Krankenhausbetten, die sich gleichsam selbst füllen? Zumindest für Österreich wird das behauptet

In der Gesundheitsökonomie gibt es einen erst einmal sperrig daherkommenden Terminus namens „angebotsinduzierte Nachfrage“. Schaut man sich im Netz nach Definitionen um, dann findet man beispielsweise solche Definitionsversuche: „Die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient gibt dem Arzt die Möglichkeit, auf den Umfang der „Nachfrage“ nach seinen Leistungen zu seinem ökonomischen Vorteil Einfluss zu nehmen. Bei entsprechender Information über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten hätte der Patient diese Leistungen nicht nachgefragt.“ Und dazu einen weiteren Hinweis: „Amortisationsdruck bei hohen Geräteinvestitionen zwingt dazu, nicht indizierte Leistungen zu erbringen.“ Ein allgemein bekanntes Problem, das schon seit langem diskutiert und das irgendwie auch nachvollziehbar erscheint, wenn man von monetären Interessen ausgeht.
Schauen wir vor diesem Hintergrund in unser Nachbarland Österreich, die erst vor kurzem in der Öffentlichkeit erwähnt wurden angesichts der bei ihnen im internationalen Vergleich sehr hohen Krankenhausinanspruchnahme: Anfang April war in einer OECD-Studie zu lesen, dass der Wert von 261 Krankenhausaufenthalten pro 1.000 Einwohnern und Jahr in Österreich international gesehen die Spitze darstellt.

Andreas Wetz berichtet in seinem Artikel „Spitalsbetten als Krankmacher„:

»Viele Spitalsaufenthalte und Operationen sind in Österreich nicht auf objektiv festgestellte Krankheiten und Gebrechen zurückzuführen, sondern schlicht auf das Vorhandensein entsprechender Spitalsbetten: Betten, die Politiker in der Vergangenheit errichten ließen, und die nun unbedingt belegt – und damit finanziert – werden müssen. Das ist das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Forschungsarbeit eines Dissertanten aus Salzburg.«

Florian Habersberger, der selbst einige Jahre in der Krankenhausverwaltung tätig war, hat mit seinen Berechnungen nachgewiesen: Wenn in der Vergangenheit in einer Region die Zahl der Krankenhausbetten um 1% gestiegen ist, dann stiegen automatisch auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte: Bei der Inneren Medizin um 1,72%, bei der Urologie um 1,62%, in der Orthopädie um 1,48%. Seine zentrale These lautet, dass dort, wo Überkapazitäten von Betten aufgebaut wurden, auch besonders eifrig eingewiesen und operiert wird. Und man kann ihm laut Artikel auch nicht damit kommen, dass man doch die unterschiedliche Struktur der Einwohner in den Regionen berücksichtigen müsse, zumindest gilt dies nicht für den immer wieder und gerne vorgetragenen demografischen Faktor: Habersberger hat die von ihm untersuchten Regionen um demografische Besonderheiten bereinigt, da in Regionen mit einer statistisch älteren Bevölkerung automatisch mehr Einweisungen entstehen.

