Niedersachsen beschreibt unter der Überschrift Fleischindustrie & Corona: Die wahre Seuche heißt Ausbeutung zum einen die auch hier schon angesprochenen Risiken: »In den Massenunterkünften werden die Beschäftigten dicht an dicht in kleinen Zimmern zusammengedrängt. Auf dem Weg zur ihrem Arbeitsplatz finden sie sich jeden Tag in vollgestopften Bussen wieder. Höchst problematisch sind auch die viel zu geringen Abstände an den Zerlegebändern und in den Umkleiden. Unter solchen hygienischen Bedingungen können die jetzt aufgetretenen Corona-Infektionen für niemanden eine Überraschung sein.« Vor diesem Hintergrund wären engmaschige Kontrolle umso wichtiger. Aber: »Genau hier passiert aber zu wenig. Seit 2012 geht es in Niedersachsen mit den Arbeitgeberprüfungen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) in der Tendenz bergab. Gerade einmal sechzehn Betriebe wurden von Januar bis Mai 2019 untersucht … Zum Vergleich: Die niedersächsische Gesamtzahl der fleischverarbeitenden Betriebe beläuft sich auf 183. Bei so wenigen Kontrollen verwundert es nicht, dass zuletzt kaum noch Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet wurden.«

Unabhängig von diesem aktuellen Fallbeispiel aus den Niederungen des Nicht-Schutzes liegt auch hier wie bei den Werkverträgen das eigentliche Problem in den Strukturen:

»Ein Problem bei der Umsetzung der Kontrollen sind unklare Strukturen, Zuständigkeiten und Rechtsauffassungen in den Landkreisen. Für die Kontrollen seien teilweise die Gewerbeaufsichtsämter, die Gesundheitsämter, die Bauaufsicht oder der Zoll zuständig, sagt die Ministerin.«

Dazu korrespondierend der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in der Aktuellen Stunde im Bundestag am 14. Mai 2020: »Es müsse mehr Personal und schärfere Kontrollen im Arbeitsschutz geben. Denn die schärfsten Regeln nutzten nichts, wenn sie nicht kontrolliert würden.«

Und sogar aus den Reihen der FDP wie sekundiert: »Carl-Julius Cronenberg (FDP) meinte, der Staat habe von den Missständen in der Fleischindustrie seit Jahren gewusst, sei aber nur unzureichend dagegen vorgegangen: „Wir haben keine Rechtsetzungsprobleme, sondern Rechtsdurchsetzungsprobleme.“ Er rief dazu auf, Ordnung in den Zuständigkeitswirrwarr zu bringen.«

Aber Licht am Ende des Tunnels wird ja verkündet, so der Artikel Bundesregierung will in der Fleischindustrie „aufräumen“: »Bundesarbeitsminister Heil sorgt sich unterdessen um die Arbeitsbedingungen und die Unterbringung der meist ausländischen Mitarbeiter: „Wir dürfen als Gesellschaft nicht weiter zugucken, wie Menschen aus Mittel- und Osteuropa in dieser Gesellschaft ausgebeutet werden.“ Das Subunternehmertum in der Fleischbranche sei dabei die „Wurzel des Übels“. Deshalb warb Heil dafür, grundsätzlich über die derzeit weit verbreiteten Werksvertrags-Konstruktionen nachzudenken.« Man achte auf die Formulierung „grundsätzlich nachdenken“ – das kann bekanntlich dauern.

