Aus den Tiefen und Untiefen der Bedürftigkeit: Ein Jobcenter verliert einen Prozess gegen eine wohnungs- und mittellose Frau. Und immer wieder wird Hartz IV verengt auf (registrierte) Arbeitslose

Permanent geistert das Schlossgespenst einer „zu locker“ gewährten und „zu großzügig“ dotierten Sozialhilfe durch die Medien und manche Politiker greifen die damit verbundenen Bilder und Vorurteile gerne auf, um große Teile der Bevölkerung in Stellung zu bringen gegen den (angeblichen oder tatsächlichen) „Missbrauch“, der da mit den von der Allgemeinheit finanzierten Sozialleistungen betrieben wird. Der große Resonanzboden erklärt sich auch durch die Vorgabe, dass Sozialhilfe bzw. Grundsicherung (Hartz IV) nur diejenigen bekommen (sollen), die „bedürftig“ sind und dann auch nur, wenn sie zugleich alles tun, um diesen Zustand zu beenden.

Und eine offensichtlich besonders erschreckende Vorstellung scheint für einige zu sein, wenn sich das Schlossgespenst zu einer sogar „bedingungslos“ gewährten Leistung auswächst (zugleich projizieren andere regelrechte Heilserwartungen in ein immer wieder in den Raum gestelltes „bedingungsloses Grundeinkommen“). Aber davon sind wir – das kann man begrüßen oder beklagen – weit weg. Denn gerade die Sozialhilfeleistung des SGB II, umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnet, ist eine „bedürftigkeitsabhängige“ Sozialleistung und damit weit entfernt von einer Bedingungslosigkeit der Leistungsgewährung.

Und durch das Nadelöhr der „Bedürftigkeitsprüfung“ muss man erst einmal kommen, bevor überhaupt irgendein Cent ausgezahlt wird bzw. werden kann. Und die Betroffenen haben (auch weiterhin) die eigene Bedürftigkeit nachzuweisen, damit es eben nicht zu einer im System, also ausgehend von den derzeit geltenden Anspruchsvoraussetzungen, ungerechtfertigten Inanspruchnahme der Leistungen kommen kann. Daran hat auch die vom Bundesverfassungsgericht verhängte Teil-Begrenzung (aber eben nicht Abschaffung) der Sanktionen bei bestimmten Verletzungen der Mitwirkungspflicht der Betroffenen rein gar nichts geändert. Wenn dann allerdings selbst Menschen, die jahrelang im bestehenden System auf einer herausgehobenen Position gearbeitet haben, wie beispielsweise das mittlerweile im Ruhestand befindliche ehemalige langjährige Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA), Heinrich Alt (SPD), nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts davon sprechen, man würde nun dadurch Hartz IV zu einer „bedingungslosen Grundsicherung“ umwandeln, dann kann man nicht anders, als zu urteilen: Das ist nicht nur fehlerhaft, nicht nur falsch, das ist eine bewusste Irreführung der Menschen in unserem Land, die sich nicht annähernd auskennen (können) wie ein Herr Alt (vgl. dazu ausführlicher die Kritik in den Beitrag Nach dem Urteil des BVerfG ist Hartz IV eine „bedingungslose Grundsicherung“ geworden? Was für ein Unsinn vom 1. Januar 2020).

Dort findet man diese Hinweise: Man kann eben nicht zum Jobcenter gehen und Hartz IV-Leistungen einfordern, ohne nachzuweisen, dass man in einer bedürftigen Lebenslage ist. Man muss sich selbstverständlich auch in Zukunft hinsichtlich der Einkommens- und eventuellen Vermögensverhältnisse vollständig offenbaren, einschließlich der Einkommen und Vermögen anderer Personen, mit denen man – möglicherweise – in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen lebt. Umgekehrt formuliert: Das Jobcenter kann und wird den Zugang zu Leistungen der Grundsicherung verweigern, wenn der Antragsteller hier nicht den entsprechend geforderten Nachweis einer Bedürftigkeit im Sinne der bestehenden rechtlichen Regeln erbracht hat. Und in den § 60 ff SGB I findet man genaue Ausführungen zu der seitens des Jobcenters einforderbaren „Mitwirkung des Leistungsberechtigten“. 

