Familien(politik) in Deutschland 2015: Zementierte Realitäten im Alltag, 24-Stunden-Kitas als Spielfeld für politische Profilierung sowie fragwürdige Kümmerer um kleine Kinder

Man kann und muss es allen Ausführungen zum Thema Familie und Familienpolitik immer wieder voranstellen: Es wird Zustimmung geben und gleichzeitig heftigste Ablehnung, denn es geht um eine ganz eigene, an sich vielgestaltige und überaus bunte Welt der unterschiedlichsten Familien und ihrer Ausprägungen. Aber in der veröffentlichten Debatte und im familienpolitischen Orbit trifft man in aller Regel gerade nicht auf eine Akzeptanz dieser an sich Selbstverständlichkeit, sondern dort wird in Deutschland zuweilen ein echtes Schachtfeld in Szene gesetzt zwischen gut und böse, schwarz und weiß, wir und die – alles Codierungen, die auf einen sehr hohen Ideologiegehalt schließen lassen. Und auch die aktuellen Baustellen der Familienpolitik deuten leider genau darauf hin. Man kann es auch etwas weniger vorwurfsvoll versuchen auszudrücken: Die einen meinen eine Vorstellung von Familie verteidigen zu müssen, die sie für normal halten, zugleich aber von vielen Rändern unter Druck befindlich sehen, während die anderen eine Soll-Vorstellung von „moderner Familie“ meinen verfolgen zu müssen, die sich abhebt von dem, was im Wesentlichen in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt worden ist. Die Tragik beider polarisierend vorgetragener Zugänge zum Thema Familie liegt darin, dass ihnen der Gegenstand ihres Weltbildes verloren geht bzw. sich partout nicht so einstellen will, wie es doch sein müsste, wenn die Leute das täten, was sie eigentlich wollen sollten. Also machen wir einen Parcours-Ritt durch die familienpolitische Landschaft.

Was weiß das Bundesministerium zum Thema zu berichten, das immerhin die Familie im offiziellen Namen verzeichnet hat (neben den Senioren, Frauen und der Jugend, was aber auch alles irgendwie mit Familie zu tun hat)? Eltern wollen mehr Partnerschaft – wie in Stein gemeißelt lautet so eine der Botschaften aus der Hauptstadt, die an das gemeine Volk ausgesendet werden. Das BMFSFJ weiß das, aber woher? Behaupten die das nur? Wie es sich gehört in der heutigen Zeit, hat man das durch eine wissenschaftliche Studie ermitteln lassen. Also zumindest dadurch, dass man ausgewählte Menschen befragt hat. Was sie möchten, wenn sie könnten. Allerdings auch, was sie tun, auch wenn sie Sachen machen, die sie eigentlich nicht wollen, aber dennoch eben machen (müssen?)

Man sieht an der Formulierung, die Dinge sind wieder mal komplizierter als es die Headline nahezulegen scheint. Zuerst einmal ein Blick darauf, was die Aussage des Bundespartnerschaftsministeriums stützen könnte. Das erste Problem ist: In der Pressemitteilung des BMFSFJ findet sich nicht so wirklich etwas als Beleg, außer diese Aussage: »Die partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein neues und zentrales Anliegen von Eltern in Deutschland. Sie erwarten von Politik und Wirtschaft angemessene Rahmenbedingungen, um diese zu realisieren.« Das sei ein Ergebnis einer neuen Studie, die vom Institut für Demoskopie Allensbach angefertigt worden ist. Also werfen wir einen Blick in diese Studie, die man als PDF-Datei abrufen kann:

Institut für Demoskopie Allensbach: Weichenstellungen für die Aufgabenteilung in Familie und Beruf. Untersuchungsbericht zu einer repräsentativen Befragung von Elternpaaren im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2015

Die Abbildung (IfD 2015: 6) zu den Erwerbskonstellationen vor der Geburt des ersten Kindes und nach der ersten Elternzeit verdeutlicht das, was hier als „zementierte Realitäten“ bezeichnet werden soll: Vor der Geburt des ersten Kindes sehen wir mittlerweile die Ergebnisse einer zunehmenden Angleichung der Erwerbsmuster zwischen den Geschlechtern gemessen an der Vollzeit-Erwerbstätigkeit, während nach der Elternzeit ein massiver Bruch zu erkennen ist. Haben vorher in 71 Prozent der Paare beide eine Vollzeitarbeit ausgeübt, sackt der Anteilswert nach der ersten Elternzeit auf nur noch 15%, wobei dieser Durchschnittswert eine große Diskrepanz zwischen West- und Ostdeutschland verdeckt, denn: »Nach der Elternzeit arbeiten in den neuen Bundesländern 34 Prozent der Frauen in Vollzeit. Im Westen ist dies nur bei 11 Prozent der Mütter der Fall«, so der Artikel Nur elf Prozent der Mütter im Westen arbeiten Vollzeit. Der Anteil der immer wieder als „Auslaufmodell“ bezeichneten „Hausfrauenehe“, wo also die Mutter vollständig auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet, verdoppelt sich immerhin auf noch 17 Prozent. Bei den Eltern, die zwei oder mehr Kinder haben, beläuft sich dieser Anteil sogar auf 20 Prozent. Und einen weiteren wichtigen Befund kann man der Befragung entnehmen: »Die einmal gewählte Konstellation wird von den meisten Paaren auch nach der Geburt des zweiten Kindes beibehalten.«

Man kann das auch so zusammenfassen, wie Jana Frielinghaus in ihrem Artikel Wunsch gegen Wirklichkeit, wenn sie schreibt: »Die meisten machen es – fast – wie früher. Das heißt, sie arbeitet in Teilzeit oder bleibt längere Zeit zu Hause, er widmet dem Job oft noch mehr Stunden als zuvor.« Woher nimmt also die Bundesfamilienministerin ihre optimistische Einschätzung, was den Wandel der Partnerschaftsmodelle angeht? Nicht aus den Ist-, sondern aus den Möchte-Daten. Dazu Jana Frielinghaus:

»Zu den wichtigsten Gründen für eine traditionelle Rollenteilung gehört der Wunsch der Mütter, Zeit mit dem Kind zu verbringen. Entscheidend ist aber auch, wer wieviel Geld verdient. 60 Prozent der Paare sagten, dieser Faktor habe großen Einfluss auf ihre Entscheidung gehabt. Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist bei vielen Paaren groß. So wünschten sich 34 Prozent der Befragten, dass beide Partner in Teilzeit arbeiten können. Tatsächlich konnten nur vier Prozent dieses Familienmodell realisieren.«

Dann passt es doch, was die Ministerin Manuela Schwesig (SPD) postuliert, dass ihre »Idee der Familienarbeitszeit den Nerv vieler Eltern trifft.« Das mag sein, aber die Realitäten sehen immer noch anders aus und nur am Rande sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass bei einer längeren Betrachtung deutlich wird, dass wir nicht von Fortschritt reden können bei den Erwerbskonstellationen von Paaren mit jungen Kindern, sondern im Vergleich der Situation direkt nach der Wiedervereinigung und der im Jahr 2011 konnte eine Studie (vgl. Wirth/Tölke 2013: Egalitär arbeiten – familienzentriert leben: Kein Widerspruch für ostdeutsche Eltern. Analysen zu Erwerbskonstellationen von Eltern in Deutschland) zeigen, dass zwar der Anteil der Paare, die eine „klassische“, von vielen als „tradiert“ bezeichnete „Hausfrauenehe“ praktizieren, abgenommen hat – aber: Anfang der 1990er Jahre war der Anteil der egalitär lebenden Paare im Osten und im Westen höher als im Jahr 2011!