Aber hinsichtlich des hier am Ende angesprochenen völlig defizitären Arbeitsschutzes in unserem Land muss der Bundesarbeitsminister einräumen: Man brauche bundesweit verbindliche Kontrollquoten. »Viele Bundesländer hätten bei den zuständigen Behörden zu stark gespart, um die Einhaltung der bestehenden Arbeitsschutzregeln zu überprüfen.«

Ja, so ist das: Die einen haben gespart bis es quietscht und die anderen haben an dem seit langem beklagten Unzuständigkeitswirrwarr zwischen den verschiedenen föderalen Ebene nichts geändert, weil man es bis heute nicht geschafft hat, eine einheitliche und schlagkräftig aufgestellte Arbeitsschutzinstitution mit ausreichend Personal und vor allem entsprechenden Organisationswissen auf den Weg zu bringen. Das aber wäre die eigentliche Aufgabe, wenn man wirklich eine bessere Daseinsvorsorge für die Bevölkerung erreichen wollte.

Fazit: Man würde sich einen wirklichen Durchbruch wünschen, auch vor dem Hintergrund dieser Feststellung den Ist-Zustand betreffend: »Die Ausbeutung hat System und ist geduldet«, so Manfred Götzke, der in seinem Kommentar eine gute Zusammenfassung liefert: »Zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, dann geht’s zum Schlafen in verschimmelte Schrottimmobilien, für die sie dann noch ein paar 100 Euro an „Miete“ an den Subunternehmer abdrücken müssen. Den gesetzlichen Mindestlohn bekommen die Arbeiter oft nur auf dem Papier, Überstunden werden nicht gezahlt, es gibt Abzüge für Arbeitskleidung, Arbeitsschuhe und Dinge, die gar nicht existieren. 9,35 Euro gesetzlichen Mindestlohn für härteste körperliche Arbeit? Viel zu viel. Sind doch nur Rumänen, zuhause kriegen die doch noch weniger. Wir reden hier nicht von ein paar schwarzen Schafen in der Branche: Denn diese Ausbeutung hat System und war und ist von der Politik geduldet – wenn nicht sogar gewollt. Denn der Fleischindustrie wird es extrem leicht gemacht, die Ausbeutung „outzuscourcen“, an eine Riege dubioser Subunternehmer.« Bei der Ursachensuche sieht auch Götzke die Werkverträge auf Platz 1: »Die organisierte und von der Politik geduldete Ausbeutung hat einen Namen: Werkverträge. Statt Schlachter direkt anzustellen, vernünftig zu bezahlen und nach deutschem Arbeitsrecht zu beschäftigen, vergeben so gut wie alle Großschlachtereien Werkverträge an Subunternehmer, die tricksen, um Lohn betrügen, wo sie können, ihre Arbeiter abzocken, wo sie können. Das alles könnte man gesetzlich ganz einfach unterbinden, indem man es schlicht verbietet, Werkverträge für das Kerngeschäft zu vergeben. Warum das nicht längst passiert ist?«

Wird es jetzt dazu kommen? Götzke ist skeptisch: »Dass der Aufschrei jetzt so groß ist, hat auch nur zum Teil mit aufkommender Empathie für die Arbeiter zu tun. Durch die Corona-Fälle in den Schrottimmobilien müssen manche Regionen schlicht ein bisschen länger auf die ersehnten Corona-Lockerungen warten. Es geht um Eigeninteressen.« Und er bilanziert mit Blick auf die Zukunft: »Auch wenn jetzt der NRW-Arbeitsminister Laumann (CDU) bekundet, mit seiner Geduld mit der Fleischindustrie am Ende zu sein. Auch wenn der Bundestag … mal wieder über die Missstände debattierte. Ich fürchte es wird sich wieder nichts ändern – am Ende sind den Deutschen die Rumänen einfach zu egal.« Sein Kommentar steht unter der Überschrift Den Deutschen sind die Rumänen einfach egal.

Aber man kann ja die vielen markigen Ankündigungen aus dieser Woche, dass das Ruder nun herumgerissen wird, in der kommenden Woche und in den kommenden Monaten immer wieder aufrufen und vor allem nachschauen, ob die bekannten Ursachen für das, was die Bundeskanzlerin „erschreckende Nachrichten“ genannt hat, beseitigt oder wenigstens spürbar reduziert werden. Was noch zu beweisen wäre.