Aber wie heißt es so schön: Grau ist alle Theorie, bunt das tatsächliche Leben. Gerade in der Grundsicherung gibt es zahlreiche Fallkonstellationen, bei denen die Betroffenen nicht so funktionieren, wie sie es aus Sicht der Behörde (und der gesetzlichen Anforderungen) sollten. Dazu ein aktuelles Beispiel aus der Rechtsprechung:

Konkret geht es um eine Entscheidung des Sozialgerichts Düsseldorf: 53-jährige Düsseldorfer Pfandflaschensammlerin hat einen Anspruch auf Harz IV, so ist die Pressemitteilung zu dem Urteil (S 37 AS 3080/19, Urteil vom 08.01.2020) überschrieben. Darin wird von dem folgenden Sachverhalt berichtet:

»Die Klägerin hat in der Vergangenheit gegenüber dem Jobcenter Düsseldorf fragliche Angaben dazu gemacht, ob sie in einem Haus mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten und dessen Mutter wohnt oder ob sie außerhalb des Hauses auf dem Grundstück in einem Sprinter bzw. in einem Bauwagen lebt. Das Jobcenter Düsseldorf lehnte den Antrag auf Gewährung der Regelleistung unter Hinweis auf Widersprüchlichkeiten in der Vergangenheit ab. Die Klägerin trägt vor, dass sie keine Miete zahle und daher auch keine Unterkunftskosten geltend mache. Den Regelbedarf benötige sie jedoch dringend. Mittlerweile halte sie sich nur durchs Pfandflaschensammeln über Wasser. Unterstützung von anderen Personen erhalte sie nicht.«

Überprüfungen durch den Außendienst des Jobcenters hatten Zweifel an ihrer Darstellung aufkommen lassen, ohne das konkret nachgewiesen werden konnte, dass sie woanders eine Wohnung hat oder mit ihrem Ex-Partner eine Bedarfsgemeinschaft bildet, so der Hinweis in diesem Artikel: Jobcenter Düsseldorf verliert Prozess gegen Flaschensammlerin.

Und damit nicht genug: »Das Jobcenter zweifelte weiterhin an, dass die Frau über kein eigenes Einkommen verfüge. Zum einen sei auch das Geld, dass die Düsseldorferin mit dem Sammeln von Pfandflaschen verdiene – nach eigenen Angaben zwischen drei und sieben Euro pro Tag, die sie für Lebensmittel ausgebe – als Einkommen zu werten. Zudem sei die Frau Kindergeld-Empfängerin. Dieses Geld wird jedoch nach Angaben der Klägerin seit Anfang 2018 auf das Konto des Kindsvaters eingezahlt, weil ihres wegen Krankenkassen-Schulden gepfändet wird.«

»Nicht nur der Anwalt der Frau – auch die Vorsitzende Richterin zeigte sich von der Argumentation des Jobcenters nicht überzeugt. Man versage seiner Mandantin die Zahlung nicht aus Sachgründen, sondern aus Bockigkeit, warf der Anwalt der beklagten Seite vor. Die Richterin fragte spitz nach, warum ein Beschluss des Gerichts, der Frau mindestens den Regelsatz für November und Dezember auszuzahlen, bislang ignoriert worden sei. Um ein Zwangsgeld zu vermeiden, willigte das Jobcenter in diese Zahlung ein.«

Der Pressemitteilung des Sozialgerichts Düsseldorf kann man entnehmen: »Die Kammer habe sich nach einer umfangreichen Beweisaufnahme davon überzeugen können, dass die Klägerin wohnungslos sei und häufiger auf dem Grundstück der Mutter ihres ehemaligen Lebensgefährten übernachte. Ihre Hilfebedürftigkeit stehe aber in jedem Falle fest. Sie habe weder Einkommen noch Vermögen, noch lebe sie in einer Bedarfsgemeinschaft mit einer anderen Person. Ihr stehe daher der Regelbedarf zu. Angerechnet werden dürfe nur das Kindergeld, das ihr grundsätzlich als Kindergeldberechtigte für ihre Tochter zur Verfügung gestanden habe. Die Einnahmen aus Pfandflaschensammeln seien so gering gewesen, dass sie in diesem Einzelfall haben anrechnungsfrei bleiben müssen. Denn die Lage der Klägerin werde dadurch nicht so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen vom Jobcenter nicht gerechtfertigt wären.«

Ob das Jobcenter rückwirkend seit Juni 2018 alle monatlichen Beträge überweisen wird, wozu sie vom Sozialgericht verurteilt wurde, bleibt derzeit aber offen, denn noch sind nicht alle rechtlichen Möglichkeiten offen für das beklagte Jobcenter. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Diese eine Beispiel aus den Tiefen bzw. Untiefen des Streits über die Konkretisierung des Bedürftigkeitsbegriffs in der lebensweltlichen Praxis wirft erneut ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass die Leistungsberechtigten im Hartz IV-System eben keine homogene Gruppe darstellen, sondern wir mit einer erheblichen Heterogenität der Fälle konfrontiert werden und darunter sind eben auch viele Menschen, die dem „Standard- bzw. Normalmodell“ des alle bürokratischen Voraussetzungen des Leistungsbezugs ordnungsgemäß erfüllenden Leistungsberechtigten nicht oder teilweise nicht erfüllen (können). Auf der anderen Seite haben die letzten Glieder in der Kette, die am Ende zu einer Geldleistung führt, also die Mitarbeiter in den Jobcentern, die eben nur scheinbar eindeutigen Vorgaben des Gesetzes hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und rechtssicher zu bescheiden.