Und theoretisch passt die Forderung nach einer „Familienarbeitszeit“ im Sinne einer gleichen „großen Teilzeit“ für Mutter und Vater, aber sie wird es nicht nur in der betrieblichen Realität schwer haben, sondern es gibt auch viele Jobs, bei denen die Arbeit nicht mehr klar und eindeutig auf Arbeitsstunden abgrenzbar ist, sondern die Arbeit irgendwie „erledigt“ werden muss. Viele Betroffene wissen, dass eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit ihnen vor allem eins bringen würde – weniger Geld, nicht aber unbedingt weniger Arbeit, vielleicht sogar unterm Strich mehr Stress. Und dann zu glauben, man könne über eine Lohnersatzleistung die Differenzsumme ausgleichen, ist gelinde gesagt mehr als optimistisch angesichts des Mittelbedarfs, der bei einer erfolgreichen Umsetzung des Modells anfallen würde.

Aber die Bundesfamilienministerin ist ja auch für die Kitas – zumindest partiell – zuständig und da hat sie nun ein neues Fässchen aufgemacht – die „24-Stunden-Kitas“. Ein wunderbares Thema, um den Blutdruck der Schnellleser und anderer steigen zu lassen, die darin in Unkenntnis der Realitäten einen weiteren „Angriff des Staates“ auf die Familie sehen. Vgl. dazu schon meinen Beitrag vom 5. Juli 2015: Kommen jetzt die 24-Stunden-Kita-Kombinate? Über ein gar nicht so neues Ferkel, das durchs Sommer-Dorf getrieben wird. Aber es musste so kommen, wie erwartet. Wir reden hier bundesweit über bisher eine Handvoll Einrichtungen unter mehr als 50.000 Kitas. Bezeichnend auch für diese ganze Phantom-Diskussion: Eigentlich hätte man an dieser Stelle zumindest einen Hinweis erwartet, dass es mit der Kindertagespflege ein durchaus besser geeignetes Instrument für die überschaubare Zahl an Einzelfällen gibt. Die finden aber nicht einmal Erwähnung, sondern wieder einmal fokussiert alles auf die Kitas. Die Skepsis aus den Reihen der Praxis  ist entsprechend des Gegenstandes enorm, vgl. hierzu nur den Artikel 24-Stunden-Kita: Späti für die Kleinen: »Politiker fordern längere Öffnungszeiten für Kitas – sogar bis zu 24 Stunden. Doch Versuche zeigen: Die Hemmschwelle ist oft hoch.«

Die Befürworter des Ansatzes haben sich sogleich zu Wort gemeldet: Warum 24-Stunden-Kitas notwendig sind, so beispielsweise Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung. Sein Kommentar offenbart einiges, was man kritisch hinterfragen muss:

»Die Frage ist längst nicht mehr, ob 24-Stunden-Kitas pädagogisch wertvoll sind oder nicht. Sie sind schlicht notwendig. Der Arbeitsmarkt verlangt heute maximale Mobilität und Einsatzbereitschaft. In der Nacht genauso wie an Wochenenden. Und das oft zu viel zu niedrigen Löhnen.
Viele Familien brauchen das zweite Einkommen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Und nicht zu vergessen: Immer mehr Frauen wollen sich nicht länger auf die Nur-Mutter-Rolle reduzieren lassen.
Dem gegenüber stehen Kitas, die in aller Regel nur von acht bis 16 Uhr geöffnet haben, und die Eltern mit regelmäßigen Schließzeiten malträtieren. Als wenn es nicht auch Eltern gäbe, die an Weihnachten oder Ostern arbeiten müssten. Kinder sind in dieser Welt eher ein Störfaktor.
Wer grundsätzlich etwas gegen 24-Stunden-Kitas und lange Öffnungszeiten bis in den späten Abend hat, der sollte zumindest dafür sorgen, dass die klassischen Schichtberufe besser bezahlt werden. Höhere Löhne für Krankenschwestern und Altenpfleger zum Beispiel. Wenn davon dann ein Babysitter bezahlt werden kann, können die Kleinen über Nacht wenigstens zu Hause bleiben.«

Genau hier ist der doppelte Punkt: Zum einen die Systemfrage des Arbeitsmarktes, die wieder durchschimmert. Und in der bisherigen Medienberichterstattung weithin unbeachtet: die Frage der Finanzierung dieser Angebote, sollte man sich den dafür entscheiden, diese wirklich ausbauen zu wollen. Denn über eines muss man sich doch klar sein: Das würde eine richtig teure Veranstaltung werden, wenn man 24-Stunden-betreuungsangebote flächendeckend vorhalten will. Und das in einem System, in dem bereits die „Normalbetreuung“ mit viel mehr Kindern nicht gewährleistet werden kann. Nun könnte man auf die einfache und naheliegende Schlussfolgerung kommen: Wenn es wirklich so ist, dass es den angeblichen Bedarf der Wirtschaft an dieser umfassenden Erweiterung des Angebotsspektrums gibt, dann kann man diese auch in Finanzierungsverantwortung nehmen. Was die Arbeitgeberseite natürlich prompt zurückgewiesen hat.

Dazu der Artikel „Schwesig plant 24-Stunden-Kitas. Handelsverband und Arbeitgeber loben neues Programm“, der in der Print-Ausgabe der FAZ vom 07.07.2015 veröffentlicht wurde. Darin wird beschrieben, dass sich Teile der Wirtschaft mit Wohlwollen auf den neuen Schwesig-Kurs setzen.

»Etwa im Einzelhandel: „Wir begrüßen diesen Schritt, denn er kommt den Bedürfnissen der Dienstleistungsbranchen entgegen, in denen flexible Arbeitszeiten zum Geschäft gehören“, sagte der Sprecher des Handelsverbands Deutschland, Kai Falk. Er verwies auch auf Überlegungen, die eine Arbeitsmarktkommission der CDU am Freitag veröffentlicht hatte: Sie regt eine weitere Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten an, um den klassischen Einzelhandel im Wettbewerb mit Online-Händlern zu stärken.«

Also auch noch am Sonntag, denn so muss man den letzten Passus verstehen. Aber die Wirtschaftsverbände haben sogleich auch Position bezogen dahingehend, dass „natürlich“ diese Angebote aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren wären. So wird die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mit den Worten zitiert, dass »sich Kita-Öffnungszeiten an den Bedürfnissen berufstätiger Eltern orientieren (sollten). Zugleich sei eine gute Kinderbetreuung als wichtige erste Stufe des Bildungssystems anzusehen und damit in erster Linie Staatsaufgabe, fügte die BDA hinzu.« Klar. Aber eine Übernacht-Betreuung ist irgendwie nicht sofort und unmittelbar in einen Zusammenhang zu bringen mit dem Bildungssystem. Aber man kann es ja mal versuchen und das geplante Modellprogramm der Ministerin Schwesig wird ja aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Gelinde gesagt: Das ist ein Irrweg, der nochmal teuer zu stehen kommen kann.

