Ein Lehrbuchbeispiel für das Verheddern der Bürokratie: Man will die Sozialgerichte entlasten und legt sie im Ergebnis lahm und weite Teile der Versorgung von Schlaganfallpatienten fallen dem Minutendiktat zum Opfer

Jedes Jahr erleiden bundesweit rund 200.000 Menschen eine Apoplexie, auch als Schlaganfall bekannt, ausgelöst durch eine Störung der Blutversorgung im Gehirn. Bei etwa einem Drittel der Patienten bleiben dauerhaft Schäden zurück, darunter Lähmungen, Koordinationsstörungen oder kognitive Einschränkungen. Wichtig ist deshalb in der Akutsituation schnell und richtig zu handeln. Das ist völlig unstrittig.

Erleidet ein Patient einen Schlaganfall, dann muss er innerhalb von 30 Minuten in eine Spezialklinik eingeliefert werden, so die entsprechende gesetzliche Regelung. Dafür bekommt das abgebende Krankenhaus eine entsprechende Vergütung von den Krankenkassen. Das hört sich eindeutiger an, als es offensichtlich ist. Man muss kein Jurist sein um zu erkennen, dass in der Vorgabe „eine halbe Stunde“ eine Menge Konfliktstoff liegen kann, wenn nicht eindeutig klar ist, wann diese halbe Stunde beginnt und wann sie aufhört. Eine erst einmal unbestimmte Zeitvorgabe, die der Konkretisierung bedarf.

Bislang erhielten die beteiligten Krankenhäuser eine Vergütung, wenn die Zeit zwischen Beginn und Ende eines Rettungstransports 30 Minuten nicht überschritt. Aber im Juni 2018 hat das Bundessozialgericht (BSG) dieser Abgrenzung ein Ende bereitet. Dem BSG zufolge beginnt die Frist nunmehr mit der Entscheidung des behandelnden Arztes zur Verlegung in eine Neurochirurgie und endet mit der Übergabe an die Ärzte dieser Abteilung. Das hat enorme Folgen.

Hintergrund dieser Änderung der Strukturvorgaben im Bereich der Schlaganfallversorgung waren zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 19.06.2018, zum einen BSG, B 1 KR 38/17 R sowie BSG, B 1 KR 39/17 R. In der Terminvorschau Nr. 28/18 vom 15. Juni 2018 berichtet das BSG zum Hintergrund der beiden Entscheidungen:

»Die klagende Krankenhausträgerin unterhält in Daun/Eifel eine auf die Behandlung des akuten Schlaganfalls spezialisierte Einheit. Dort behandelte Schlaganfallpatienten werden zur Durchführung neurochirurgischer Notfalleingriffe sowie gefäßchirurgischer und interventionell-neuroradiologischer Behandlungsmaßnahmen mit dem Rettungshubschrauber in ein kooperierendes Trierer Krankenhaus verlegt. Die Klägerin kodierte bei Versicherten der beiden beklagten KKn, bei denen im Jahr 2014 eine vollstationäre Behandlung in der spezialisierten Einheit erfolgte, jeweils OPS 8-98b (Operationen- und Prozedurenschlüssel 2014; Andere neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) und berechnete dementsprechend die Fallpauschalen B69C, B70C und B70D. Die Beklagten meinten, die Klägerin habe zu Unrecht OPS 8-98b kodiert. Sie erfülle nicht das Strukturmerkmal der grundsätzlich höchstens „halbstündige(n) Transportentfernung“ zum Kooperationspartner und habe nur Anspruch auf geringer vergütete Fallpauschalen.«

Das BSG hat sich der Interpretation der Krankenkassen angeschlossen und eine sehr enge Auslegung der „halben Stunde“ gesetzt. Das hat nun massive Folgen, zum einen natürlich – es geht hier um eine Menge Geld – betriebswirtschaftlicher Natur für die betroffenen Krankenhäuser, zum anderen für die Schlaganfallversorgung insgesamt. Und drittens, wie wir gleich sehen werden, für die Sozialgerichtsbarkeit.

Am 14. September 2018 berichtete das Deutsche Ärzteblatt über massive Kritik seitens der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) unter der Überschrift Warnung vor Zerschlagung der Behandlungs­strukturen bei Schlaganfall­versorgung. Mit Blick auf die enge Fristsetzung durch die beiden Entscheidungen des BSG wird Gerald Gaß, der Präsident der DKG, mit diesen Worten zitiert: „Eine solche Fristsetzung führt in der praktischen Anwendung dazu, dass die Komplexbehandlung des Schlaganfalls nur noch in den Kliniken durchgeführt werden kann, die selbst über eine neurochirurgische Abteilung verfügen“.

