Die Leiharbeit trotzt der angeblich existenzbedrohenden Regulierung und die Gewerkschaften wollen mehr, sind aber auch Teil des Systems

Als die letzte GroKo im Jahr 2016 Änderungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG), der gesetzlichen Grundlage für die Leiharbeit, vorgenommen hat, da war die Wehklage aus der Branche groß – und manche der Leiharbeit geneigten Medien fabulierten von einem „Erdrosselungseffekt“ für diese angeblich so wichtige Branche für den Arbeitsmarkt. Damit würde man eine bedeutsame Brücke, über die (ebenfalls angeblich) viele Arbeitslose in eine ordentliche Beschäftigung wandern, weiter destabilisieren.

Im September dieses Jahres konnte man dann solche Meldungen zur Kenntnis nehmen: Anteil der Leiharbeiter auf Rekordhoch: »In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Menschen in Zeitarbeit um gut 40 Prozent erhöht. Ein Übergang in einen regulären Job gelingt eher selten.« Der Anteil der Leiharbeiter an der Gesamtbeschäftigung lag 2017 bei 2,8 Prozent. In der Metallbearbeitung und im Lager- und Postbereich ist er mit 14,9 beziehungsweise 12 Prozent deutlich höher gewesen. Es wurde berichtet, dass Leiharbeit nur bedingt reguläre Beschäftigung ermöglicht. Demnach hatten rund 40 Prozent der Menschen, die im zweiten Halbjahr 2017 ein Beschäftigungsverhältnis in Leiharbeit beendeten, 90 Tage danach noch keinen neuen Job. Rund 60 Prozent hätten in diesem Zeitraum eine neue Beschäftigung gefunden – etwa 40 Prozent von ihnen jedoch ein weiteres Mal in Leiharbeit. 

Und auch die vielen einzelnen Berichte in der Presse deuten keineswegs auf ein nahes Ende der Leiharbeit hin: »In Brandenburg arbeiten offenbar immer mehr Pflegekräfte als selbstständige Freiberufler oder bei Zeitarbeitsfirmen. Und in immer mehr Alten- und Pflegeheimen kommen Leiharbeiter zum Einsatz«, kann man beispielsweise diesem Artikel mit Blick auf Brandenburg entnehmen: Immer mehr Leiharbeiter in der Pflege. Und nicht wenige werden von solchen Meldungen überrascht sein, wenn man an das übliche Image der Leiharbeit denkt: »Keine Nachtschichten mehr, kein Einspringen am Wochenende, beste Bezahlung – mit paradiesischen Arbeitsbedingungen werben Leiharbeitsfirmen um Altenpflegekräfte. Die profitieren dabei vom Fachkräftemangel« so Tina Friedrich und Jan Wiese in ihrem Beitrag Leiharbeit in der Altenpflege boomt: Pflegekräfte auf Pump. Speziell zu der Entwicklung einer zunehmenden Zahl an Leiharbeitskräften in der Pflege, vor allem in der Altenpflege, vgl. bereits diesen Beitrag vom 5. Juli 2018: Schlechte Leiharbeit, gute Leiharbeit? Von Leiharbeitern bei Daimler und in der Pflege. Und (schein)selbständige Pflegekräfte werden gerichtlich erneut ausgebremst.

Und in diesen Tagen wird auch immer wieder gerne die Geschichte erzählt, dass die Leiharbeit ein Sprungbrett in den regulären Arbeitsmarkt für die geflüchteten Menschen sei. »Als Leiharbeiter starten und dann im regulären Arbeitsmarkt landen? Für die meisten Flüchtlinge erfüllt sich diese Hoffnung nicht«, so Gregor Mayntz in seinem Artikel Leiharbeit bleibt für die meisten Flüchtlinge eine Sackgasse.

»Nach einer Auflistung der Bundesregierung haben sich die Hoffnungen, über Leiharbeitsverträge Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren zu können, nicht erfüllt. 90 Tage nach dem Ende eines Leiharbeitsverhältnisses landen rund 80 Prozent aller syrischen, afghanischen und irakischen Staatsangehörigen nicht in einer unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. 54 Prozent sind dann arbeitslos oder aus anderen Gründen wie beispielsweise Krankheit nicht beschäftigt. Sechs Prozent gehen in geringfügige Beschäftigung und 20 Prozent erhalten erneut einen Job als Leiharbeiter.« Hinzu kommt: Der Umgang mit Flüchtlingen als Leiharbeiter unterscheidet sich signifikant von dem mit ihren deutschen Kollegen. »Bezogen auf alle beendeten Leiharbeitsverhältnisse werden bei Syrern, Afghanen und Irakern 83 Prozent bereits innerhalb von neun Monaten beendet, während es bei deutschen Staatsangehörigen nur 27 Prozent sind. Nach neun Monaten müssen Leiharbeiter vergleichbare Löhne zur Stammbelegschaft erhalten.«