Auch Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft GEW hat sich – erfreulich deutlich – zu diesem „Phantom-Thema“ 24-Stunden-Kita geäußert – er lehnt die Initiative der Ministerin Manuela Schwesig ab, 24-Stunden-Kitas zu schaffen (dazu sein Beitrag Mehr Zeit für die Familien!):

»Solange in Fragen einer besseren Qualität aber keine Ergebnisse auf dem Tisch liegen, brauchen wir ein Moratorium gegen neue Programme und Modellversuche.
Eine Öffnung der Kitas an Wochenenden und über 21 Uhr hinaus setzt ein neues Konzept, mehr Personal, mehr Leitungsarbeit und eine deutlich veränderte Fachberatung voraus. Dafür werden die vorgesehenen 100 Millionen Euro wohl nicht ausreichen – also bliebe das Programm wieder nur Stückwerk.«

Und was läuft ab in „den“ Familien? Dazu ein Exkurs nicht in die Familien- und damit Kinderarmut oder andere auf den ersten Blick sozialpolitisch relevanten Themen:

»Die Angst vor einer gestörten Entwicklung der Kinder ist … kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem.« Das ist ein Satz aus einem wichtigen Artikel in Zeiten der zunehmenden Polarisierung von Familien und damit verbunden des Aufwachsens der Kinder und Jugendlichen. Vermessene Kindheit, so hat Boris Hänssler seinen Artikel überschrieben und seine Botschaft im Untertitel ist nicht neu, aber bedeutsam: »Eltern beobachten die Entwicklung ihrer Sprösslinge mit zunehmender Akribie und wachsendem Argwohn. Forscher aber warnen vorm Kontrollwahn.«

Er wirft einen ersten annähernden Blick auf die „Normalfamilie“:

»Ehe ein Kind seinen sechsten Geburtstag feiert, bekommt es mindestens zehn Vorsorge-Untersuchungen. Im zugehörigen Heft stellen Kurven das altersgerechte Gewicht und die Größe dar – mit Maximal- und Minimalwert, die sofort zeigen, ob das eigene Kind der Norm entspricht. Eltern erfahren in jährlichen Entwicklungsgesprächen mit Erziehern, ob der Sprössling auffallend schüchtern oder motorisch eingeschränkt ist. Vor dem ersten Schuljahr kommt dann noch die Schuleingangsuntersuchung. Wer drei Kinder hat, wird vor deren Einschulung insgesamt 45-mal von Erziehern, Lehrern und Ärzten darüber unterrichtet, wie die Kinder im Vergleich zu anderen abschneiden.«

Die Botschaft ist klar: Es gilt, etwas zu unternehmen, falls das Kind auffällt. Und das bringt in unseren Zeiten ganz neue Branchen und Produkte ins Spiel:

»Die App „BabyConnect“ zum Beispiel hält den Alltag der Kinder in Zahlen fest. Die typische Bilanz eines Tages lautet dann: Das Kind wurde achtmal gestillt und sechsmal gewickelt (dreimal war die Windel nass, einmal voll, zweimal beides). Das Kind war eine halbe Stunde fröhlich, es hat gelacht, weinte dreimal, krabbelte und rollte sich. Schlafphase, Größe, Gewicht, Kopfumfang, Körpertemperatur – alles landet in einer Timeline. Die App synchronisiert die Daten automatisch, sodass beide Eltern auf dem Laufenden sind.«

So manche Smartphone-Abhängige wird das freuen, ach was: begeistern. Und man kann den Ansatz konsequent ausbauen – ein Wesenselement des Kapitalismus, also auch der App-Economy, in der wir leben:

»Neuere Apps wie „Smart Parenting“ vergleichen die Babys sogar über eine Echtzeit-Datenbank mit dem Kindern anderer Nutzer. Gut ist, was die anderen auch noch nicht können.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das möglicherweise ein Problem ist einzelner Eltern und dass es solche – nun ja – Übertreibungen immer schon irgendwie gegeben hat. Damit sind wir wieder angelangt beim Eingangssatz dieses Beitrags, dass also die Angst vor einer gestörten Entwicklung der Kinder kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem sei.

Dazu braucht man Daten, die über den Einzelfall hinausgehen – und auch die liefert Hänssler in seinem Artikel. Wie wäre es damit:

»Laut Heilmittelbericht 2014 der Krankenkasse AOK haben die logopädischen Behandlungen bei vierjährigen Jungen deutlich zugenommen, jeder zweite ist in Therapie. Bei Mädchen sind es 12,8 Prozent. 125 von 1000 Jungen waren zudem schon beim Ergotherapeuten – bei den Mädchen 51. Offenbar entwickeln sich immer weniger Kinder normal.«

Dahinter steht das, was Ökonomen gut bekannt ist als „angebotsinduzierte Nachfrage“, die gerade im „Gesundheitswesen“ eine gewichtige Rolle spielt: „Je weiter wir Diagnosen ausweiten, desto mehr verbreiten wir Angst“, so wird der amerikanische Psychiater Peter D. Kramer zitiert. Wunderbar für die Geschäftsmodelle, die darauf aufbauen und den verunsicherten Eltern Geld aus der Tasche ziehen.

Allerdings mit perversen Nebeneffekten:

»Normale Kinder würden stigmatisiert und therapiert. Risiko-Kinder fielen trotzdem durch den Raster.«

Natürlich gibt es auch einen ganz normalen und keineswegs zu verurteilenden Bedarf an Diagnostik die Entwicklung des Kindes betreffend. Hier ist es aber eben auch wichtig zu wissen, was die gegebenen bzw. verwendeten Messverfahren leisten – und was nicht. Hänssler illustriert das in seinem Artikel an zwei Beispielen:

»Kinderärzte etwa müssen schon in den Vorsorgeuntersuchungen die sprachliche Entwicklung der Kinder einschätzen. Weist ein Kind im Alter von eineinhalb Jahren keinen Wortschatz von etwa 50 Wörtern auf, gilt es als Late-Talker. Die Hälfte dieser Late-Talker holt von selbst auf, die andere Hälfte nicht. Warum das so ist, wissen Forscher nicht. Das erschwert dem Arzt allerdings die subjektive Entscheidung, ob er eine Förderung empfehlen sollte. Immerhin können Kinder Defizite auch noch später, mit drei Jahren aufholen – falls sie denn erkannt werden.
Doch auch in Kindertagesstätten gibt es in der Sprachdiagnostik viel Frust. Das Mercator-Institut für Sprachförderung legte Ende 2013 eine ernüchternde Studie vor: Pädagogen und Sprachwissenschaftler der Universität Köln hatten 32 Qualitätskriterien für Sprachscreenings erarbeitet. Nur acht der 16 Verfahren in deutschen Kitas erfüllten mehr als die Hälfte der Kriterien. Die Kölner Forscher bemängelten auch hier, dass die Verfahren nicht objektiv seien. Je nach Bundesland und Verfahren gelten zwischen zehn und 50 Prozent der Kinder als auffällig.«

Keine beruhigenden Ergebnisse. Genauer: Verheerend ist es, wenn man solche Bilanzierungen zur Kenntnis nehmen muss:

»Geht es darum, die motorische Entwicklung zu beurteilen, sind die Verfahren noch schlechter. Etwa die Hälfte der geförderten Kinder bräuchte die Förderung gar nicht. Von den Kindern, die nicht gefördert werden, bräuchte wiederum die Hälfte eine Förderung.«

Lösungsvorschhläge? Da gibt es die Forderung nach mehr Fachpersonal in den Kitas. Wenn man immer mehr studierte Kindheitspädagogen in den Kitas bekommt, in deren Studiengänge auch die differenzierte Testdiagnostik behandelt wurde, dann könnte das zu einer Aufwertung der Einrichtungen führen. Nun gibt es nicht nur die kritischen Anmerkung, dass ja sogar – siehe oben – die noch besser dafür qualifizierten Experten oft scheitern(müssen), wenn die Diagnoseverfahren eine solche Streubreite haben. Auch seitens der Kinder- und Jugendmediziner wird gegen diesen Vorschlag Stellung bezogen:

