Die älteren Semester werden sich noch an das Lied „Ein Jahr (Es geht voran)“ der Band Fehlfarben erinnern. „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“ – so heißt es in dem Song aus der Zeit zu Beginn der 1980er Jahre. Genau das wünschen sich manche auch mit Blick auf wahrhaft existenzielle Fragen des Lebens – beispielsweise hinsichtlich der Frage nach einer verfassungsrechtlichen Existenzberechtigung der das Existenzminimum kürzenden oder gar vollständig versagenden Sanktionen der Jobcenter gegenüber Leistungsberechtigten im Hartz IV-System. Darüber wurde hier schon in vielen Artikeln ausführlich berichtet.
Nun richten viele ihre Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht, denn das muss sich nach längerem Widerstand aufgrund der Hartnäckigkeit von Sozialrichtern aus Gotha mit dieser Frage beschäftigen und eine Entscheidung treffen: »Vorlage zu der Frage, ob die Sanktionsregelungen in § 31a in Verbindung mit §§ 31 und 31b des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) … mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG Sozialstaatlichkeit und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und mit Art. 12 GG vereinbar sind.« Kurzum – sind die Sanktionen verfassungswidrig oder nicht?
Nun ist es mit der Hoffnung ja immer so eine Sache, manchmal wird sie schnell zerstört und zuweilen lässt man die Hoffnungsträger ziemlich lange zappeln, böse Zungen behaupten dann vorwurfsvoll: das Anliegen verhungert am ausgestreckten Arm.
Nun soll also endlich das höchste deutsche Gericht eine Entscheidung in dieser Frage treffen, von der ja nicht eine kleine überschaubare Randgruppe betroffen ist, sondern gut sechs Millionen Menschen befinden sich derzeit im Hartz IV-System und sind auf dessen Leistungen existenziell angewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hatte noch 2016 Widerstand geleistet gegen ein Befassung mit dieser Frage und eine ersten Richtervorlage aus Gotha aus formalen Gründen abgewiesen – aber die haben nicht locker gelassen, sondern eine neue „saubere“ Vorlage nachgereicht, um deren Annahme man dann nicht herum gekommen ist (vgl. dazu den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).
Und das hohe Gericht stellte eine Entscheidung für das Jahr 2017 in Aussicht. Der übliche Apparat mit den Anfragen bei Institutionen und Organisationen mit der Bitte um Stellungnahmen lief an und es wurde auch viel produziert. Eine Zusammenstellung aller Stellungnahmen der sachverständigen Dritten beim BVerfG findet man hier: Stellungnahmen zum Vorlageverfahren wegen Sanktionen im SGB II beim BVerfG.
Nun ist bekanntlich das Jahr 2017 schon Geschichte – aber aus Karlsruhe ist kein weißer Ruch aufgestiegen. Da kann man ja mal nachfragen, mag der eine oder andere denken. Gesagt, getan:
Da das BVerfG ursprünglich noch im Jahr 2017 über das Vorlageverfahren vom BVerfG entscheiden wollte, hatte der Verein Tacheles Mitte Dezember nachgefragt, wann denn nun mit einer Entscheidung zu rechnen sei.
Hier die Antwort vom 11.01.2018: „Das BVerfG ist allerdings bestrebt das Verfahren in diesem Jahr einer Entscheidung zuzuführen“. (Quelle: Thomé Newsletter 03/2018 vom 21.01.2018)
Nun sollte man aber nicht zu früh den für das vergangene Jahr erschütterten Optimismus für das gerade angebrochene neue Jahr reanimieren und davon ausgehen, dass es nun aber doch ganz bestimmt im Laufe des Jahres 2018 was wird.
Zur Einschätzung hilft ein Blick auf die Website des Bundesverfassungsgerichts, denn dort wird immer eine Übersicht über die Jahresvorhaben eingestellt. Das hier relevante Verfahren 1 BvL 7/16 wurde in der Übersicht für das Jahr 2017 auf Platz 25 ausgewiesen.