Naheliegend – wie so oft im Gesundheitswesen  – ist die Vermutung, dass das was mit dem jeweiligen Finanzierungssystem zu tun haben muss. So auch die Diskussion in Österreich im Kontext der Befunde von Habersberger und der Blick auf die frühere und heutige Krankenhausfinanzierung offenbart zahlreiche Parallelen zu der Entwicklung in Deutschland: »Bis 1996 rechneten Spitäler nach der Zahl jener Tage ab, die ein Patient im stationären Betrieb verbrachte, was dazu führte, dass die ständig wachsenden Bettenburgen gefüllt werden mussten. Das ging so weit, dass in manchen Spitälern ab Freitagmittag keine Patienten mehr entlassen wurden, um sie noch bis Montagmorgen in Betreuung halten zu können. Auf dem Höhepunkt verbrachte der durchschnittliche Patient 11,2 Tage im Krankenhaus«, können wir in einem erläuternden Beitrag lesen. Das erinnert an das ehemalige System der tagesgleichen Pflegesätze in der deutschen Krankenhausfinanzierung. Bereits vor den Deutschen gab es in Österreich Änderungen, die wir hier mit dem Fallpauschalengesetz Anfang der 2000er Jahre nachvollzogen haben: »1997 führte Österreich die leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung (LKF) ein. Seither gibt es pro Leistung (zum Beispiel dem Einsetzen einer Hüftprothese) eine Anzahl von Punkten, für die die Kassen eine bestimmte Summe bezahlen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ging drastisch zurück. Heute liegt ein Patient – je nach Rechenmodell – nur noch zwischen 5,7 und 6,5 Tagen im Spital.« Aber das System reagiert entsprechend auf die neuen Rahmenbedingungen: Die Krankenhäuser hatten jetzt einen Anreiz, möglichst viele Einzelleistungen bei möglichst kurzer Aufenthaltsdauer zu erbringen. Was sie auf getan haben. Mit der Folge, dass die Belagstage pro Patienten zwar zurückgegangen sind, aber die Fallzahl deutlich anstieg, nämlich von seinerzeit 1,8 Millionen auf zuletzt 2,8 Millionen im Jahr 2011.

Wie so vieles ist auch diese Art und Weise der Finanzierung aus den USA importiert worden. Da lohnt ein Blick auf die Situation dort, was Oliver Grimm in seinem Beitrag „Im Spitalwesen geht es nicht um Moral. Sondern einzig ums Geschäft“ versucht. Die von ihm präsentierten Daten sind beeindruckend: »Im Jahr 2011 gaben die Amerikaner in Summe 2,7 Billionen Dollar (2,1 Billionen Euro) für ihr Gesundheitswesen aus … Das waren 17,9 Prozent der Wirtschaftsleistung: Ein Rekord im Kreis der industrialisierten Staaten. Die USA geben einen doppelt so hohen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheit aus wie der Durchschnitt der OECD-Länder. Der Staat und die Bürger teilen sich diese Ausgaben im Verhältnis 49 zu 51. Jeder fünfte Dollar entfällt dabei auf das Medicare-Programm. Präsident Lyndon B. Johnson schuf diesen Eckpfeiler seiner sozialstaatlichen „Great Society“-Agenda im Jahr 1965, um für Senioren über 65 sowie behinderten jüngeren Menschen die Krankenversorgung leistbar zu machen. Finanziert wird das in erster Linie mit den Einnahmen aus der Lohnsteuer. Die Senioren zahlen geringfügige Eigenbeiträge.« Experten in den USA konstatieren: »Medicare ist die Maschine, die in diesem Land die Ausgaben antreibt.« Das Systemproblem der Amerikaner bei Medicare: Das Programm gibt  den Senioren Versorgungsrechte, deckelt aber die Preise nicht, was wiederum die Anbieter dazu verleiten muss, an der Preisschraube zu drehen. Ein Teil der hohen Kosten in den USA lässt sich auch dadurch erklären, dass die Verwaltungskosten des US-Gesundheitswesens dreimal so hoch sind wie im OECD-Schnitt, nicht nur, aber auch aufgrund des Fallpauschalensystems, das in den USA noch mal differenziert nach den einzelnen Versicherungen, die mit den Leistungsanbietern Verträge schließen müssen und das auch tun.

Von den USA lernen, heißt eben nicht immer siegen lernen.

Statistiker schrumpfen Deutschland: 1,5 Millionen Menschen weniger. Dafür hat man 500.000 Wohnungen gefunden

Was für eine Nachricht – es ist weniger voll geworden in Deutschland, immerhin sind jetzt auch ganz offiziell 1,5 Millionen Menschen „verloren“ gegangen – „nur“ noch 80,2 Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik. Besonders betroffen von der Einwohnerschrumpfung sind die Stadtstaaten Berlin (diese Stadt ist nicht nur arm, aber sexy, sondern seit heute auch um 180.000 Einwohner kleiner) und Hamburg. Der Schwund liegt vor allem an den Ausländern: »In Deutschland leben … deutlich weniger Ausländer als bislang angenommen. 6,2 Millionen ausländische Staatsbürger wurden gezählt – 1,1 Millionen weniger als gedacht«, so Spiegel Online in einem ersten Bericht über die neuesten Ergebnisse des „Zensus 2011“.