»Der Düsseldorfer Arzt Hermann-Josef Kahl, Vorsitzender des Ausschusses für Prävention und Frühtherapie des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sagt: Dass generell zu viele Kinder therapiert würden, sei nicht Schuld der Ärzte. Eher stecke dahinter der Druck von Erzieherinnen, Lehrern und Logopäden in den Kitas. „Die Eltern nehmen lieber eine Therapie auf, als sich vorwerfen zu lassen, sie hätten etwas versäumt. Wir reden uns um Kopf und Kragen und schaffen es manchmal nicht, die Unruhe aus der Welt zu schaffen.“«

Irgendwie hat man das Gefühl, hier kommt man derzeit mit einer „besseren“ Zuordnung nicht weiter.
Vielleicht sollte man – bis was Handfestes vorliegt – mit dieser Empfehlung leben:
»Die amerikanische Erziehungspsychologin Jane Healy appelliert jedenfalls, mit der ständigen Vergleicherei aufzuhören. „Es gibt heute Eltern, die ihren Kindern am liebsten schon in der Gebärmutter Lernkarten hinhalten oder durch ein Stethoskop auf dem Bauch „buh buh“ rufen würden. Wir sind zu weit gegangen: Wir haben den Eltern das Gefühl gegeben, dass im Gehirn der Kinder ein großes Durcheinander herrscht, wenn etwas in den ersten drei Jahren schief läuft.“ Das sei völlig falsch: „Wenn Kinder eine Fähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entwickelt haben, können sie das später immer noch.“«

Kommen jetzt die 24-Stunden-Kita-Kombinate? Über ein gar nicht so neues Ferkel, das durchs Sommer-Dorf getrieben wird

Auf eines kann man sich verlassen – auf die Reflexe im politischen Raum, die Zuckungen und Wortsalven auslösen, nur weil man ein bestimmtes Reizwort vernommen hat. Und diese Schnellschuss-Reflexe funktionieren besonders gut, wenn es irgendwie um „die“ Familien geht und deren kleinen Kinder. Das haben wir erleben müssen im Vorfeld der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr und der parallelen Debatte über das so genannte „Betreuungsgeld“. Was für eine „Entweder-Oder-Debatte“. Der oftmals nur ideologisch, leider aber auch nicht selten lediglich parteipolitisch-strategisch inszenierte Kreuzzug für oder gegen irgendwas hat sich zwischenzeitlich wieder abgekühlt, momentan bieten sich andere Baustellen an, wo man seinen Emotionen freien Lauf lassen kann, beispielsweise die griechische Dauer-Tragödie.

Nun aber gibt es scheinbar wieder Stoff für diejenigen, deren Puls schon beim Normalfall einer Kita-Betreuung – in manchen Kreisen auch als „Fremdbetreuung“ semantisch klassifiziert – nach oben geht. Und eine Menge Vorurteile lassen sich aktivieren – so der Hinweis, dass die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) ja aus „dem Osten“ kommt und letztendlich die Welt der DDR in der Kinderbetreuung allen friedliebenden Mitbürgern in Deutschland überzustülpen gedenkt. Was hat sie wieder angerichtet? Alles begann mit dieser Meldung: Bund will Millionen in neue 24-Stunden-Kitas investieren, so die Überschrift eines Artikels, der in der „Freien Presse“ erscheinen ist. Alessandro Peduto berichtet darin von diesem Vorhaben: »In Kitas sollen Betreuungsangebote für die Abend- und Nachtstunden massiv ausgebaut werden. Das sehen Pläne von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vor. Ein entsprechendes Förderprogramm im Umfang von bis zu 100 Millionen Euro für 2016 bis 2018 will das Ministerium nach eigenen Angaben in Kürze auf den Weg bringen. Das Geld stammt aus zusätzlichen Investitionsmitteln des Bundes. Teil des Vorhabens sind sogenannte 24-Stunden-Kitas.«

„Für Menschen, die im Schichtdienst arbeiten – im Krankenhaus oder in der Pflege, als Polizisten oder im Einzelhandel – , ist es wichtig, dass es auch in sogenannten Randzeiten eine Möglichkeit gibt, die Kinder gut betreut zu wissen.“ Mit diesen Worten wird die Bundesfamilienministerin Schwesig zitiert. Hört sich erst einmal doch gang nachvollziehbar an. Den Plänen zufolge geht es nicht um eine längere Betreuung der Kinder, sondern um Angebote zu anderen Zeiten.

Das ist sofort von den Medien aufgegriffen worden: Familienministerium will mehr 24-Stunden-KitasRegierung plant 24-Stunden-Kitas oder der hier: Schwesig will 24-Stunden-Kitas fördern. In diesem Artikel findet man auch den Hinweis: In der Koalition gefällt das nicht jedem.
Es wird uns nicht wirklich überraschen, dass dazu an vorderster Front die CSU zu zählen ist, deren Vertreter sogleich in den Modus der Schnappatmung gewechselt sind:

Generalsekretär Andreas Scheuer sagte in München: „Staatlich verordnete 24-Stunden-Kitas – da schütteln alle den Kopf.“

Erde an München: Wie kommt man auf das Gerede von „staatlich verordneten 24-Stunden-Kitas?“ Das ist nun allerbilligste Propaganda, ausschließlich darauf gerichtet, dass die nachweislich falsche Botschaft mit hohem Erregungspotenzial beim Hörer oder Leser hängen bleibt und genau die Assoziationen ausgelöst werden, auf die am Anfang des Beitrags hingewiesen wurde: Die letztendlich immer noch „ostdeutsche“ Ministerin will das DDR-Kita-System über das Land ausbreiten. Auch auf Bayern, aber da – so die Botschaft – ist der bayerische Löwe vor. Wenn es nicht ein ernsthaftes Thema wäre, könnte man jetzt ein LOL markieren („Laughing Out Loud“) und sich wieder anderen Dingen widmen. Aber so einfach wollen wir es uns dann doch nicht machen.

Da wäre zum einen dieser Hinweis: Auch die CDU – und aufgepasst: gemeinsam mit der CSU – sind mit ähnlichen Versprechen in den Bundestagswahlkampf 2013 gezogen:

»Wir treiben den Ausbau von Kindertagesstätten weiter entschlossen voran. Auch am Ausbau der Kinderbetreu­ung wollen wir gemeinsam mit Ländern, Städten und Ge­meinden weiterarbeiten. Dazu gehört beispielsweise auch, 24­-Stunden­-Kitas und andere flexible Betreuungs­angebote einzurichten, um Eltern mit wechselnden Ar­beitszeiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu er­ leichtern.«

Diesen Passus findet man auf der Seite 39 des Wahlprogramms der Unionsparteien 2013 (damals schon ganz unprätentiös Regierungsprogramm 2013-2017 in Vorwegnahme des siegreichen Abschneidens bei der Bundestagswahl 2013 genannt). Schön und gefährlich zugleich, dass man in den heutigen Zeiten der Digitalisierung alles so schnell wiederfinden kann, wenn man es ordentlich abspeichert.

