Am Ende des Bundestagswahlkampfs schaffte es die Pflege, vor allem die Altenpflege für einen kurzen Moment auf das Tablett der öffentlichen Aufmerksamkeit. Am 11. September 2017 hatte der Hildesheimer Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde der CDU-Kanzlerin auf den Zahn gefühlt. Die Würde des Menschen werde „tagtäglich tausendfach verletzt“, weil zu wenig Personal da sei. Und die Geschäftsführerin eines Lübecker Pflegeservice, Dagmar Heidenreich, bohrte bei Martin Schulz nach: Wie solle sie künftig all die offenen Stellen besetzen? Der SPD-Kandidat Schulz versprach einen „Neustart in der Pflegestruktur“ in den ersten 100 Tagen seiner (möglichen) Amtszeit. „Dazu gehören drei Dinge: mehr Personal, bessere Bezahlung des Personals und Pflegeplätze.“ Die Gehälter müssten um mindestens 30 Prozent angehoben werden. Vielen Beschäftigten ginge es gar nicht so sehr ums Geld, sondern um mehr Personal und einen einheitlichen Pflegeschlüssel.
Auch die Bundeskanzlerin hatte sich, wenn auch bedächtiger, auf den Zug gesetzt, so dieser Artikel: Merkel plädiert für bessere Bezahlung von Pflegekräften: Die derzeitige Entlohnung sei „im Hinblick auf die Belastungen, die dieser Beruf mit sich bringt, nicht angemessen“, sagte Merkel der Bild am Sonntag. Sie forderte zudem einen neuen Personalschlüssel … Ein Teil des Lohnunterschieds zwischen Männern und Frauen hänge in Deutschland auch mit der unterschiedlichen Bewertung der Berufe zusammen – „also zum Beispiel Pflegeberufe im Vergleich zu Mechatronikern oder Elektrikern“, sagte Merkel. „Wir müssen daran arbeiten, dass die Gehälter schrittweise weiter steigen.“
Nun liegen nach der Zeit der Irrungen und Wirkungen die Sondierungsergebnisse der möglichen, aber derzeit noch keinesfalls sicheren nächsten GroKo vor – und im Bereich der Pflege sind sie mehr als ernüchternd (vgl. dazu den Überblick in dem Beitrag Umrisse einer GroKo neu. Teil 3: Gesundheitspolitik und Pflege vom 15. Januar 2018). Mit einem speziellen Blick auf die Entlohnung der Pflegekräfte wurden bereits am 20. September 2017 in dem Beitrag Jenseits der Schaumschlägereien: Die Entlohnung in „der“ Pflege. Die ist gerade nicht ein Thema für die letzten Wahlkampfmeter einige Hinweise gegeben, wie es mit der Vergütung der Pflegekräfte aussieht. Dabei wurde Bezug genommen auf Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung über die Vergütung in der Pflege, die sich auf das Jahr 2013 bezogen haben.
Mittlerweile hat das IAB die Zahlen des Jahres 2016 aufbereitet und die Ergebnisse veröffentlicht:
➔ Holger Seibert et al. (2018): Entgelte von Pflegekräften – weiterhin große Unterschiede zwischen Berufen und Regionen, Nürnberg, Januar 2018
An dieser Stelle ein notwendiger Hinweis zum methodischen Vorgehen des IAB, damit kein großen Irritationen angesichts der auch in der Abbildung ausgewiesenen Monatsverdienste aufkommen, denn viele Pflegekräfte werden anmerken, dass sie weit weg sind von solchen Einkommen. Dazu muss man wissen, dass die genannten Euro-Beträge den Median-Brutto-Monatsverdienst darstellen, also 50 Prozent haben weniger als dieses Einkommen und die anderen 50 Prozent liegen darüber. Zweitens muss man berücksichtigen, dass bei vielen Pflegekräften Zuschläge für Arbeit an Sonntagen, in der Nacht usw. hinzukommen, während Fachkräfte in anderen Berufen davon nicht betroffen sind. Und das hier ist besonders wichtig: »Da für die Teilzeitbeschäftigten keine Angaben zur vereinbarten Stundenzahl vorliegen, können sich die Analysen nur auf die Vollzeitbeschäftigten (ohne Auszubildende) beschränken. Insgesamt konnten die Entgelt-Daten von über 415.000 Fachkräften und mehr als 111.000 Helfern in den Pflegeberufen mit Vollzeit-Beschäftigungsverhältnissen ausgewertet werden. Zu berücksichtigen ist, dass wegen des hohen Teilzeitanteils nur 38 Prozent der in den ausgewählten Pflegeberufen beschäftigten Fachkräfte und Helfer in die Analysen einfließen. Die vielen Teilzeitbeschäftigten in der Pflege erreichen also gegenüber den hier ausgewiesenen Vollzeitlöhnen entsprechend niedrigere Lohnpositionen.«