»Wie so vieles in der Arbeitswelt ist auch die Leiharbeit eine Erfindung der Amerikaner. Als Rechtsanwälte aus Milwaukee 1948 keinen Ersatz für ihre erkrankte Sekretärin fanden, ersannen sie das Modell der Zeitarbeit und gründeten den heutigen Branchenriesen Manpower.« So beginnt Tanja Wolter ihren Artikel Leiharbeit als Strategie zur schnellen Kostenreduktion, in dem sie auf eine Konferenz des DGB über die Leiharbeit hinweist und das kommentiert. den eigentlichen Missbrauch der Leiharbeit nimmt sie so wahr: »Ursprünglich war sie nur für Phasen mit hoher Nachfrage vorgesehen. Doch wenn „Auftragsspitzen“ zur Regel werden, kann von einer Ausnahmesituation keine Rede mehr sein. Dass die Leiharbeit jetzt auf einem Höchststand ist, zeigt, dass sie als strategisches Instrument zur Kostenreduktion herangezogen wird.« Aber sie teilt auch aus gegen die Gewerkschaften: »Einerseits müssten sie vom Grundsatz her ein Interesse haben, Leiharbeit zu bekämpfen. Andererseits sind sie selbst nicht ganz unglücklich über die jederzeit verfügbare Reserve, mit der sich auch Interessen der Stammbelegschaften und damit der Mitglieder pflegen lassen. Ehrlich ist das nicht.«

Was berichtet der DGB selbst? Unter der Überschrift Gute Arbeit in der Leiharbeit: Das muss passieren. Regelungen gegen Missbrauch reichen nicht aus werden wir über die 3. Betriebsrätekonferenz Leiharbeit informiert. »Laut einer aktuellen Umfrage der IG Metall nutzen rund 80 Prozent der Betriebe der Metall- und Elektroindustrie, der Holz- und Kunststoff verarbeitenden Industrie sowie der Textilindustrie Leiharbeit oder vergeben Aufträge über sogenannte Werkverträge an Fremdfirmen. Mehr als ein Viertel der befragten Betriebsräte sagt außerdem, dass ihr Arbeitgeber auch dauerhafte Stammarbeitsplätze durch Leiharbeit und Fremdvergabe ersetzt.« Zu der angesprochenen Umfrage der IG Metall vgl. diesen Bericht vom 5. Oktober 2018: Immer mehr Missbrauch von Leiharbeit und Fremdvergabe: »Betriebe gliedern immer mehr Arbeit in Leiharbeit oder an Industrienahe Dienstleister aus. Und das keineswegs mehr nur für Auftragsspitzen oder Spezialarbeiten. Auch normale Stammarbeitsplätze sind betroffen, in allen Abteilungen der Betriebe. Das zeigt eine aktuelle Betriebsrätebefragung der IG Metall.«

Dabei, so der DGB, sollte doch alles besser werden: »Dabei wollte der Gesetzgeber genau diese Formen des Missbrauchs unterbinden. 2016 hat er das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) reformiert, seit April 2017 sind die Regelungen in Kraft. Danach haben Leiharbeiterinnen und Leiharbeitnehmer das Recht, nach neun Monaten im Einsatzbetrieb genauso bezahlt zu werden wie die Stammbelegschaft (Equal Pay). Außerdem wurde die maximale Zeit, die eine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter in einem Betrieb eingesetzt werden darf, auf 18 Monate begrenzt (Höchstüberlassungsdauer).« Das hört sich erst einmal imposant an, allerdings wurde hier bereits mehrfach dargelegt, dass die Wirklichkeit dessen, was da rausgekommen ist, deutlich pessimistischer beurteilt werden muss. Vgl. dazu nur die Beiträge Eine weichgespülte „Reform“ der Leiharbeit und Werkverträge in einer Welt der sich durch alle Qualifikationsebenen fressenden Auslagerungen vom 1. April 2017 sowie bereits am 21. Oktober 2016: Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen.