Nun kann man durchaus argumentieren, die Versprechungen in einem Wahlprogramm sind – nun ja – eben Inaussichtstellungen einer möglichen Möglichkeit, wenn …

Und die Bundesfamilienministerin bekommt durchaus auch Unterstützung und nicht nur angebliches Kopfschütteln von allen Seiten. Beispielsweise kommentiert Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Warum 24-Stunden-Kitas notwendig sind: »Familienministerin Schwesig will mehr Geld in 24-Stunden-Kitas investieren. Das ist überfällig.« Und warum? Denkler versucht es lebenspraktisch:

»Das Problem kennen viele in dieser oder ähnlicher Form: Er auf Montage im Ausland, sie Nachtschicht auf der Intensivstation. Die Kinder zwei und vier Jahre alt. Oma und Opa leben weit weg, die Freunde winken inzwischen ab, wenn die Kinder mal wieder einen Schlafplatz brauchen. Babysitter? Zu teuer für das trotz Doppel-Einkommen schmale Budget.
Entweder einer von beiden schmeißt den Job hin. Oder die Kita bleibt über Nacht auf. Der Bedarf ist da. Wenn er auch nicht immens sein dürfte. In jeder mittleren Stadt dürften ein oder zwei Kitas mit Nachtbetreuung reichen, um die größte Not zu lindern.«

Das klingt irgendwie plausibel. Lebensnah halt. Aber lesen wir weiter. Der folgende Passus sollte zum Nachdenken anregen – und nicht zur sofortigen Zustimmung:

»Die Frage ist längst nicht mehr, ob 24-Stunden-Kitas pädagogisch wertvoll sind oder nicht. Sie sind schlicht notwendig. Der Arbeitsmarkt verlangt heute maximale Mobilität und Einsatzbereitschaft. In der Nacht genauso wie an Wochenenden. Und das oft zu viel zu niedrigen Löhnen.
Viele Familien brauchen das zweite Einkommen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Und nicht zu vergessen: Immer mehr Frauen wollen sich nicht länger auf die Nur-Mutter-Rolle reduzieren lassen.«

Das nun wieder wird eine Kritiklinie öffnen, die sich nicht speist aus einer generellen und letztendlich tradierten Ablehnung der „Fremdbetreuung“ der Kinder in Kindertageseinrichtungen, sondern aus einer Skepsis gegenüber der Unterwerfung von Familien mit kleinen Kindern unter die Nutzungsbedingungen eines Arbeitsmarktes, der die Anforderungen, die Kinder nun mal mit sich bringen, externalisiert an die Familien und zu deren Problem definiert, das dann wiederum der Staat jetzt „lösen“ helfen soll.

Aber zurück zu der wohlwollenden Kommentierung der Ankündigung von Schwesig: Nicht umsonst greift Denkler auf die Figur des Schichtarbeiters zurück. Auf diese Personengruppe bezieht sich eine lange Traditionslinie der Debatte über das Für und Wider einer 24-Stunden-Kita. Beispielsweise in den Artikel Wenn Mama zur Nachtschicht muss von Lisa Erdmann aus dem Juni 2012: »… richtig kompliziert wird es für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten – und das werden immer mehr. Wohin mit den Kindern morgens um fünf oder abends um zehn? In die 24-Stunden-Kita. Die wenigen, die es gibt, können sich vor Anfragen kaum retten.« Sie berichtet dann beispielhaft aus einer real existierenden 24-Stunden-Kita, die immer wieder als Aushängeschild für diese Spezies herhalten muss: Es geht um die Kita „nidulus/nidulus duo“ in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Lisa Erdmann berichtete 2012 in ihrem Artikel:

»Rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr betreuen die zwölf Erzieher 58 Kinder im Alter von drei Monaten bis zur Einschulung. „Alle unsere Eltern arbeiten im Schichtdienst“, erklärt Grit Brinkmann, 41, Leiterin der Kita. „Ärzte, Feuerwehr, Polizei, Krankenschwestern. Wir prüfen jeden Einzelfall genau.“ Die Kita kann sich vor Anfragen kaum retten, berichtet Brinkmann.«

Und dann kommt auch bei ihr ein primär bzw. ausschließlich arbeitsmarktpolitisches Argument für die 24-Stunden-Kitas:

„Der Trend geht in Richtung individualisierte Arbeitszeit“, sagt der Frankfurter Sozialforscher Harald Seehausen. Im Einzelhandel etwa, wo der Supermarkt um die Ecke sogar samstags bis 22 Uhr geöffnet hat. „Kita-Öffnungszeiten von 8 bis 16 Uhr? Das geht heute eigentlich gar nicht mehr.“ Seehausen prognostiziert einen steigenden Bedarf an 24-Stunden-Angeboten. „Als Folge der Globalisierung werden wir vor allem im Dienstleistungsbereich noch ausgedehntere Arbeitszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Einsatz sehen.“

Also auch hier eine Anpassung an die sich verändernden Verwertungsbedingungen des Kapitals, die man eben bringen und deshalb auch organisieren müsse?

Aber man kann noch weiter zurückgehen. Im April 2007 wurde in der Frauenzeitschrift „Brigitte“ unter der lapidaren Überschrift Die 24-Stunden-Kita ein Artikel veröffentlicht, der auch damals schon einen großen Bedarf in den Raum gestellt hat: »Während Koalition und Kirchenvertreter noch darüber streiten, ob der Ausbau der Krippenplätze moralisch vertretbar ist, geht eine Kita in Brandenburg schon viel weiter: Seit 2003 bietet der Verein „Schnatterenten“ aus Schwedt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung an. Mit Erfolg: Die Eltern sind begeistert, die Kinder zufrieden, die Wartelisten lang.«

Oder wie wäre es damit? „Kinderhotels und mehr – Mosaiksteine einer vielfältigen Betreuungslandschaft“, so ist ein Artikel von mir überschrieben, der im Heft 7/2005 (S. 24-26) der Fachzeitschrift „Theorie und Praxis der Sozialpädagogik“ veröffentlicht worden ist und in dem ich einige damals bekannte Ausformungen der Rund-um-die-Uhr-Betreuung skizziert habe.

Was diese Hinweise andeuten sollen – es handelt sich um nichts neues, sondern ganz offensichtlich gibt es a) die Debatte über die „24-Stunden-Kitas“ schon seit vielen Jahren, b) wurde schon immer ein großer Bedarf postuliert, der durch die vorhandenen Angebote aber nicht gedeckt werden kann und c) ist trotz dieses angeblich sehr großen Bedarfs bislang überschaubar wenig passiert, denn neben der immer wieder gerne zitierten Schweriner Kita gibt es auch noch in anderen größeren Städten wie Berlin, Hamburg oder Dresden vergleichbare Angebote, die sich allerdings an wenigen Fingern abzählen lassen.