Der hier aufzurufende Punkt ist die Vielzahl an ganz unterschiedlich gelagerten Einzelfällen im Hartz IV-System, die aber konfligieren kann mit einer immer noch weit verbreiteten und – ob bewusst oder unbewusst – von den Medien regelmäßig durch deren Berichterstattung sowie seitens der Politik durch die dort geführten Debatten über Hartz IV stabilisierte Sichtweise, die sich auf diese Formel verdichten lässt:

Hartz IV-Empfänger = Arbeitslose

Diese Gleichsetzung bzw. Reduktion trifft man immer wieder an und man kann plausibel behaupten, dass auch viele Menschen, wenn man sie befragen würde, dieses Bild im Kopf haben. Hartz IV-Bezug hat was mit Arbeitslosen zu tun. Wenn man von dieser Sichtweise ausgeht, dann werden Berichte über die rückläufige Arbeitslosigkeit auch auf das Hartz IV-System übertragen. Wenn in den Medien über eine immer niedrigere (offiziell augewiesene) Arbeitslosigkeit berichtet wird, dann muss das auch für die Leistungsempfänger im Grundsicherungssystem gelten.

Dazu passen dann auch solche erfreulich daherkommenden Meldungen, um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren, das am 8. Januar 2020 veröffentlicht wurde: Weniger Hartz-IV-Empfänger als vor 15 Jahren: »Seit der Einführung der Grundsicherung vor 15 Jahren ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger in Rheinland-Pfalz deutlich gesunken. Waren 2005 noch 92.800 Frauen und Männer in der Grundsicherung arbeitslos gemeldet, lag die Zahl im vergangenen Jahr nur noch bei 56.300, wie die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Saarbrücken mitteilte. Das ist ein Rückgang um knapp 40 Prozent. Auch die Arbeitslosenquote reduzierte sich seither von durchschnittlich 8,8 Prozent (2005) auf 4,3 Prozent (2019).«

Was für ein Rückgang: 40 Prozent weniger. Das belegt nun doch wirklich die immer wieder kolportierte „Erfolgsgeschichte“ Hartz IV. Aber: Die Formulierung „Seit der Einführung der Grundsicherung vor 15 Jahren ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger in Rheinland-Pfalz deutlich gesunken“ in der Abbildung ist dem Beitrag des SWR Weniger Hartz-IV-Empfänger als vor 15 Jahren wortwörtlich entnommen. Das aber stimmt so nicht bzw. bei weitem nicht so, wie es die 40 Prozent nahelegen.

Wie immer im Leben lohnt es, genauer hinzuschauen und die Daten in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Wenn man das stellvertretend am Beispiel der Entwicklung in Rheinland-Pfalz macht, dann ergibt sich ein anderes Bild:

Die hier präsentierten Daten zeigen zwar, dass die Zahl der Arbeitslosen im SGB II tatsächlich um fast 40 Prozent zurückgegangen ist, aber die Zahl der Personen, die Hartz IV-Leistungen beziehen, ist mit nur -3,8 Prozent quasi stabil geblieben. Und das trotz der in den zurückliegenden Jahren wirklich hervorragenden quantitativen Arbeitsmarktentwicklung, die es auch mit sich gebracht hat, dass Menschen, die früher nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs gekommen wären, nunmehr aufgenommen wurden vom allgemeinen Arbeitsmarkt, was dann nicht nur, aber auch einen Teil des erheblichen Rückgangs der Zahl der Arbeitslosen erklärt.

Ganz offensichtlich zeigt sich an diesem differenzieren Befund, dass man Hartz IV eben nicht – und immer weniger – auf Arbeitslosigkeit und Arbeitslose reduzieren darf. Wir haben eine Vielzahl an vom „Standardmodell“ des (Langzeit)Arbeitslosen abweichende Personengruppen, die auf Leistungen aus dem SGB II angewiesen sind. Alleinerziehende und ihre Kinder, aufstockende Arbeitnehmer, auch Selbstständige mit zu geringen Einkommen, um nur einige wenige Beispiele für die gegebene Vielgestaltigkeit zu nennen. Und für nicht wenige von ihnen wird die Abhängigkeit von Grundsicherungsleistungen zu einem verfestigten Zustand: Mitte 2019 gab es 5,515 Millionen Hartz IV-Empfänger in Deutschland. Von ihnen waren 42 Prozent bereits seit vier Jahren hilfebedürftig, 66 Prozent bereits seit zwei Jahren oder länger. Schaut man aber in das dem Hartz IV-System zugrundeliegende Gesetz, also dem SGB II, dann wird man erkennen müssen, dass es auf einer verengten Perspektive errichtet wurde, also der Vorstellung von einer nur kurzzeitigen und durch die Aufnahme einer Erwerbsarbeit überwindbaren Hilfsbedürftigkeit folgt und die Regelungen genau dieses Bild auch reproduzieren. Das passt immer weniger.