Und nun ist die Übersicht für das Jahr 2018 veröffentlicht worden. Das Verfahren 1 BvL 7/16 ist von Platz 25 auf – festhalten – Platz 22 vorgerückt.
Harald Thomé schreibt in seinem Newsletter (08/2018): »Wenn ein Jahr Verzögerung 3 Plätze Vorrücken einbringen, dann sind noch 6 Jahre bis zu zur endgültigen Entscheidung Zeit … so rein rechnerisch …«. Die Betroffenen können also bei einer Fortschreibung des Aufstiegstempos noch vor 2025 mit einer Entscheidung rechnen.
Da haben wir wohl noch reichlich Zeit, auch weiterhin über Sanktionen und ihre oftmals desaströsen Konsequenzen zu berichten, die es hin und wieder auch in die normalen Medien schaffen: Die Jobcenter haben »in einem Jahr fast eine Million Strafmaßnahmen gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt. Nach SPIEGEL-Informationen sind fast in einem Drittel der Fälle Haushalte mit Kindern betroffen«, kann man dieser Meldung entnehmen: Hartz IV-Sanktionen treffen oft Kinder. »Von Oktober 2016 bis September 2017 wurden rund 954.000 Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende verhängt; 310.000 davon gingen an Haushalte mit Kindern. Darunter befanden sich außerdem rund ein Drittel Haushalte mit nur einem alleinerziehenden Elternteil. Insgesamt waren Alleinerziehende von 96.000 Sanktionen betroffen.«
Das wurde hier schon mehrfach und immer wieder problematisiert, vgl. beispielsweise den Beitrag Hartz IV: Auch die Kinder kommen unter die Räder. Von Sanktionen der Jobcenter sind jeden Monat tausende Familien betroffen vom 14. November 2016. Das ist nicht neu und wird seit langem angesichts der Folgewirkungen kritisiert und unterstreicht einmal mehr den eigentlichen Bedarf an einer möglichst bald zu treffenden Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts, das sich offensichtlich gerne vor dieser Aufgabe drücken würde.
Aber wenn in den Medien über Sanktionen berichtet wird, dann illustriert man dem Leser das hinsichtlich der Ursachen für diese Bestrafung von Hartz IV-Beziehern mit einem der möglichen Sanktionsgründe, die im § 31 SGB II unter der Überschrift „Pflichtverletzungen“ normiert sind.
Paul M. Schröder vom BIAJ hat das an einem aktuellen Beispiel dokumentiert. In der dpa-Meldung, die vom ZDF übernommen wurde, werden dem Leser Sanktionsgründe genannt, die aber nur eine sehr überschaubare Bedeutung haben. Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht mehr als offensichtlich, dass der mit ganz großem Abstand wichtigste Sanktionsgrund mit 78 Prozent Meldeversäumnisse waren (und dieses Muster besteht schon seit Jahren). Die werden in der Meldung aber gar nicht genannt. „Strafen gibt es wegen der Verweigerung eines Jobangebots, des Verschweigens von Zusatz-Einkommen oder der Ablehnung einer Fortbildung“, so heißt es in der Meldung – da muss man doch was gegen machen. Würde man den Leser „belasten“ mit der Tatsache, dass das gerade mal in 10 Prozent der Sanktionen der Fall war, dann würde das nur „irritieren“.
Eine Anmerkung: Natürlich hat Paul M. Schröder die Medien kritisch auf diese eigenwillige und mehr als einseitige Positionierung der Sanktionierungsgründe hingewiesen. Am 21. Januar 2018 vermerkt er den folgenden Nachtrag: »Beim Anklicken der kritisierten ZDF.de-dpa-Meldung vom 17. Januar 2018 … heißt es jetzt (statt Korrektur der Meldung): „Diese Seite wurde leider nicht gefunden. Der von Ihnen gewünschte Inhalt ist nicht vorhanden. Sie haben leider eine Seite aufgerufen, die unter der aufgerufenen Adresse nicht verfügbar ist. Möglicherweise liegt Ihnen ein „toter“, nicht funktionierender Link vor oder die Seite ist aus technischen Gründen nicht erreichbar.“ (21.01.2018, 13:30 Uhr).« Na ja, so kann man das auch machen.
