Wie 40.000 Anwälte vom Gesetzgeber vor dem drohenden Abstieg in die Unterwelt der gewöhnlichen Rentenversicherungspflicht bewahrt wurden und sich ganz legal der Solidargemeinschaft entziehen dürfen

In der Sozialpolitik ist es häufig so, dass etwas begonnen, aber nicht zu Ende geführt wird. Oder das man etwas auf die lange Bank schiebt, obgleich man etwas tun müsste und es, wenn man denn wollte, auch tun könnte. Und nicht wirklich überraschend trifft das häufig die Menschen, für die der soziale Schutz eigentlich am dringlichsten ist. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre die eigentlich notwendige Anhebung der Regelleistungen im Hartz IV-System aufgrund der Tatsache, dass neue Daten vorliegen und die Reaktion der Politik, erst einmal in Ruhe rechnen zu wollen und die Entscheidung auf das kommende Jahr zu vertagen (siehe hierzu den Beitrag Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden vom 30. November 2015).

In anderen Bereichen hingegen kann man ganz schnelles Handeln beobachten – vor allem dann, wenn man Faktoren wie Macht und Einfluss und Artikulationsfähigkeit berücksichtigt, also Eigenschaften, die der großen Gruppe der Hartz IV-Empfänger in der politischen Arena fehlen, nicht hingegen anderen Gruppen. Beispielsweise Juristen, in diesem Fall eine ganz spezielle Gruppe, deren nunmehr auch amtlich besiegelter Name man sich merken muss: Syndikusanwälte. Also Anwälte, die nicht so arbeiten, wie man das normalerweise von Rechtsanwälten gewohnt ist, als Freiberufler oder als Angestellte in großen selbständigen Kanzleien. Sondern die angestellt sind in „normalen“ Unternehmen und Verbänden. Und nach der eigentlich herrschenden Logik in unserem sozialen Sicherungssystem sind angestellte Arbeitnehmer rentenversicherungspflichtig und per Gesetz Mitglied in der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Eigentlich wäre das so.

Das hat auch das Bundessozialgericht (BSG) so gesehen und in einem Urteil dahingehend entschieden. Am 3. April des Jahres 2014 kam diese Botschaft aus Kassel: Kein Befreiungsanspruch abhängig beschäftigter „Syndikusanwälte“ von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Deutsche Rentenversicherung hatte argumentiert, dass die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber generell keine befreiungsfähige Rechtsanwaltstätigkeit sei. Dem hatte sich das BSG angeschlossen. Vgl. dazu den Beitrag Wie „gewöhnliche“ Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen? Von der Sonnenseite berufsständischer Versorgungswerke in das Schattenreich der „Staatsrente“? Aufruhr (nicht nur) bei den Anwälten vom 15. April 2014. Das hat eine Menge Aufruhr in den betroffenen Kreisen produziert. Und wir sprechen hier nicht von einigen wenigen Personen: Der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) geht von rund 40.000 Syndikus-Anwälten in Deutschland aus. Die sowie deren Arbeitgeber liefen – erfolgreich – Sturm gegen die Entscheidung des BSG und die sich konsequenterweise am Horizont abzeichnende Rentenversicherungspflicht in der GRV.

Nun muss man wissen, dass es den Betroffenen nicht darum ging, als freischwebende Künstler ohne Absicherung dazustehen, sondern sie wollten schlichtweg nicht in der „Holzklasse“ des Alterssicherungssystems, also die GRV, zwangsversichert werden, sondern sich in das berufsständische Versorgungswerk der Anwälte begeben dürfen, wo (bislang) aufgrund der von der normalen Umlagefinanzierung abweichenden Funktionslogik deutlich höhere Renten gezahlt werden. Allerdings auf Kosten der Solidargemeinschaft der „normalen“ Rentenversicherten, denn diese (potenziellen) Beitragszahler mit in der Regel guten bis sehr guten Einkommen separieren sich ja auf Dauer in einem kleinen, aber feinen eigenen Alterssicherungssystem – wie wir das auch von anderen Freiberuflern kennen, beispielsweise Ärzte oder Architekten. Immerhin gibt es in Deutschland 89 berufsständische Versorgungswerke mit 900.000 Mitgliedern, die als von der normalen GRV befreit sind.