Die Gruppe der Menschen mit einem „Migrationshintergrund“ (dabei berücksichtigen die Statistiker jeden, der nach 1955 nach Deutschland eingewandert ist oder der mindestens einen zugewanderten Elternteil hat) ist natürlich deutlich größer als die Gruppe der Ausländer: »Insgesamt lebten in Deutschland etwa 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund; das waren rund 19 Prozent der Bevölkerung. Den höchsten Anteil hatte im Ländervergleich mit 27,5 Prozent Hamburg. Im Osten Deutschlands lag dieser Anteil in allen Bundesländern unter 5 Prozent, in Berlin haben 23,9 Prozent einen Migrationshintergrund.« Knapp 55 Prozent der Deutschen lebten zur Miete – und gleichzeitig erfahren wir durch die Zahlensammelei, dass 500.000 Wohnungen mehr vorhanden sind, als man bislang dachte.

Natürlich fragt sich der eine oder die andere, wie es denn dazu kommen konnte, dass man eine solche Bereinigung der Einwohnerzahlen vermelden muss. Hierzu finden wir erste Hinweise in dem Artikel „Warum Deutschland geschrumpft ist“ von Pascal Paukner:

»Die Gründe für die starken Korrekturen, die nun nötig waren, liegen weit in der Vergangenheit. Die letzte Volkszählung in Westdeutschland fand 1987 statt. In der DDR wurde letztmalig 1981 gezählt. Als sich West und Ost wiedervereinigten, wurden die Daten zusammengeworfen und über Jahrzehnte fortgeschrieben … Für die Fortschreibung der Bevölkerungszahl nutzt die Behörde mehrere Datenquellen: Die Geburten- und Sterbefälle der Standesämter, die als sehr akkurat gelten. Sowie die Angaben der Einwohnermeldeämter über Zu- und Wegzüge, die als fehleranfällig gelten, weil Wegzüge ins Ausland im Gegensatz zu Umzügen im Inland selten den Behörden gemeldet werden. Da passt es auch ins Bild, dass die Daten in Berlin, Hamburg und Baden-Württemberg besonders stark korrigiert werden mussten. Dort wohnen überdurchschnittlich häufig Menschen mit Migrationshintergrund.«

Aber auch die nun ausgewertete neue „Volkszählung“ ist mit Fehlern behaftet – denn sie ist eigentlich keine richtige Volkszählung, wie sie noch 1987 in der alten Bundesrepublik durchgeführt wurde, weil man beim „Zensus 2011“ im Wesentlichen vorhandene Datenbestände abgeglichen hat und nur eine Stichprobe aus der Grundgesamtheit befragt hat. Dies zum einen, weil man Angst hatte vor Widerständen gegen eine neue „richtige“ Volkszählung (was allerdings in Zeiten von Facebook & Co. mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist) und – natürlich – um Kosten z sparen, die mit einer Vollerhebung verbunden wären.

Wer sich genauer über die neue Datenlage informieren möchte, der wird reichlich Material finden auf der Webseite „Zensus 2011 – Fakten zur Bevölkerung in Deutschland„, die das Statistische Bundesamt anlässlich der heutigen Pressekonferenz eingerichtet hat. Dort kann man auch zahlreiche Daten abrufen.

Sozialpolitisch gesehen sind die hier nur angerissenen Ergebnisse hoch relevant und sie bergen so einigen Sprengstoff: Denn die Statistiker bekommen jetzt einige zusätzliche Arbeit, deren Ergebnisse wiederum für die sozialpolitische Diskussion elementar sein werden:  Diverse Angaben über Deutschland müssen neu berechnet werden – so etwa alle Pro-Kopf-Angaben wie zum Beispiel die Geburtenrate. Man darf gespannt sein.

