Der gesetzliche Mindestlohn hat den Arbeitnehmern ganz unten ordentliche Lohnzuwächse gebracht. Aber auch 2016 bekam jeder fünfte Beschäftigte im „Jobwunderland“ Deutschland nur einen Niedriglohn

Das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen legt regelmäßig Zahlen zur Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland vor. Die Datengrundlage für die Zahlen des Instituts sind Befragungsergebnisse aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das – anders als z.B. Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) – auch die Einbeziehung von Teilzeitbeschäftigten und Minijobber erlaubt, die überproportional häufig von niedrigen Stundenlöhnen betroffen sind.

Für das Jahr 2016 werden folgende wichtigen Ergebnisse berichtet:
➔ Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hat in den Jahren 2015 und 2016 zu deutlichen Steigerungen der durchschnittlichen Stundenlöhne am unteren Rand des Lohnspektrums geführt.
➔ Der durchschnittliche Stundenlohn im Niedriglohnsektor erreichte im Jahr 2016 knapp 77% der Niedriglohnschwelle und damit immerhin fast vier Prozentpunkte mehr als 2014 (73%).
➔ Trotz dieser Lohnerhöhungen stagniert der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten auf einem im Vergleich der EU-Länder besonders hohen Niveau: 22,7% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeiteten im Jahr 2016 für einen Niedriglohn.
➔ Die Niedriglohnschwelle (berechnet auf Basis der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit) hat sich in den letzten drei Jahren von 9,60 € pro Stunde im Jahr 2013 auf 10,44 € im Jahr 2016 erhöht.
➔ Die internationale Forschung legt nahe, dass zur Begrenzung des Anteils von Niedriglöhnen nicht nur ein gesetzlicher Mindestlohn, sondern vor allem auch eine hohe Tarifbindung wichtig ist.
Das alles kann man dieser Veröffentlichung entnehmen:

➔ Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf (2018): Niedriglohnbeschäftigung 2016 – beachtliche Lohnzuwächse im unteren Lohnsegment, aber weiterhin hoher Anteil von Beschäftigten mit Niedriglöhnen. IAQ-Report 2018-06, Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation, 2018

Die Auswertung für 2016 ist natürlich auch deshalb von besonderem Interesse, weil zum Jahresbeginn 2015 der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde für (fast) alle eingeführt worden ist und man nun im Jahr nach der Einführung entsprechende Auswirkungen sehen muss, wenn man berücksichtigt, wie tief unter dieser Grenze viele Stundenlöhne vor der Implementierung der gesetzlichen Lohnuntergrenze gelegen haben, vor allem in Ostdeutschland. Zugleich muss man mit Blick auf die folgenden Zahlen berücksichtigen, dass es hier um die Arbeitnehmer geht, die einen Niedriglohn für ihre Arbeit bekommen. Die Schwelle, ab deren Unterschreiten man von einem Niedriglohn spricht, haben sich die Wissenschaftler des IAQ nicht ausgedacht, sondern sie folgen hier der OECD-Definition, nach der die Niedriglohnschwelle bei zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (Median) für Deutschland insgesamt liegt.

»Für Deutschland insgesamt hat sich der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen seit 2012 kaum verändert. Mit 22,7% lag die Niedriglohnquote im Jahr 2016 auf dem gleichen Niveau wie 2012. In Ostdeutschland arbeitete im Jahr 2016 mit 35% gut jeder dritte Beschäftigte für einen Niedriglohn. Dieser Anteil hat sich seit 2013 (38,9%) aber immerhin um fast vier Prozentpunkte verringert. In Westdeutschland schwankte der Niedriglohnanteil seit 2012 dem- gegenüber bei knapp unter 20%, ist aber im Jahr 2016 auf 20,3% und damit um 0,6 Prozentpunkte gestiegen.«

»Die Entwicklung des Niedriglohnsektors in den letzten Jahren lässt sich demnach so zusammenfassen: Der Anteil von Niedriglöhnen hat sich in Ostdeutschland seit 2013 von Jahr zu Jahr verringert, während er in Westdeutschland stagnierte und im Jahr 2016 sogar wieder gestiegen ist. Für Deutschland insgesamt ergibt sich aus diesen gegenläufigen Entwicklungen, dass der Niedriglohnanteil seit 2012 auf hohem Niveau von fast 23% stagniert.«