Und man muss in Erinnerung rufen, dass eine Umsetzung der damaligen Entscheidung des BSG möglicherweise enorme Auswirkungen gehabt hätte auf andere Berufsgruppen, die sich auch bislang der GRV entziehen können: Auch Steuerberater einer Bank oder Apotheker oder Ärzte im Pharmaunternehmen hätten von der Entscheidung betroffen sein können – und darin liegt eine grundsätzliche Brisanz des Urteils. Möglicherweise hätte das Urteil auch auf angestellte Anwälte in Anwaltskanzleien oder Ärzte im Krankenhaus ausgestrahlt. Gefahr im Verzug also.

Flugs wurde der parlamentarische Raum aktiviert, die möglichen Folgen des Urteils zu verhindern. Und bereits im Sommer des vergangenen Jahres konnte „Erfolg“ vermeldet werden, siehe hierzu den Beitrag Syndikusanwälte: Flucht auf die doppelte Sonnenseite. Raus aus der Rentenversicherung für das niedere Volk, aber auch aus der Haftung der richtigen Freiberufler vom 11. Juli 2015.

»Und die Parlamentarier ließen sich nicht lange bitten, wer will es sich schon mit zehntausenden Juristen verscherzen, die zudem noch für viele Unternehmen arbeiten. Und so kann berichtet werden, dass sich der Bundestag in erster Lesung zu einem Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bekannt hat, nach dem sich diese Juristen künftig wieder von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenkasse befreien lassen können.«

Wie so oft bei solchen nur scheinbar einfachen Dingen – man will hinsichtlich der Rentenversicherungspflicht nicht als „normaler“ Arbeitnehmer, sondern als Freiberufler behandelt werden, um die damit verbundenen Vorteile genießen zu können – bringt eine Lösung ein neues Problem hervor. Es wäre ja nun wirklich nur logisch, wenn man annimmt, dass die Einstufung als Freiberufler, um an die Vorteilströge zu kommen, die damit verbunden sind, in der Folge auch dazu führt, dass man dann in anderen Bereichen wie ein Freiberufler behandelt wird, also beispielsweise bei den Haftungsregeln. Die sind aber wesentlich strenger bei den Freiberuflern als bei Angestellten eines Unternehmens und so bekamen die, die gerade erfolgreich die Gleichstellung mit den Freiberuflern auf die gesetzgeberische Schiene gesetzt haben, eine Schnappatmung angesichts der damit verbundenen Folgen vor allem für die Arbeitgeber. Und wir wurden Zeuge einer beeindruckenden Pirouette, von der Joachim Jahn in seinem Artikel Syndikusanwälte fürchten strenge Haftung berichtet: »Bislang haben Syndikusanwälte für eine möglichst weitgehende Gleichstellung mit niedergelassen Rechtsberatern gekämpft. Nun wollen sie plötzlich doch keine „richtigen“ Anwälte sein.«

Hinsichtlich der Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme an der plebejischen Rentenversicherung der normalen Arbeitnehmer möchte man mit den niedergelassenen Rechtsanwälten gleichgestellt werden, aber bei den aus diesem Status abgeleiteten Haftungsverpflichtungen möchte man das genaue Gegenteil, dass man also wieder als stinknormaler Arbeitnehmer behandelt wird. Alles klar? So etwas erfasst der Volksmund mit der Formulierung: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Selbst Jahn schreibt bewundernd-distanziert von der Chuzpe nach dem Motto: Frechheit siegt:

»Eine bemerkenswerte Argumentation, weil die Syndizi sonst gerade mit der „Einheit der Anwaltschaft“ argumentieren, wenn sie die Befreiung von der Rentenpflicht fordern. Zumal sie am liebsten auch noch die Erlaubnis bekämen, für ihren eigenen Arbeitgeber vor Gericht aufzutreten, und vor einer Beschlagnahme ihrer Akten geschützt wären. Beide Rechte stehen nur externen Kanzleien zu, weil die Politik bloß diese für unabhängig genug hält.«

Dass die einschlägigen Verbände und Unternehmen in diese Richtung getrommelt haben, verwundert nicht, denn würden die Haftungsregeln der Freiberufler auf die Syndikusanwälte übertragen werden, dann kämen auf die Arbeitgeber deutlich höhere Kosten für die notwendige Versicherung ihrer Beschäftigten zu und möglicherweise auch Personalrekrutierungsprobleme, denn angesichts der rechtlichen Risiken könnte der eine oder andere Jurist vor einer solchen Tätigkeit zurückschrecken.