Glückliche Kühe für die Kunden, aber unglückliche Mitarbeiter? Wieder einmal werden Dumpinglöhne auch in der Bio-Branche thematisiert

In den vergangenen Jahren gab es regelmäßig eine Vielzahl an Berichten über problematische Arbeitsbedingungen und Lohndumpingversuche der Arbeitgeber im großen weiten Feld des Einzelhandels. Und nicht nur Namen wie der mittlerweile vom Markt verschwundene Schlecker tauchen dabei auf, auch Netto und andere Discounter schaffen es regelmäßig in die Medien. Hinter den vielen Berichten steht ein grundsätzliches, strukturelles Problem des Einzelhandels – und warum soll das nicht auch für ein besonderes Segment gelten, das aber immer noch mit dem Etikett des „alternativen“ – und das meint für viele: des „guten“, „besseren“ – Einzelhandels herumläuft? Gemeint sind hier die Biomärkte und vor allem die expandierenden Bio-Supermärkte.

Bereits im März 2010 geriet die Firma „Alnatura“ ins Visier der kritischen Berichterstattung. Die Süddeutsche Zeitung griff damals einen Bericht der taz auf und schrieb unter dem Titel „Yoga statt Tariflohn„: »Sie pochen auf umweltschonende Landwirtschaft und fairen Handel – doch niedrige Löhne gibt es auch bei Öko-Supermärkten. Alnatura bezahlt einige Beschäftigte unter Tarif.« Der Fall Alnatura war vor allem deshalb ein Einschnitt, weil die meisten Kunden der Bio-Branche bis dato davon ausgingen, dass Lohndumping ein Problem der Billiganbieter des konventionellen Einzelhandels sei.

Zudem, darauf hatte die taz damals hingewiesen: »Anders als viele Firmen der Alternativwirtschaft – etwa die taz – schreibt Alnatura hohe Gewinne: dem letzten veröffentlichten Jahresabschluss aus dem Geschäftsjahr 2007/2008 zufolge 9,3 Millionen Euro.« Die damaligen Vorwürfe entzündeten sich an dem Befund, »dass die Kette einige Mitarbeiter weit unter dem im Handel üblichen Tarifniveau entlohnt. Der niedrigste Stundenlohn lag bei 7,50 Euro. Ein Betrag, der um mehr als 15 Prozent unter dem Lohnniveau liegt, das beispielsweise die Tarifverbände für die Beschäftigten im Berliner Handel festgelegt haben«, so die Süddeutsche Zeitung in ihrem Artikel. Allerdings: Gegen geltende Gesetze hatte Alnatura nicht verstoßen, denn das Unternehmen ist nicht Mitglied im Arbeitgeberverband und daher auch nicht tarifgebunden. Unter Druck geriet damals auch Firmenchef Götz Rehn, einer der Pioniere und renommiertesten Unternehmer in der deutschen Bioszene. Der bekennende Anthroposoph, 60 Jahre alt, ist Gründer, Geschäftsführer und alleiniger Eigentümer von Alnatura. Zum damaligen Zeitpunkt war die Situation so, dass Alnatura Marktführer vor den Bioketten Denn’s Bio und Basic war. Der Umsatz belief sich auf 360 Millionen Euro und die Zahl der Beschäftigten auf 1.300. Aufgrund der Berichterstattung gab es dann allerdings eine schnelle Reaktion des Unternehmens in Form von teilweise kräftigen Lohnerhöhungen für bestimmte Mitarbeiterinnen und der Zusage, dass die Biomarkt-Kette mindestens Tarifgehälter zahlen wird und künftig auch bei Tariferhöhungen mitziehen will. Einen Rechtsanspruch haben die Mitarbeiter aber nicht.