Anfang Juni 2015 gab es im Tagesspiegel den Versuch, nach den Ursachen für diese offensichtliche Diskrepanz zu suchen: »Politiker fordern längere Öffnungszeiten für Kitas – sogar bis zu 24 Stunden. Doch Versuche zeigen: Die Hemmschwelle ist oft hoch«, schreibt Sylvia Vogt in ihrem Artikel 24-Stunden-Kita: Späti für die Kleinen. Ausgangspunkt ist auch in Berlin eine – erneute – Debatte über den angeblichen Bedarf an einer deutlichen zeitlichen Ausweitung der Betreuungsangebote. Aber dann wird viel Wasser in den möglichen Wein gegossen, denn Vogt gelangt zu folgender Einschätzung:

»Ob … eine 24-Stunden-Kita kommt, darf bezweifelt werden. Denn solche Versuche gab es schon in Berlin, doch sie sind wieder eingestellt worden – aufgrund mangelnder Nachfrage, wie die Senatsjugendverwaltung mitteilt. Auch in Teltow, wo es seit einiger Zeit eine solche Einrichtung gibt, wird das Angebot kaum genutzt, wie kürzlich bekannt wurde. „Es hat sich nicht gerechnet“, sagt Regine Schallenberg-Diekmann, pädagogische Geschäftsführerin beim Träger Ina-Kindergärten, der von 2008 bis 2011 eine Rund-um-die-Uhr-Kita an der Charité betrieb. Zunächst sei die Kita als Modellprojekt von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt worden, doch nachdem diese Gelder ausliefen, habe man nur noch ein Jahr durchhalten können.«

Landeselternsprecher Norman Heise zweifelt ebenfalls an der Umsetzbarkeit einer 24-Stunden-Kita, können wir dem Artikel entnehmen. Und er eröffnet eine – scheinbare – Alternative, die es jetzt schon geben würde: der ergänzenden Tagespflege. Aber immer diese Aber:

»Ergänzende Tagespflege, das sind Tagesmütter und -väter oder auch andere Personen, die Kinder außerhalb der Kitazeiten betreuen, wenn die Eltern den Bedarf nachweisen. Die Eltern können sich selbst eine geeignete Person suchen, manchmal helfen die Jugendämter bei der Vermittlung. Allerdings ist die Bezahlung schlecht: Das Jugendamt zahlt nur rund fünf Euro pro Stunde. Zwar soll der Satz bis 2017 auf 8,50 Euro erhöht werden, teilte die Jugendverwaltung mit. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass bisher nur die Eltern von 505 Kindern in Berlin das Angebot wahrnehmen.«

Hinzu kommt, aber das wäre wieder ein eigenes Thema für einen längeren Beitrag: Die Stundensätze in der Kindertagespflege sind kalkuliert im Grunde auf der Basis einer Vollauslastung (also möglichst fünf Kinder und die dann gute acht Stunden pro Tag, an fünf Tagen pro Woche. Wenn aber Kindertagespflegepersonen ein Angebot machen sollen, das beispielsweise bis in den späten Abend oder sogar über die Nacht reichen soll, dann wird das sicher nicht gleichzeitig vier oder fünf Kindern betreffen. Und die Betreuung eines einzigen Kindes zu den Bedingungen ist nun wirklich nicht attraktiv.

Da wären wir auch bei einem weiteren überaus wirksamen Hemmnis für eine Ausbreitung der „24-Stunden-Kitas“. Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass das eine teure Sache werden würde, wenn man nur die minimal erforderlichen Personalschlüssel realisiert, die man braucht, um nicht in die Zone der Kindeswohlgefährdung abzurutschen. Und das, weil Lidl & Co. immer länger ihre Geschäfte aufmachen? Weil mehr Schichtarbeit anfällt, mehr Wochenendarbeit und generell eine kontinuierliche Beschleunigung der Zeitanforderungen (und das dann auch noch vor allem in eher sehr schlecht bezahlten Frauenberufen)? Müsste man dann nicht auf die naheliegende Idee kommen, eine Umlagefinanzierung dieser zusätzlichen Angebote über die Unternehmen einzufordern? Warum sollte diese sehr teure und über die normale Grundversorgung mit einer familienergänzenden und -entlastenden Betreuung vom Steuerzahler oder gar von den betroffenen Arbeitnehmern selbst finanziert werden?

Und wenn wir schon beim Personal sind: Wir erreichen doch derzeit noch nicht einmal im Bereich der Regelversorgung, also bei der ganz normalen Kita-Betreuung tagsüber, die aus fachlicher Sicht notwendigen Personal- und daraus abgeleitet (besonders wichtig) Fachkraft-Kind-Schlüssel. Wenn man dann ein 24-Stunden-Angebot macht, müsste man zudem besondere, also zusätzliche Ressourcenanforderungen stellen, allein schon aufgrund der Ausnahmesituation, die das für viele Kinder darstellen würde. Gleichzeitig wird man kaum eine Vollauslastung hinbekommen, so dass Leerkosten mitfinanziert werden müssten.

Das sind alles fachlich-ökonomisch hergeleitete Zweifel, dass außer der Ankündigung eines neuen Programms und der Einweihung von zwei oder drei Programm-„Leuchttürmen“ irgendwas substanziell geschehen wird, ohne dass deshalb der Ansatz einer 24-Stunden-Kita für ganz bestimmte, allerdings sehr eng gefasste Fallkonstellationen grundsätzlich verworfen wird. Man ist geneigt, zum einen der Politik zuzurufen: Macht erst einmal eure Hausaufgaben bei den ganz normalen Kitas und dem, was die immer jüngeren Kinder, die tagsüber immer länger in den Einrichtungen bleiben (müssen), brauchen.

Und denjenigen, die jetzt die Lufthoheit über den Stammtischen anstreben und von – bei der Ministerin „natürlich“ DDR-infizierten – Kita-Kombinaten und einer Zwangskollektivierung der deutschen Kleinkinder fabulieren, den sei ins Stammbuch geschrieben: Wir haben mehr als 50.000 Kindertageseinrichtungen in Deutschland und auch nach dem Programm der Frau Ministerin werden es eine Handvoll 24-Stunden-Kitas sein. Regt euch wieder ab. Die Verhältnisse werden es schon richten. Und die DDR ist definitiv verstorben.

Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften

Auch wenn es mit Blick auf die Sozial- und Erziehungsdienste unangebracht erscheint, sei dieser Beitrag dennoch mit einer der zentralen strategischen Weisheiten aus dem Militärwesen eröffnet. Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Was passieren kann, wenn man sich daran nicht hält, mussten wir gerade in der jüngeren Vergangenheit an mehreren Stellen auf dieser Welt zu Kenntnis nehmen. Letztendlich trifft diese grundlegende strategische Weisheit auch und gerade auf Arbeitskämpfe zu, mit deren Hilfe ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll und bei denen es sich nicht um irgendwelche Verzweiflungsaktionen handelt.  Man muss davon ausgehen, dass diese Überlegungen auch im Vorfeld des unbefristeten Streiks der Beschäftigten in den kommunalen Sozial- und Erziehungsdiensten, vor allem in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, von den Gewerkschaften Verdi und die GEW angestellt und mit der notwendigen Sorgfalt abgewogen worden sind.

Dabei stellen sich von außen betrachtet zwei grundsätzliche Fragen: Ist die Streikbereitschaft der organisierten Beschäftigten, vor allem der Erzieherinnen in den Kitas, ausreichend vorhanden, um nicht nur einen Warnstreik von ein oder zwei Tagen durchzuführen, sondern eben in eine unbefristete Auseinandersetzung zu gehen, die erfahrungsgemäß eine ganz andere Qualität entfaltet, je länger sie andauert. Ich muss zugeben, dass ich genau an dieser Stelle im Vorfeld des Streiks erhebliche Fragezeichen gesetzt habe. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob die Erzieherinnen zu einem größeren Arbeitskampf bereit und in der Lage wären. Aber gerne gebe ich zu, dass ich die Motivation und die dann auch tatsächlich erkennbare Streikleistung Beschäftigten unterschätzt habe. Hinzu kommt allerdings eine zweite grundsätzliche strategische Frage, über die man sich im Vorfeld einer solchen Aktion klar sein muss: Besteht eine realistische Chance, die Arbeitgeberseite durch den Arbeitskampf dermaßen unter Druck zu setzen, dass man die – sicher nicht alle – eigenen Forderungen in einem substanziellen Umfang wird durchsetzen können oder aber gibt es spezifische Bedingungen, die eine solche Wahrscheinlichkeit eher gegen Null gehen lassen, was dann erhebliche Auswirkungen hätte auf die Frage, ob man seine eigenen Leute in eine solche Schlacht führt, die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in einer Niederlage enden muss.