Wie sieht es denn nun aus – hinsichtlich der aus sozialpolitischer Sicht hier besonderes interessierenden Ausnahmeregelung von der Rentenversicherungspflicht und damit der Beteiligung an der großen Solidargemeinschaft der GRV?

Bereits zum 1. Januar 2016 ist das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte in Kraft getreten. Wichtigster Punkt: Unternehmens- und Verbandsjuristen, die bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber tätig sind (so genannte Syndizi), sollen sich auf Dauer von der Pflicht zur Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zugunsten einer Mitgliedschaft in einem Anwaltsversorgungswerk befreien lassen können. Geschafft.

Der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) hat auf seiner Seite dazu auf diesen Beitrag verlinkt, dessen Überschrift Bände spricht: Syndizi, vom ungeliebten Kind zum anerkannten Familienmitglied.

In der Fachzeitschrift Soziale Sicherheit, Heft 1/2016, S. 4, hat Oliver Kahlert, Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, diesen Beitrag veröffentlicht: „Unsolidarische Sonderregelung für Syndikusanwälte: Befreiung von der Rentenversicherungspflicht“. Darin führt er mit Blick auf die neue gesetzliche Regelungen aus:

»Auf gebündelten Druck … hat der Gesetzgeber nun einen neuen Typus »Anwalt« geschaffen: den »Syndikusanwalt«. Dieser soll – zu Lasten der GRV – Pflichtmitglied der Anwaltsversorgungswerke werden. Eine Begründung dafür, warum sich rund 40.000 meist gut verdienende, abhängig beschäftigte Syndizi nicht mehr in der GRV versichern sollen, liefert der Gesetzgeber nicht. Dies fiele auch schwer, zumal in der Mehrzahl der Fälle die betroffenen Tätigkeiten ebenso gut von nicht befreiungsberechtigten Nicht(voll)juristen ausgeübt werden (können). Dass mit der Neuregelung eine Mitte der 1990er Jahre mühsam errichtete »Friedensgrenze« zwischen den Versorgungswerken aller freien Berufe und der GRV überschritten wurde, wird ebenfalls verschwiegen. Schon mehren sich die Rufe, dass auch Ärzte, Pharmazeuten oder Architekten von der Versicherungspflicht in der GRV befreit werden müssten, wenn sie zwar nicht als solche tätig sind, aber etwa als angestellte Medizinjournalisten, Pharmareferenten oder Gebäudemanager arbeiten. Das wäre ein weiterer Dammbruch zum finanziellen Ausbluten der GRV.«

Sozialpolitisch ist das höchst unsystematisch, problematisch und schlichtweg ungerecht. Hier wurde was gezimmert zugunsten einer einflussreichen Gruppe, was sich auch daran zeigt, dass das neue „Berufsbild“ völlig unsystematisch daherkommt. Dazu Kahlert:

»Offensichtich sieht der Gesetzgeber aber in den Syndizi gar keine »richtigen« Anwälte. Das wird am Ausschluss fast aller Anwaltsrechte deutlich. So dürfen Syndizi nicht alle Rechtsuchenden vertreten, sondern nur ihren Arbeitgeber, und selbst dies in den meisten Gerichtsverfahren mit Anwaltszwang nicht. Dabei gehört dies zum ureigensten Anwaltsrecht.«

Ach ja – es wird den Leser, der bis jetzt durchgehalten hat, nicht überraschen, dass auch die Haftungsfrage gelöst wurde. „Natürlich“ im Sinne der Betroffenen. Auch das bringt Kahlert in seinem Beitrag auf den schmerzhaften Punkt:

»Im Gegenzug treffen die Syndizi allerdings praktisch auch keine Anwaltspflichten, nicht einmal die Pflicht zum Abschluss der obligatorischen Berufshaftpflichtversicherung. Diese Verpflichtung war im ursprünglichen Gesetzentwurf noch vorgesehen, wurde dann aber wieder gestrichen. Die Begründung: Syndizi seien bei der Haftung nicht anders zu behandeln als alle anderen Arbeitnehmer auch. Und warum gilt dieses Gleichbehandlungsgebot mit allen Arbeitnehmern nicht auch für die Versicherungspflicht in der GRV?«

Ach, man würde sich wünschen, dass andere Gruppen in unserer Gesellschaft eine solche Schlagkraft hätten, die Regelwerke zu ihren Gunsten zu ändern.