Mit Blick auf die bereits erwähnte Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2015 könnte man also bilanzieren: »Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns Anfang 2015 hat demnach auch im Jahr 2016 den Umfang des Niedriglohnsektors nicht verringert.« Das klingt enttäuschend, ist aber verständlich, wenn man berücksichtigt, dass sowohl die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor als auch die Niedriglohnschwelle in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind. Dazu das IAQ konkreter:

»Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnbereich (berechnet auf Basis der tatsächlichen Arbeitszeit) erhöhten sich von 7,05 € im Jahr 2013 auf 8,02 € im Jahr 2016 – also um fast 1 € (0,97 €). Dies entspricht prozentual einer Zunahme um immerhin 13,8%.
Die Niedriglohnschwelle ist auf Basis der tatsächlichen Arbeitszeit von 9,60 € im Jahr 2013 auf 10,44 € im Jahr 2016 gestiegen, was einer Zunahme um 8,8% entspricht. Weil der Durchschnittslohn aller Niedriglohnbeschäftigten stärker gestiegen ist als die Niedriglohnschwelle, sind die Niedriglohnbeschäftigten mit ihren Stundenlöhnen offenbar näher an die Niedriglohnschwelle herangerückt und die Lohnverteilung hat sich im unteren Bereich komprimiert.«

»Dahinter steht, dass die Löhne seit der Einführung des Mindestlohns gerade im unteren Bereich der Stundenlohnverteilung überproportional gestiegen sind … Der Mindestlohn hat also zu einer Kompression der Lohnstruktur unterhalb der Niedriglohnschwelle geführt und das „Ausfransen“ der Löhne nach unten gebremst. Diese erfreuliche Entwicklung war allerdings offenbar nicht ausreichend, um den Umfang des Niedriglohnsektors in Deutschland zu verringern. Betrachtet man die längerfristige Entwicklung, zeigt sich, dass der Durchschnittslohn im Niedriglohnbereich schon seit 2006 stärker als die Niedriglohnschwelle gestiegen und damit näher an diese herangerückt ist. Im Zuge der Mindestlohneinführung hat sich dieser Prozess nochmals verstärkt.«

Bei der Frage, wer denn von den abhängig Beschäftigten (man sollte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Wissenschaftler Selbstständige und mithelfende Familienangehörige ausgeschlossen haben, sowie auch Auszubildende, Personen in Rehabilitation, Umschulung sowie in weiteren arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Beschäftigte in Behindertenwerkstätten, Personen im Bundesfreiwilligendienst sowie Beschäftigte in Altersteilzeit, so dass die Niedriglohnzahlen eher eine Unterschätzung darstellen) besonders betroffen ist von Niedriglöhnen, zeigen die Befunde ein leider erwartbares Bild:

Besonders häufig arbeiteten unterhalb der Niedriglohnschwelle
➞  knapp 84% der Minijobber
➞  fast 59% der Beschäftigten unter 25 Jahre
➞  44% der Beschäftigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung
➞  gut 37% der Ausländer und
➞  29% der Frauen.

Bezogen auf die Gesamtzahl der Beschäftigten im Niedriglohnbereich ergeben sich die folgenden Relationen: »Die Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland sind weiterhin Deutsche (82,5%), unbefristet Beschäftigte mit fast 77%, Beschäftigte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (63,5%), Frauen (knapp 63%).« 2016 waren knapp 41% der Niedriglohnbeschäftigten in Vollzeit tätig, fast ein Viertel arbeiteten in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit und knapp 36% in einem Minijob. Damit ist die überwiegende Mehrheit der Niedriglohnbeziehenden (rund zwei Drittel) sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Und wie sieht es mit den Branchen aus?

»Von allen Beschäftigten mit Stundenlöhnen unterhalb der Niedriglohnschwelle waren im Jahr 2016 knapp 17% im Einzelhandel, fast 16% im Gesundheitswesen, knapp 11% im Gastgewerbe, fast 9% in unternehmensnahen Dienstleistungen sowie knapp 5% im Bereich Erziehung und Unterricht tätig … In diesen Branchen arbeiteten im Jahr 2016 zusammengenommen fast 57% aller Niedriglohnbeschäftigten.«

Das sind die Verteilungswerte aller Niedriglohnbeschäftigten. Das Niedriglohnrisiko innerhalb der einzelnen Branchen ist aber sehr unterschiedlich:

»Während im Gastgewerbe im Jahr 2016 gut zwei Drittel der Beschäftigten für einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle arbeiteten, war dies im Bereich Erziehung und Unterricht mit 14,1% nur bei jedem siebten Beschäftigten der Fall. Mit Ausnahme des Bereichs Erziehung und Unterricht ist das Niedriglohnrisiko in allen genannten Branchen gestiegen.«

Und wo steht Deutschland im internationalen Vergleich? Dazu das IAQ: »Im EU-Vergleich weist Deutschland mit 22,7% (2016) nach wie vor einen besonders hohen Anteil von Beschäftigten mit Niedriglöhnen auf.« Die Wissenschaftler beziehen sich auf eine Auswertung von Eurostat zum Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in den EU-Staaten, die sich allerdings auf das Jahr 2014 bezieht, weil die Datenerhebung nur alle vier Jahre stattfindet. Die Befunde sind kein Ruhmesblatt für das „Jobwunderland“ Deutschland:

»Im Jahr 2014 lag der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen in Deutschland demnach bei 22,5%. Noch höhere Niedriglohnanteile hatten zu diesem Zeitpunkt nur Estland, Polen, Litauen, Rumänien und Lettland – also allesamt kleinere und weniger entwickelte Länder in Mittel- und Osteuropa.
Die geringsten Niedriglohnanteile von zwischen 2,6% und 9,4% im Jahr 2014 wiesen die skandinavischen Staaten sowie Belgien, Frankreich und Italien auf. Selbst wirtschaftlich schwächeren EU-Mitgliedsländern wie z.B. Portugal, Spanien, Malta, Ungarn, Bulgarien oder Slowenien gelingt die Eindämmung von Niedriglöhnen offenkundig deutlich besser als Deutschland.«

Und mit Blick auf die Hoffnungen, die von mancher Seite mit dem gesetzlichen Mindestlohn verbunden wurden und werden, ist dieser Befund interessant: »Bemerkenswert ist, dass unter den sechs Ländern mit Niedriglohnanteilen von weniger als 10% nur in Belgien und Frankreich ein gesetzlicher Mindestlohn existiert. Gemeinsam ist diesen sechs Ländern demgegenüber, dass sie eine fast flächendeckende Tarifbindung von über 85% haben.«

Und die Schlussfolgerung der IAQ-Wissenschaftler berührt eine grundsätzliche und gerade aktuell angesichts der Entscheidung der nächsten Anhebung des Mindestlohns in Deutschland hoch relevante Frage:

»Dies bestätigt die auch für andere Länder vorliegenden Befunde, dass der Umfang des Niedriglohnsektors stärker von der Tarifbindung als von der Existenz und eines gesetzlichen Mindestlohns beeinflusst wird. Mindestlöhne können den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten nur verringern, wenn ihr Niveau nah an der Niedriglohnschwelle von zwei Drittel des Medianlohns liegt. Da gesetzliche Mindestlöhne sich jedoch meist an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der schwächeren Branchen orientieren, werden sie i.d.R. sehr vorsichtig angehoben und liegen in der Praxis überwiegend deutlich unterhalb der Niedriglohnschwelle.« Das gilt auch und gerade für Deutschland (vgl. dazu kritisch die Analyse in diesem Beitrag vom 29. Juni 2018: Mindestlohn: Wer den Cent nicht ehrt …? Eine Anhebung um 51 Cent brutto, gestreckt über zwei Jahre. Ab 2019). Man muss wissen: Die  relative Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland lag im Jahr 2016 (gemessen am Anteil des Mindestlohns am durchschnittlichen Stundenlohn von Vollzeitbeschäftigten in der Gesamtwirtschaft – dem sogenannten „Kaitz-Index“) mit 46,7% im Ländervergleich nur im hinteren Mittelfeld.

Vor diesem Hintergrund muss man skeptisch bilanzieren: Wir haben zwar seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn (übrigens neben branchenbezogenen Mindestlöhnen) als Lohnuntergrenze und bei allen Problemen hat der die Situation der Arbeitnehmer im untersten Lohnsegment verbessern können. Zugleich aber sehen wir – angesichts der auch vom IAQ hervorgehobenen Bedeutung der Tarifbindung – leider eine seit Jahren anhaltende abnehmende Tarifbindung insgesamt und gerade in Branchen, die besonders „anfällig“ sind für Niedriglöhne. Dazu ausführlicher der Beitrag Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden vom 24. Mai 2018.