Und an dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass die Konstellation beim unbefristeten Streik der  kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste in mehrfacher Hinsicht als überaus komplex zu charakterisieren ist, um das noch freundlich auszudrücken.  Denn es handelt sich beim aktuellen Tarifkonflikt nicht um eine „klassische“ Tarifauseinandersetzung, in der um mehr oder weniger Prozente gestritten wird. Denn der TVöD – Sozial- und Erziehungsdienst (TVöD – SuE) in seiner bestehenden Form läuft noch bis zum 29.02.2016. Anders ausgedrückt: Im Frühjahr des kommenden Jahres wird es erneut normale Tarifverhandlungen über die Vergütung geben. Denn die Anhebung um +2,4 Prozent zum 01.03.2015 ist die zweite Stufe des Abschlusses der Tarifrunde 2014, die eine Entgelterhöhung in 2 Stufen gebracht hat: Zum 01.03.2014: + 3,0 Prozent mindestens aber 90 €. Und eine zweite Erhöhung, zum 01.03.2015, um + 2,4 Prozent. Im kommenden Jahr gibt es also die nächste Tarifrunde.

Hintergrundinformation zum TVöD – SUE: Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) gilt seit dem 1. Oktober 2005 für alle Beschäftigten beim Bund und bei den Kommunen. Er hat den bis dahin geltenden BAT abgelöst. Im Juli 2009 haben sich die Gewerkschaften und die kommunalen Arbeitgeber nach einer langwierigen Tarifauseinandersetzug mit ersten größeren Arbeitskampfaktionen darauf geeinigt,  für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst eine neue Entgeltordnung und eine eigene Entgelttabelle zu schaffen. Darüber hinaus wurden Vereinbarungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung getroffen.

Offensichtlich geht es beim aktuellen Streit um etwas anderes. Die Gewerkschaften belegen das, worum es hier geht, mit dem Begriff und zugleich dem Ziel „Aufwerten“. Die Beschäftigten sollen besser vergütet werden, aber nicht durch „normale“ prozentuale Anhebungen dessen, was sie im bestehenden System verdienen, sondern durch eine Anhebung der Eingruppierung der Beschäftigten. Wenn also eine Erzieherin derzeit in der Entgeltgruppe S 6 eingruppiert ist, dann soll sie – so der Ansatz der Forderung – in Zukunft mehrere Gruppen höher gehoben werden. Beim „Aufwerten“ geht es also zum einen um eine höhere Eingruppierung der Fachkräfte wie auch um eine Anpassung und Modernisierung der Tätigkeitsmerkmale, die den einzelnen Gruppen zugeordnet sind und die angesichts der rasanten Entwicklung und Veränderung der pädagogischen Arbeit nicht mehr zeitgemäß sind.

Zugleich haben nicht nur die Beschäftigten in den kommunalen Kindertageseinrichtungen gestreikt, sondern auch beispielsweise Sozialarbeiter aus den Jugendämtern oder Fachkräfte aus den Einrichtungen der Behindertenhilfe – aber davon hat die Öffentlichkeit so gut wie gar nichts mitbekommen, wenn, dann wurde immer über den „Kita-Streik“ gesprochen und berichtet.

Grundsätzlich gab und gibt es in der breiten Öffentlichkeit ein großes Verständnis für die Forderung, dass gerade die pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser gestellt werden sollten. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der Diskussion in den zurückliegenden Jahren über den Ausbau der Kindertagesbetreuung, vor allem für die Kinder unter drei Jahren. Außerdem ist es immer deutlicher geworden, welche veränderte Bedeutung den Kindertageseinrichtungen eben nicht nur als Betreuungseinrichtungen, sondern auch als eine wichtige Städte der Erziehung und Bildung der Kinder in einem überaus sensiblen Altersrahmen zukommt. Also insgesamt eine so gesehen ganz gute Voraussetzung für die Durchsetzung einer realen Aufwertung, also eine, die sich in der Eingruppierung niederschlagen müsste.

Aber schon ein erster Blick auf die Gegenseite kann verdeutlichen, dass wir es hiermit eine überaus schwierigen Gefechtslage zu tun haben. Es handelt sich bei den kommunalen Arbeitgebern eben nicht um „normale“ Unternehmen, die bei einem Streit ihrer Beschäftigten sofort und unmittelbar von den Folgen betroffen wären in Form von Produktions- und damit Einnahmeausfällen. Wenn beispielsweise die IG-Metall die großen Automobilhersteller bestreiken würde, dann würden Tag für Tag Schäden in Millionenhöhe für das Unternehmen entstehen und damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein enormes Druckpotenzial gegenüber dem Arbeitgeber.

Bei den kommunalen Arbeitgeber im Bereich der Kindertageseinrichtungen sieht es hingegen völlig anders aus. Man kann es sogar zuspitzen: Wenn die Kitas bestreikt werden, dann hat die Kommune keinen monetären Verlust zu beklagen, sondern – wie in vielen Kommunen auch beobachtet werden muss – man spart sogar Geld, da man während des Streiks keine Personalausgaben für die streikenden Erzieherinnen hat. Das ist ein strukturelles, ein systematisches Problem, wenn wir über Streiks in personenbezogenen Dienstleistungsbereichen reden, die nicht so aufgestellt sind wie „normale“ Unternehmen. In der gleichen Dilemma-Situation befindet sich übrigens auch die Pflege. Die Gewerkschaften Verdi und GEW haben also nicht die kommunalen Arbeitgeber direkt bestreiten können, sondern gleichsam deren „Kunden“, also die Eltern und ihre Kinder. Letztendlich muss man angesichts dieser Konstellation darauf hoffen, dass der Druck, der auf der „Kundenseite“ aufgebaut wird, gleichsam über Bande gespielt an den kommunalen Arbeitgeber weitergereicht wird. Es ist müßig, dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum es so war und ob es anders hätte sein können: Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass in den Wochen des unbefristeten Streiks der Erzieherinnen es nicht gelungen ist, die Wut und die zunehmende Verzweiflung der betroffenen Eltern  gegen die kommunalen Arbeitgeber zu richten, sondern die Berichterstattung und damit auch große Teile der öffentlichen Wahrnehmung verengten die Perspektive auf eine angebliche „Schuld“ der streikenden Fachkräfte in den Einrichtungen.

In den ersten Wochen des Arbeitskampfes kam von Seiten der Arbeitgeber – nichts. Sie sind einfach auf Tauchstation gegangen und haben die Entwicklung laufen lassen. Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie sich darauf verlassen, dass die Medienmaschinerie ab einem bestimmten Zeitpunkt, also dann, wenn die überaus schmerzhaften Folgen eines lang andauernden Streiks für Eltern sichtbar werden, mit vollem Einsatz über die Folgen für die betroffenen Eltern berichten wird und die Stimmung zu kippen droht. Darüber hinaus gibt es aber auch strukturelle Gründe, dass die Kommunen mit einem Totstell-Reflex reagiert haben.
Dazu gehört zum einen die Tatsache, dass die Kommunen jede Verbesserung hinsichtlich der Vergütung der Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen (sowie den anderen Einrichtungen, die aber kaum Beachtung finden) sofort und unmittelbar in ihren Haushalten zu spüren bekommen denn aufgrund der spezifischen Finanzierungsstrukturen im System der Kindertagesbetreuung sind die Kommunen nun mal der Hauptkostenträger in diesem Bereich. Das an sich ist schon ein schweres Argument, sich die Forderung zu verweigern.