Die hinsichtlich der einzelnen Kliniken zu erwartenden betriebswirtschaftlichen und die damit zusammenhängenden strukturellen Folgen für die Schlaganfallversorgung insgesamt werden von der DKG so beschrieben:

„Für die betroffenen Häuser würde das einen Erlösverlust von einem Drittel bedeuten“, so Gerald Gaß. Von den 400 Schlaganfalleinheiten in Deutschland seien in der Folge drei Viertel bedroht, weil sie nicht selbst über eine eigene Neurochirurgie oder Neuroradiologie verfügten.

Man könnte an dieser Stelle natürlich kritisch einwenden, dass die Vertreter der Krankenhäuser so eine Klage anstimmen müssen, geht es hier doch um die Interessen der Kliniken. Aber dem Artikel kann man ergänzend das hier entnehmen: »Auch die Fachgesellschaften kritisierten das Urteil. In Deutschland existiere eine gut funktionierende, flächendeckende Versorgung von Patienten mit akutem Schlaganfall, erklärten die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) nach dem Urteil. Ein wesentlicher Bestandteil sei die tragfähige Kooperation zwischen regionalen Stroke Units und überregionalen Schlaganfallzentren, an denen auch neurochirurgische und neuroradiologische Leistungen vorgehalten würden.«

Die DKG hebt zwei Folgen hervor:

➔ Die wohnortnahe Erreichbarkeit von Schlaganfalleinheiten, eine unmittelbare CT-Diagnostik und die Einleitung einer Therapie werde nicht mehr möglich sein.

➔ Problematisch sei zudem, dass die betroffenen Krankenhäuser die entsprechenden Erlöse bis zu vier Jahre rückwirkend zurückzahlen sollten.

Und mit dem letzten Punkt sind wir angekommen bei einer weiteren Folgewirkung, die eine Reihe an Aktivitäten in Gang gesetzt hat, die im Ergebnis zum Gegenteil dessen geführt haben, was man eigentlich beabsichtigt hat – ein Phänomen, das im Sozialrecht und in der Sozialpolitik nun wahrlich und leider nicht selten zu beobachten ist.

Denn die Krankenhäuser haben im Bundesgesundheitsministerium offensichtlich wenigstens hinsichtlich der drohenden Rückzahlungen für mehrere zurückliegende Jahre Gehör gefunden. Wie praktisch, dass zeitgleich das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz im Bundestag behandelt wurde und vor der Verabschiedung stand, denn dadurch hatte man eine gesetzgeberische Hülle, die man nutzen konnte für eine sofortige Korrektur. Was man dann auch gemacht hat. Mit der Folge solcher Schlagzeilen, diesmal von der anderen Seite: Krankenkassen empört über Spahn – „Generalamnestie für falsche Rechnungen“, so ist ein Artikel des Handelsblatts vom 1. November 2018 überschrieben. Darin berichtet Peter Thelen:

»Auf Deutschlands Sozialgerichte rollt eine Prozesslawine zu. Grund sind Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), rückwirkend bis 2017 die Verjährungsfrist für Rückforderungen der Krankenkassen wegen fehlerhafter Klinikrechnungen von vier auf zwei Jahre zu halbieren.
Nach einem Brandbrief, in dem alle Kassenverbände vergangene Woche an den Gesundheitsausschuss appelliert hatten, auf diesen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot zu verzichten, soll die Regelung nun sogar verschärft werden. So steht es in einem Änderungsantrag zum Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, der dem Handelsblatt vorliegt. Danach sollen nun Forderungen aus Falschabrechnungen vor Ende 2017 niedergeschlagen werden, die nicht bis zur Verabschiedung des Gesetzes bei Gericht geltend gemacht wurden … So will Spahn verhindern, dass die Kassen Altfälle zu den Gerichten tragen, bevor die neue Verjährungsfrist in Kraft tritt.«

Am 9. November 2018 wurde dann das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz im Bundestag verabschiedet, ergänzt um die Regelung, dass die Verjährungsfrist für Ansprüche der Krankenhäuser gegen die Krankenkassen auf Vergütung erbrachter Leistungen und für Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung geleisteter Vergütungen von vier auf zwei Jahre verkürzt wird. Und hier besonders bedeutsam: Ganz kurzfristig wurde zudem eine Übergangsregelung in das Gesetz aufgenommen: Dabei können die Rückzahlungsansprüche der Krankenkassen aus der Zeit bis 2016 nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nicht bis zum 9. November 2018 eine gerichtliche Klage erhoben worden ist.

Bereits in dem Artikel von Peter Thelen wurde eine bedrohliche Prognose gewagt: »Der Schuss könnte nach hinten losgehen.«

Wie das? Thelen zitiert solche Stimmen aus dem Krankenkassenlager: „Wir machen Sonderschichten am Wochenende. Die Klagen gehen raus, und wenn wir sie persönlich bei Gericht abgeben“, so ein Kassenchef. Und: „Die Krankenhäuser erhalten eine Generalamnestie für alle Falschabrechnungen vor dem 1.1.2017“, so AOK-Chef Martin Litsch. Auch er rechnet nun erst recht mit einer Prozessflut vor den Sozialgerichten.