Was muss also passieren, damit sich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Leiharbeit verbessern und Missbrauch wirkungsvoll verhindert wird? Der DGB hat dazu konkrete Forderungen formuliert:

Nun sind Forderungen das eine, die Realität hat oftmals ihre eigenen Spielregeln. Nehmen wir nur als ein Beispiel die erste Forderung: »Die Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten muss sich auf den Arbeitsplatz beziehen, nicht auf den konkreten Leihrabeitnehmenden.« Auf der anderen Seite kann man dem Beitrag Zur Ambivalenz von Geben und Nehmen: Die IG Metall sieht weiteren Regulierungsbedarf bei Leiharbeit und (vor allem) bei den Werkverträgen vom 6. Oktober 2018 das hier entnehmen:

»Zum 1. April 2017 wurden einige Regelungen im AÜG eigentlich und scheinbar verschärft im Sinne einer Verstärkung der Schutzfunktion für die Leiharbeiter. So wurde festgelegt, dass ein Leiharbeiter maximal 18 Monate lang an denselben Betrieb ausgeliehen werden darf … Es sind jedoch Ausnahmen möglich, wenn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften abweichende Vereinbarungen treffen. Und genau das ist zwischenzeitlich auch passiert – und zwar erneut zuungunsten der Arbeitnehmer, in diesem Fall der Leiharbeiter. Und dann auch noch von der nach außen immer so stark auftretenden IG Metall. So hat man sich auf eine tarifvertragliche Regelung mit den Arbeitgebern verständigt, die folgendes vorsieht: In der Metall- und Elektroindustrie können Leiharbeiter künftig bis zu 48 Monate in einem Betrieb beschäftigt werden – statt 18 Monaten, wie es das seit 1. April in Kraft getretene Gesetz vorsieht. Und sogar darüber hinaus öffnen sich die Tore für die Arbeitgeber, denn: Wenn Sachgründe vorliegen, etwa in Form konkreter Projekte, so solle – auf freiwilliger Basis – eine über 48 Monate hinausgehende Verleihdauer möglich sein.«

Wie kann das alles sein? Da begrenzt ein Gesetz die für Leiharbeiter zulässige Überlassungshöchstdauer auf 18 Monate und die Gewerkschaft schließt mit den Arbeitgebern einen Tarifvertrag, der diese Höchstdauer nicht etwa nach unten begrenzt, sondern sie erheblich verlängert? Warum macht die IG Metall so etwas mit? Dazu eine Interpretationsmöglichkeit, die bereits in dem Beitrag Mit Tarifverträgen fahren Arbeitnehmer besser. Das stimmt (nicht immer). Über „tarifdispositive Regelungen“ und ihre Ambivalenz mit erheblicher Schlagseite vom 2. September 2017 präsentiert wurde:

» … eine durchaus plausible Vermutung könnte so lauten: Die IG Metall ist wie jede Gewerkschaft eine Mitgliedsorganisation, aber nicht alle Mitglieder sind gleich. Neben dem normalen Mitglied gibt es die Funktionäre, die Gewerkschaftsführung und eben auch besonders einflussreiche Mitglieder, die eine wesentlich größere Bedeutung haben als die normalen Mitglieder. Dazu gehören sicherlich die Betriebsräte der großen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie, in denen die Industriegewerkschaft quantitativ und qualitativ verankert ist. Und bei den Betriebsräten beispielsweise der deutschen Automobilhersteller ist klar, dass deren Unternehmen die Leiharbeiter als flexible Randbelegschaft fest eingeplant haben, dass sie nicht auf sie verzichten wollen und werden, wenn man sie dazu nicht zwingt. Und das – hier wird es heikel – die schlechteren Bedingungen, unter denen die Leiharbeiter arbeiten müssen, gleichsam eingepreist sind in den wesentlich besseren Bedingungen der Stammbelegschaft, die also von der Randbelegschaft gleichsam „profitiert“.«

Dass das keineswegs nur theoretische Denkübungen sind, kann man vielleicht an diesem Beispiel aus der betrieblichen Praxis ablesen: »Rund 1.000 Beschäftigte haben Ende Oktober mit dem Ende der Nachtschicht im BMW-Werk Regensburg ihre Arbeit verloren. Weil es sich aber um Leiharbeiter handelt, wird davon kaum Notiz genommen. Für die Stammbelegschaft gab es eine Erfolgsprämie, für die Leiharbeiter warme Worte zum Abschied. Mittlerweile wird ein weiterer Personalabbau befürchtet, der erneut eine erhebliche Zahl von Leiharbeitern betreffen dürfte«, so  Stefan Aigner unter der bezeichnenden Überschrift Stilles Job-Aus für 1.000 Unsichtbare:

»„Eine echte Erfolgsgeschichte.“ „Eine großartige Leistung.“ „Darauf können wir, darauf können Sie stolz sein. Vielen Dank für Ihr Engagement und Ihren individuellen Beitrag zur Nachtschicht.“ So viel Lob findet man eher selten in einer Kündigung.
Wobei es keine Kündigung ist, die Frau K. erhalten hat. Knapp eineinhalb Jahre war sie als Leiharbeiterin im BMW-Werk Regensburg beschäftigt. Eine Dienstleistung, die BMW bei ihrem Arbeitgeber – einer großen Zeitarbeitsfirma – seit 2016 eingekauft hatte, um eine Dauernachtschicht in der Fahrzeugproduktion zu fahren. Am 28. Oktober wurde diese Schicht nach 27 Monaten eingestellt, die Verträge mit den Zeitarbeitsfirmen wurden gekündigt. Frau K. braucht nicht mehr zu kommen, ebenso wie mindestens 1.000 weitere Betroffene. Einige Insider nennen sogar eine Zahl von 1.300. Von BMW erhielten sie wenige Tage zur noch das oben zitierte Dankesschreiben.«

Und auch das hier ist typisch: »Wie viele Leiharbeiter im BMW-Werk Regensburg insgesamt beschäftigt sind, ist nicht zu erfahren. Pressesprecher Andreas Sauer verweist auf Nachfrage darauf, dass „es sich beim Einsatz von Zeitarbeitskräften um ein Flexibilitätsinstrument handelt“, dass deren Zahl je nach Bedarf variiere und man daher „keine absolute Zahl nennen“ könne.« Intern ist allerdings von etwa 3.000 Leiharbeitern die Rede, die nach wie vor zusätzlich zur Stammbelegschaft von 9.000 Beschäftigten im BMW-Werk Regensburg zum Einsatz kommen.

Und hier treffen wir dann auf die Praxis der tarifvertraglichen Öffnungsklausel, wenn berichtet wird, dass bei »BMW – trotz der Regelungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die vorsehen, dass Leiharbeiter maximal 18 Monate im selben Betrieb eingesetzt werden dürfen, ehe sie entweder übernommen werden oder wechseln müssen – eine weitaus längere Einsatzzeit möglich (ist). Der entsprechende Tarifvertrag der IG Metall erlaubt einen Einsatz von bis zu 24 Monaten, verbunden mit einer Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarung, die BMW ebenso nutzt wie die meisten größeren Arbeitgeber in der Metall- und Elektroindustrie, sind sogar 48 Monate möglich.«

Ach so, da ist noch das hier zu sagen: »Der Stammbelegschaft hat die nun eingestellte Nachtschicht in diesem Jahr übrigens noch eine Rekord-Erfolgsprämie eingebracht, die je nach Gehaltsstufe bei um die 9.000 Euro brutto liegen dürfte. Die Leiharbeiter, die dies mit ermöglicht hatten – unter anderem durch 35- anstatt der üblichen 33-Stunden-Schichten – haben davon übrigens nichts. Sie haben bei gleicher Qualifikation zwar Anspruch auf in etwa denselben Stundenlohn, allerdings nicht ansatzweise auf dasselbe Weihnachts- oder Urlaubsgeld und vor allem nicht auf jene Erfolgsprämie. Doch immerhin gab es zum Abschied ein lobendes Dankeschön.«

Aber wie immer ist die wirkliche Wirklichkeit grau und schattiert und nicht nur schwarz oder weiß. Dass die Politik in der vergangenen Wahlperiode die Arbeitnehmerüberlassung stärker regulierte, lag auch an der IG Metall. Die hatte eine massive Kampagne aufgelegt und sich deutlich für die Leiharbeiter engagiert und auch reale Verbesserungen herausverhandeln können, beispielsweise in Stufen nach der Entleihdauer ansteigende Branchenzuschläge zu den niedrigeren Leiharbeitertarifentgelten. Und das erst einmal, ohne dass sich viele Leiharbeiter als Mitglieder in der Gewerkschaft organisiert haben. Auf der anderen Seite sah man sich offensichtlich gezwungen, wie immer in Tariffragen Kompromisse mit der Arbeitgeberseite zu machen, auch und gerade vor dem Hintergrund des Drucks, unter dem Betriebsräte stehen. Insofern kann man aus einer „klassischen“ Tarifverhandlungslogik von einem typischen Geben und Nehmen sprechen: Auf der einen Seite werden Leiharbeiter über Branchenzuschläge schneller an Equal Pay herangeführt als gesetzlich vorgeschrieben. Dafür können tarifgebundene Firmen per Betriebsvereinbarung die Höchstüberlassungsdauer auf bis zu 48 Monate strecken (und in Einzelfällen darüber hinaus).

Aber die unvermeidliche Kompromisshaftigkeit sollte dann eben auch so kommuniziert werden. Wegen der Ehrlichkeit.