Hinzu kommt allerdings ein weiterer Tatbestand: Wie gesagt, es geht bei diesem Tarifkonflikt nicht um eine „normale“ Erhöhung der Tarife, sondern um eine neue Systematik der Eingruppierung im Sinne einer von den Gewerkschaften angestrebten Höhergruppierung der Beschäftigten. Den Kommunen war und ist klar, dass wenn sie den Erzieherinnen und dem anderen Personal in den Kindertageseinrichtungen mit einer entsprechenden Aufwertung entgegenkommen würden, dass dann das gesamte Tarifgefüge im kommunalen Dienst ins Rutschen kommen könnte bzw. wird. Denn natürlich würden die anderen Beschäftigtengruppen dies zum Anlass nehmen, ebenfalls eine entsprechende höhere Bewertung ihrer Tätigkeiten zu verlangen.

Für die Gewerkschaften erschwerend kommt der Tatbestand hinzu, dass sich der Ausstand ausschließlich auf die kommunalen Kindertageseinrichtungen beziehen kann, diese aber nur noch eine Minderheit der Kita-Plätze überhaupt anbieten, denn der größte Teil befindet sich in Hand der so genannten freien Träger, vor allem bei den kirchlichen Trägern. Und die Beschäftigten dort unterliegen einem Streikverbot, d.h., auch wenn sie wollten, können sie gar nicht in einen Arbeitskampf gehen.

Insofern – und darauf habe ich frühzeitig und immer wieder hingewiesen – kann und wird es eine im Sinne der Beschäftigten substantiell positive Lösung dieses Problems nur geben können, wenn die Finanzierungsfrage angegangen und gelöst wird, also die derzeit gegebene völlig verzerrte Kosten-Nutzen-Verteilung vom Kopf auf die Füße gestellt wird, in dem der Bund endlich in umfängliche Art und Weise in die Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (und der Kindertagespflege) eingebunden wird. Nur dann bekommen die Kommunen die notwendigen finanziellen Freiheitsgrade, um zum einen die Vergütung der pädagogischen Fachkräfte erkennbar anzuheben und gleichzeitig auch die mindestens, wenn nicht noch deutlich wichtigere Aufgabe einer Verbesserung der Personalschlüssel anzugehen.

Vor diesem Hintergrund musste es so kommen, wie es gekommen ist. Der Streik wurde ausgesetzt, um in ein Schlichtungsverfahren einzusteigen. Und die Schlichter haben eine Empfehlung abgegeben, die – auch wenn man sich etwas anderes wünschen würde – eine mehr als schwere Kost für das Gewerkschaftslager darstellt. Die angestrebte systematische Aufwertung wird nicht stattfinden, stattdessen gibt es eine Erhöhung der Geldbeträge in einem Korridor von 2 – 4,5 Prozent, aber in der bestehenden Vergütungsstruktur bzw. die überaus pragmatischen Schlichter schlagen vor, die etwas angehobenen Beträge in der Vergütungsgruppe S 6 einfach mit einem neuen Etikett zu versehen, auf dem jetzt S 8a steht, so dass man der geneigten Öffentlichkeit eine „Aufwertung“ symbolhaft verkaufen kann.

Ds wird auch an anderer Stelle kritisch gesehen. In einem Kommentar schreibt Detlef Esslinger unter der mehr als deutlichen Überschrift Ruhigstellung für die Alten – kaum Verbesserungen für die Jungen: »Der Schlichterspruch ist schwach; eine Perspektive für Angestellte im Sozial- und Erziehungsdienst fehlt nach wie vor.« Und weiter:

»Man muss sich nur mal anschauen, was das Ergebnis der Schlichtung ist. Bei den Kinderpflegern: Die Jüngsten bekommen 61 Euro mehr, die Ältesten jedoch 110 Euro. Bei den Erzieherinnen: 55 Euro mehr für die Jüngsten, doch 161 Euro mehr für die Ältesten. Ach je. Auch bei Tarifkonflikten gibt es offensichtlich einen Unterschied zwischen den Argumenten, mit denen die Öffentlichkeit gewonnen werden soll – und jenen, die am Ende wirklich zählen. Wäre tatsächlich die leichtere Rekrutierung von Nachwuchs das Kernanliegen von Verdi und Co., hätten die Gewerkschaften besonders auf Verbesserungen für die Jüngeren bestanden. Wäre es ihnen um die Qualifizierung des Personals für neue Aufgaben gegangen, hätten sie eine Verknüpfung von höherer Bezahlung und Teilnahme an Fortbildung angestrebt …  So endet dieser Konflikt mit einer Ruhigstellung: nämlich derjenigen älteren Aktivisten, die das Gros der Mitglieder, also auch der Streikenden stellen.«

Nun muss man allerdings einschränkend anmerken, dass es sich bislang nur um eine Empfehlung der Schlichter handelt, die von beiden Seiten angenommen und entsprechend vertraglich umgesetzt werden muss. Und es ist klar, dass die Kröte, die die Gewerkschaft zeitlicher schlucken muss, für nicht wenige Mitglieder zu groß ist. Insofern besteht ein erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der Gewerkschaften, ob man diesen Schlichtungsspruch akzeptieren soll. Aus Sicht der Führungsebene beider Gewerkschaften besteht daran aber gar kein Zweifel mehr, man muss seine Bodentruppen jetzt nur in diese Richtung bewegen. Denn eine Ablehnung würde bedeuten, dass man erneut in den Arbeitskampf ziehen müsste, und ganz offensichtlich hat die Führungsebene kalte Füße bekommen, was die Zielerreichungswahrscheinlichkeit in diesem Konflikt angeht.

Auch wenn es immer so schön heißt, dass man hinterher schlauer ist, muss an dieser Stelle doch der Hinweis darauf gegeben werden, dass man angesichts der beschriebenen überaus schwierigen Konstellationen bereits vorher zu der Erkenntnis hätte kommen können, dass man sich diesen Arbeitskampf wirklich mehrmals überlegen sollte.

Bei der Streikdelegiertenversammlung der Gewerkschaft Verdi hat es erwartbar viel Unmut und wohl auch Ablehnung gegeben. Die Reaktion darauf ist organisationspolitisch rational: Man lässt jetzt alle abstimmen und damit die sich mit der Sache vertraut machen können, wird jetzt erst einmal vier Wochen diskutiert und abgestimmt. Und dann muss man wissen, dass für eine Annahme des Schlichtungsergebnisses eine Zustimmung von 25 Prozent ausreichen würde.

Ein Bestandteil des Schlichterspruchs ist besonders perfide für die Gewerkschaften: Gemeint ist hier die vorgesehene Laufzeit von fünf langen Jahren. In dieser Zeit würde dann also an der Front der Eingruppierungssystematik Ruhe herrschen. Und wenn man ganz schlecht drauf ist, dann kann man hinsichtlich der im Schlichtungsspruch enthaltenden Erhöhungen der Tarife (die allerdings nicht für alle Beschäftigtengruppen, sondern nur für einige) auch dadurch weiter relativieren, dass man ein Szenario an die Wand wirft, das so aussieht:  Im nächsten Frühjahr, wenn die nächste normale Tarifrunde ansteht, werden die kommunalen Arbeitgeber versuchen, einen Teil der jetzigen Erhöhungen durch eine entsprechende Dämpfung bei der dann zugestandenen Erhöhung  für alle kommunal Beschäftigten wieder zurückzuholen. Aber das ist natürlich nur ein Szenario.