Genau das ist nun offenbar eingetreten, folgt man beispielsweise solchen Artikeln: Jens Spahns Abrechnungsgesetz sorgt für Klageflut, so Jana Werner am 16.11.2018: »Innerhalb weniger Tage gehen am Hamburger Sozialgericht Tausende Klagen ein – weil der Gesetzgeber die Frist für Abrechnungen verkürzt hat. Diese Flut wird die Justiz wohl noch auf Jahre binden.«

Der Pressesprecher des Sozialgerichts Hamburg, Andreas Wittenberg, wird mit diesen konkreten Zahlen (nur aus der Hansestadt) zu den Klagen seitens der Krankenkassen gegen Krankenhäuser mit dem Ziel einer Rückerstattung von gezahlten Vergütungen für die stationäre Behandlung von Schlaganfallpatienten für die Jahre 2016 und früher zitiert:

»Bis zum Stichtag 9. November sind beim Sozialgericht der Hansestadt fast 3.000 solcher Klagen erhoben worden. Die Zahl der betroffenen Behandlungsfälle sei noch weit größer, weil sich viele der Klagen gesammelt auf zahlreiche, teils mehrere Hundert, Abrechnungsfälle beziehen. Gemessen an etwa 9.000 Klageeingängen im Jahr 2017 – ohne Eilverfahren – entsprechen Wittenberg zufolge bereits 3000 neue Klagen einem Drittel des gesamten jährlichen Klageeingangs des Hamburger Sozialgerichts. Gehe man von der Zahl der mit den Krankenkassen-Klagen insgesamt geltend gemachten Behandlungsfälle aus, liege der Anteil noch deutlich höher.«

Die mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ganz kurzfristig aufgenommene und bereits beschrieben Übergangsregelung hat viele Krankenkassen dazu veranlasst, ihres Erachtens gegenüber Krankenhäusern bestehende Rückzahlungsansprüche bei den Sozialgerichten noch kurz vor Fristablauf einzuklagen.

Folglich ist das nicht nur in Hamburg zu beobachten: „Das ist ein bundesweites Problem, das sich durch ganz Deutschland zieht“, wird der stellvertretende Sprecher des Bundessozialgerichts, Olaf Rademacker, zitiert. In der Angelegenheit sei es mittlerweile zu einer „überwältigenden Zahl an Verfahren“ gekommen.

Das wird die sowieso belasteten Sozialgerichte im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knie drücken. Beispiel Sozialgericht Hamburg:

»„Eine Klagewelle dieses Ausmaßes überfordert ohne Frage die personellen Ressourcen des Sozialgerichts“, betont Hamburgs Sozialgerichtssprecher Wittenberg. Dies gelte sowohl für die Richter als auch für die Mitarbeiter in den Geschäftsstellen. Allein das Erfassen der neuen Klagen im EDV-System und die übrige verwaltungsmäßige Bearbeitung der Eingänge wird voraussichtlich noch Wochen dauern – und das trotz personeller Stärkung dieses Bereichs zulasten anderer Bereiche des Sozialgerichts.
Durch die Klagen der vergangenen Woche hat sich laut Wittenberg die Zahl der beim Sozialgericht anhängigen Klagen auf einen Schlag dramatisch erhöht. Es sei absehbar, dass dieser Anstieg sowohl die richterliche Arbeitskraft als auch jene der Geschäftsstellenmitarbeiter noch auf Jahre „erheblich binden wird“. Auch wenn das Sozialgericht anstrebe, die Verfahren vorrangig zu behandeln, in denen es um dringende soziale Anliegen der Bürgerinnen und Bürger geht, werde sich in Anbetracht dieser Klagewelle eine Verlängerung der Dauer auch solcher Prozesse nicht vermeiden lassen.«

Das muss man alles vor diesem Hintergrund sehen und einordnen: Mit der Reform wollte die Bundesregierung ursprünglich die Sozialgerichte von einer Klageflut entlasten. „Die Regelung zielt auf die Entlastung der Sozialgerichte und der Durchsetzung des Rechtsfriedens, der mit der rückwirkenden Einführung der verkürzten Verjährungsfrist beabsichtigt ist“, heißt es in der entsprechenden Drucksache des Bundestages.

Fazit: Hat offensichtlich nicht wirklich geklappt. Und: Neben den Folgen für die Sozialgerichte sollte man die angedeuteten Auswirkungen auf eine (noch?) Schlaganfallversorgung  nicht aus den Augen verlieren. Nochmals zur Erinnerung: Jedes Jahr erleiden bundesweit rund 200.000 Menschen einen Schlaganfall.