Die Autoren schauen sich die Jahre 2012 und 2016 im Vergleich an und arbeiten folgende interessante Punkte heraus:
»Seit dem Jahr 2012 sind die Entgelte im Pflegebereich im Großen und Ganzen entsprechend der allgemeinen Lohnentwicklung gestiegen … Während die Löhne aller Vollzeitbeschäftigten zwischen 2012 und 2016 um 8,6 Prozent zulegten, verzeichneten vollzeitbeschäftigte Helfer und Fachkräfte in der Altenpflege Zuwächse von 9,6 beziehungsweise 9,4 Prozent. Bei Fachkräften in der Krankenpflege belief sich das Plus auf 8,9 Prozent, bei Helfern in der Krankenpflege auf 7,1 Prozent.«
Bereits an dieser Stelle muss dem aufmerksamen Beobachter auffallen: Wieso hat ein Anstieg „nur“ entsprechend der allgemeinen Lohnentwicklung stattgefunden? Alle Welt spricht und berichtet doch über den eklatanten Personalmangel, der in der Pflege beklagt wird, besonders manifest bereits für den Bereich der Altenpflege, wo selbst die Bundesagentur für Arbeit einen flächendeckenden Fachkräftemangel ausweist, aber auch in der Krankenhauspflege.
Nur als eines von unzähligen Beispielen zum Thema Personal- und vor allem Fachkräftemangel aus der Medienberichterstattung: Personalmangel: Wilhelmshilfe zieht Bremse:
Der größte Altenhilfe-Träger im Kreis reagiert auf den Pflegenotstand. Er will die Mitarbeiter vor Überlastung schützen.
Der Pflegenotstand ist im Landkreis angekommen. Die Wilhelmshilfe, die als größter Anbieter mit 650 Mitarbeitern etwa 1000 Senioren versorgt, sieht nun keinen anderen Weg mehr: Es werden bis auf weiteres keine neuen Kunden im ambulanten Bereich mehr angenommen. In den Pflegeeinrichtungen entscheiden künftig die leitenden Mitarbeiter vor Ort, ob die Personaldecke ausreicht, um die Versorgung zu gewährleisten. Wenn nicht, sollen Zimmer leer bleiben, sagen Dagmar Hennings und Matthias Bär, die an der Spitze des Altenhilfeträgers stehen. „Der Engpass beim Personal hat sich in den vergangenen Monaten so zugespitzt, dass es ein Weiter so nicht mehr geben kann“, so Bär. „Wir werden künftig die Plätze an die Kapazität unserer Mitarbeiter anpassen und nicht umgekehrt.“
Ein anderes Beispiel wäre dieser Beitrag aus und über Stuttgart: Pflegedienste suchen händeringend Personal. Interessanterweise wird in den beiden Artikeln auf die sich immer mehr zuspitzende Lage bei den ambulanten Pflegediensten hingeweisen, bislang wird die Berichterstattung vor allem bis nur von den Pflegeheimen dominiert. Mit solchen Artikeln könnte man ganze Archive füllen, würde das jemand über ganz Deutschland sammeln.
Wenn das Angebot derart knapp ist und gleichzeitig die Nachfrage deutlich ansteigt (übrigens ein auch durch die neuere Gesetzgebung bedingter Prozess, so in Folge des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der zum 1. Januar 20176 eingeführt wurde: »Im ersten Jahr der Pflegereform steigt die Zahl der Leistungsbezieher um 750.000 auf 3,5 Millionen«, so die Ärzte Zeitung in diesem Artikel: Pflegereform: 3,5 Millionen erhalten Geld von Pflegekasse), dann müsste nach allen konventionellen Regeln der Ökonomie der Preis steigen, also die Löhne für die Beschäftigten in der Pflege – und zwar stärker als für die Beschäftigten in der Gesamtwirtschaft, um den Knappheitsverhältnissen zu folgen. Das aber war bislang offensichtlich nicht der Fall.