Das Thema aufgegriffen hat auch „O-Ton Arbeitsmarkt“ unter der Überschrift Hartz-IV-System: Vier von fünf Sanktionen wegen versäumter Termine mit diesen Hinweisen: »Zwischen November 2016 und Oktober 2017 wurden rund 953.000 Sanktionen gegen Empfänger von Hartz-IV-Leistungen ausgesprochen. Das sind knapp 9.000 Sanktionen mehr als im Vorjahreszeitraum. Grund hierfür sind aber keineswegs häufigere Ablehnung von Jobangeboten oder mangelnde Eigeninitiative bei der Jobsuche. Tatsächlich werden knapp 78 Prozent der Sanktionen aufgrund von Terminversäumnissen verhängt.«
Aber dem Beitrag kann man auch andere interessante und für die Einordnung wichtige Informationen entnehmen: »Die Zahl der Sanktionen ist keineswegs gleichzusetzen mit der Zahl der sanktionierten Personen. Eine Person kann mehrere Sanktionen erhalten, die dann einzeln gezählt werden. 2017 wurden zwar rund 953.000 Sanktionen ausgesprochen, gleichzeitig gab es aber nur 419.324 neu sanktionierte Hartz-IV-Empfänger. Im Oktober 2017 gab es rund 139.000 Hartz-IV-Empfänger mit mindestens einer wirksamen Sanktion.« Und: Im Oktober 2017 lag der Anteil der sanktionierten Personen an allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei 3,2 Prozent.
Und auch diesen Aspekt muss man an dieser Stelle erwähnen: Widersprüche von sanktionierten Hartz-IV-Beziehern haben hohe Erfolgsaussichten. Wie aus einer Bundestagsanfrage der Fraktion Die Linke hervorgeht, wurden 37 Prozent aller Widersprüche gegen Sanktionen im Jahr 2016 (teilweise) stattgegeben. Klagen gegen Sanktionen sind zwar oft erfolglos, im Vergleich zu anderen Klagetatbeständen halten Sanktionen einer Überprüfung aber seltener stand (mehr dazu in diesem Artikel: Hohe Erfolgsquoten bei Widersprüchen gegen Sanktionen).
Und noch ein Aspekt, der bei der Sanktionsdebatte fast nie auftaucht, wurde diese Tage von „O-Ton Arbeitsmarkt“ herausgearbeitet: Sanktionen gibt es auch in der Arbeitslosenversicherung (SGB III), nicht nur bei den Hartz IV-Empfängern. Sperrzeiten: Immer mehr Sanktionen in der Arbeitslosenversicherung, so ist der Beitrag überschrieben. Und auch hier ist der wichtigste Grund für eine Sanktionierung wahrlich diskussionsbedürftig:
»Die Arbeitsagenturen verhängten zwischen Januar und Dezember 2017 rund 810.000 Sperrzeiten gegen Empfänger von Arbeitslosengeld I, rund fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Damit wurden monatlich etwa acht Prozent der Arbeitslosengeldzahlungen zeitweise aufgehoben. Häufigster Grund ist eine verspätete Meldung vor Beginn der Arbeitslosigkeit … Seit 2013 hat die Zahl der Sperrzeiten kontinuierlich zugenommen, obwohl die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I im gleichen Zeitraum immer weiter geschrumpft ist.«
Die verspätete Meldung vor Beginn der Arbeitslosigkeit (Arbeitsuchendmeldung) ist mit 36,2 Prozent der häufigste Grund für eine Sperrzeit. Es folgen Meldeversäumnisse mit 31,5 Prozent und die Kündigung durch den Arbeitnehmer ohne wichtigen Grund mit 27,4 Prozent. Alle anderen Verstöße haben zusammen nur einen geringen Anteil von insgesamt 4,9 Prozent an allen verhängten Sperrzeiten. Das aber sind genau die Gründe, die man ansonsten immer gerne ins Licht der Öffentlichkeit stellt, weil sie so „eingängig“ sind für eine Bewertung der Bestrafung.