Und ein weiterer Befund, der schon für 2013 herausgearbeitet wurde, hat sich nicht verändert: die doppelte Spaltung der Vergütungslandschaft innerhalb „der“ Pflege zwischen der Alten- und der Krankenpflege und zwischen den Regionen. Dazu schreibt das IAB:
»Fachkräfte in der Krankenpflege verdienen mit durchschnittlich 3.239 Euro geringfügig mehr als die Beschäftigten insgesamt mit 3.133 Euro. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Krankenpflege häufig Zuschläge für spezielle Dienste wie Nachtschichten oder Arbeit auf der Intensivstation gezahlt werden.
Fachkräfte in der Altenpflege verdienen dagegen mit einem Durchschnittslohn von 2.621 Euro 16 Prozent weniger als die Beschäftigten insgesamt. Helfer in der Altenpflege schneiden im Vergleich am schlechtesten ab. Sie verdienen mit durchschnittlich 1.870 Euro gut 600 Euro weniger als Helfer in der Krankenpflege mit 2.478 Euro … die regionalen Entgeltunterschiede sind nach wie vor erheblich. Dies gilt allerdings für das gesamte Lohngefüge. So verdienen Beschäftigte in Ostdeutschland im Schnitt 23 Prozent weniger als in Westdeutschland. Bei Fachkräften beträgt die Differenz fast ein Viertel (‑24,4 %), bei Helfern ein Fünftel (-20,2 %). Diese Ost-West-Kluft besteht ebenso in den Pflegeberufen, fällt allerdings prozentual meist etwas geringer aus. Das mittlere Bruttoentgelt der Fachkräfte in der Altenpflege liegt in Ostdeutschland mit 2.211 Euro knapp 20 Prozent unter demjenigen in Westdeutschland mit 2.737 Euro. Fachkräfte in der Krankenpflege erhalten dort im Mittel 11,6 Prozent weniger als im Westen … Die Entgelte im Pflegesektor unterscheiden sich auch zwischen einzelnen Bundesländern erheblich. Bei den Fachkräften in der Altenpflege reicht die Spannweite zwischen 1.985 Euro in Sachsen-Anhalt und 2.937 Euro in Baden-Württemberg, bei den Fachkräften in der Krankenpflege zwischen 2.798 Euro in Mecklenburg-Vorpommern und 3.476 Euro im Saarland. Allerdings bestehen auch innerhalb Westdeutschlands und innerhalb Ostdeutschlands signifikante Unterschiede.«
Und auch das muss man offen sagen: Allein eine (sinnvolle) Angleichung der Vergütung in der Altenpflege an die der Krankenpflege – bei konstantem Qualifikationsniveau und konstanter Beschäftigtenzahl – hätte vergleichsweise dramatische finanzielle Auswirkungen. Nach Berechnungen von Stefan Greß und Klaus Jacobs sprechen wir hier über einen Betrag von 5,9 Mrd. Euro pro Jahr zusätzlich.Und auch im „unteren“ Bereich, bei den Pflegehelfern, von denen viele nach dem Branchen-Mindestlohn vergütet werden, müsste das Niveau angehoben werden. Derzeit liegt der Pflege-Mindestlohn im Westen bei 10,20 Euro und im Osten bei 9,50 Euro. Die mehr als überschaubaren Steigerungen bis einschließlich 2020 sind bereits verabschiedet. Eigentlich müsste der Mindestlohn für die in der Pflege tätigen Menschen deutlich höher angesetzt werden. An sich wäre eine Anhebung auf 13 oder 14 Euro bei dieser Arbeit mehr als gerechtfertigt.
Und der Vollständigkeit halber sei hier nur erneut darauf hingewiesen, dass auch in der Krankenpflege trotz des scheinbar über dem „Durchschnitt“ liegenden Monatseinkommen ein berechtigter Anpassungsbedarf nach oben festzustellen ist, wenn man von der Perspektive eines strukturellen Vergleichs mit vergleichbaren anderen Berufsgruppen ausgeht, wie uns das von Sarah Lillemeier am Beispiel des „Comparable Worth Index“, einem Messinstrument für geschlechtergerechte Arbeitsbewertung illustriert wird: So »verdient die männlich dominierte Berufsgruppe der Führungskräfte im Bereich IT-Dienstleistungen im Stundendurchschnitt knapp 17 Euro mehr die Stunde als Fachkräfte in Pflege und Gesundheit trotz eines vergleichbaren Ausmaßes an Arbeitsanforderungen und -belastungen.«
Aber wir haben nicht nur ein – mit Blick auf die Altenpflege massives – Lohnproblem, sondern zugleich ein Mengenproblem, was die Situation in der Pflege nicht nur doppelt belastet, sondern im Zusammenspiel potenziert. Und dieses Mengenproblem ist nicht nur eines, dass sich auf einen Mangel an Pflegekräften unter den heute herrschenden Bedingungen in den Diensten und Einrichtungen bezieht, sondern es nimmt erheblich größere Dimensionen an, wenn man die Personalschlüssel auf das Niveau heben würde oder wollte, die zum einen von der Fachdiskussion gefordert und vor allem von den Betroffenen vor Ort dringend angemahnt werden.
Dieser Aspekt wurde bereits Ende vergangenen Jahres in einem Antrag der Fraktion der Linken im Bundestag aufgegriffen, vgl. dazu die Bundestags-Drucksache 19/79 vom 20.11.2017. Dort wird beispielsweise gefordert: »Ein bundeseinheitlicher, verbindlicher (rechnerischer) Personalschlüssel im Tagdienst von einer Pflegekraft für zwei Bewohnerinnen und Bewohner und im Nachtdienst einen Personalschlüssel von 1 zu 20 als vorläufige Mindestpersonalbesetzung in stationären Pflegeeinrichtungen bis zur Umsetzung eines wissenschaftlichen Verfahrens zur Personalbemessung im Jahr 2020 ist einzuführen. Dabei ist die Fachkraftquote von 50 Prozent als Mindeststandard einzuhalten … geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Pflegemindestlohn ab 2018 bundes- einheitlich – also auch in allen neuen Bundesländern – auf 14,50 Euro je Stunde anzuheben und das Gehaltsniveau von Altenpflegefachkräften an das Niveau der Fachkräfte in der Krankenpflege anzugleichen.«
Vor diesem Hintergrund können dann solche Bestandsaufnahmen auch nicht überraschen: »Keine Wertschätzung, mittelmäßige Qualität in der Versorgung und viel zu wenig Personal – die Stimmung in der Pflegebranche ist schlecht. Das geht aus dem neuen „Care Klima-Index“ des Marktforschungsinstituts Psyma in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Pflegetag hervor«, so Laura Ihme und Eva Quadbeck in ihrem Artikel Umfrage in der Branche: „Die Pflege ist ein Pflegefall“.
Bei der Frage nach dem „Was tun?“ gibt es offensichtlich Bewegung, auch bei den Sondierern für eine GroKo neu. So findet man in deren Ergebnispapier die Festlegung: »Wir wollen die Bezahlung in der Altenpflege nach Tarif stärken. Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.«
Das hört sich gut an, ist aber lediglich ein wolkiges Versprechen angesichts der tariflichen Nicht-Realitäten vor allem in der Altenpflege und noch gewichtiger – worauf an anderer Stelle ausführlich hingewiesen wurde – angesichts der strukturellen (und von den Sondierern überhaupt nicht mal thematisierten) Blockade dessen, was unbedingt erforderlich wäre, damit mehr Geld auch tatsächlich unten bei den Pflegekräften ankommen kann: die Installierung eines allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags. Das wäre dringend erforderlich, wie selbst viele Träger bestätigen.
Vor diesem Hintergrund müssen neuere Vorschläge aus den Reihen des Parlaments für ein „Sofortprogramm“ in der Altenpflege als reichlich unterdimensioniert bezeichnet werden. So haben die Grünen ein „Sofortprogramm für mehr Personal in der Altenpflege“ als Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht (Bundestags-Drucksache 19/446). Darin findet man diese Forderungen:
»1. den Pflegevorsorgefonds aufzulösen und aus dessen Mitteln ein Sofortprogramm in Höhe von 1,2 Mrd. Euro im Jahr aufzulegen, woraus zusätzliche Pflegekräfte mit tarifgerechter Entlohnung zielgerichtet gefördert werden,
2. das Sofortprogramm durch Maßnahmen für eine Ausbildungsoffensive, Anreize für eine einfachere Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, ein Wiedereinstiegsprogramm, eine bessere Gesundheitsvorsorge für die Beschäftigten sowie eine Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften zu begleiten.«
Auf den Punkt 2 haben sich die Sondierer in ihrem Ergebnispapier übrigens auch verständigt. Aber angesichts des auch in diesem Beitrag skizzierten Bedarfs allein im Bereich der Vergütung der (noch) vorhandenen Pflegekräfte ist deutlich geworden, dass man mit einer Auflösung des Pflegevorsorgefonds und der Verwendung der dort angesammelten Beträge in Höhe von 1,2 Mrd. Euro für ein Sofortprogramm nicht wirklich weit kommen wird, sondern erneut vor sich hin stolpern muss.