Und nun berichtet die taz erneut von einem solchen Fall in der boomenden Bio-Branche, der sich auf den neuen Marktführer bezieht, der an Alnatura vorbeigezogen ist: »Deutschlands größte Öko-Supermarktkette denn’s expandiert rasant – auch auf Kosten der Mitarbeiter. Vielen zahlt Konzernchef Thomas Greim Dumpinglöhne. Oft müssen die Beschäftigten länger arbeiten als erlaubt,« so kann man in dem Artikel „Der Bio-Schlecker“ lesen. Immer geht es bei diesen Geschichten auch um Unternehmerpersönlichkeiten – bei Alnatura Götz Rehn, bei denn’s ist es Thomas Greim. Er ist der Chef von Deutschlands größter Öko-Supermarktkette und einige seiner Filialen nehmen zu wenig ein. Trotzdem eröffnet er in atemberaubenden Tempo einen Supermarkt nach dem anderen. Warum man bei diesem Unternehmen genau hinschauen sollte: Greim hat die meisten Biosupermärkte Deutschlands, eine Ladengattung, die immer mehr kleinere Geschäfte verdrängt. Mit seiner Marktmacht setzt er Standards für die Öko-Branche. Derzeit arbeiten 1.300 Mitarbeiter bei denn’s.
Worauf beziehen sich nun die aktuellen Vorwürfe, wie sie in der taz vorgetragen werden? Zum einen geht es um zu lange Arbeitszeiten und zu kurze Pausenzeiten. Gerade Filialeiter berichten von täglichen Arbeitszeiten von elf und mehr Stunden, was die Etikettierung des Unternehmens als „Ausbeuterladen“ verständlich werden lässt. Und natürlich geht es auch um die Bezahlung – nach den Aussagen der Gewerkschaft ver.di zahlen konventionelle Discounter wie Lidl besser aus die Öko-Supermarktkette. Hierzu zitiert Jost Maurin ein Beispiel in seinem Artikel:

»denn’s-Verkäuferin Schneider bekommt trotz mehr als zehn Jahren Berufserfahrung nach eigenen Angaben für 35 Stunden Arbeit pro Woche nur rund 1.500 Euro im Monat brutto und zusätzlich einmal jährlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Obwohl sie alle zwei Wochen fünf Tage hintereinander auch von 18.30 Uhr bis 20.15 Uhr im Laden steht, zahlt denn’s ihr keine Spätzuschläge. Das macht rund elf Euro pro Stunde – ein Drittel weniger als der Tarif, den Ver.di als Untergrenze mit den Arbeitgebern für den Einzelhandel in Hamburg vereinbart hat. denn’s hat die Tarifverträge der Branche nicht anerkannt – ganz so wie lange Schlecker.«

Natürlich wurde der Unternehmenschef mit den Vorwürfen konfrontiert und anders als andere Unternehmen hat er sich einem Gespräch gestellt. Auf die untertarifliche Bezahlung angesprochen wird er mit einer interessanten Argumentation zitiert:

»“Die Tarifverträge werden für den Mainstream gemacht“, antwortet Greim. Für die Discounter zum Beispiel, die viel mehr Umsatz pro Mitarbeiter machten als die Biobranche. Die Normierung durch die Tarifverträge würde „unsere Branche total diskriminieren“. Sein Argument lautet also: denn’s ist zu arm, um Tarif zu zahlen.«

Nach den eigenen Angaben des Unternehmens ist die wirtschaftliche Lage tatsächlich nicht berauschend, denn im Jahr 2012 hat denn’s etwa 180.000 Euro Gewinn erwirtschaftet – gerade mal 0,1 Prozent des Umsatzes. Hätte die Kette alle Gehälter auf Tarifniveau gehoben, wäre es wohl zu einem Verlust gekommen. Auch hier sind wir wieder mit einem strukturellen Problem der Branche konfrontiert: Die Kette hat zu viele Märkte, die zu wenig einspielen. Zitiert wird der Handelsexperte Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg: »Supermärkte dürften „nicht sehr viel weniger“ als zwei Millionen Euro im Jahr einnehmen, um rentabel zu sein.« Bei denn’s wird allerdings eingeräumt, dass ein erheblicher Teil der eigenen Märkte unter dieser Umsatzschwelle liegen.
Bleibt natürlich die Frage, warum das Unternehmen trotz dieser Restriktionen einen so markanten Expansionskurs fährt? Weil das Geschäftsmodell Biosupermarkt reif sei und man jetzt die Claims besetzen und abstecken müsse, sonst komme man zu spät und alles ist aufgeteilt, so die Argumentation des Firmenchefs. Getrieben wird die Expansion auch durch den Wettbewerb mit der Alnatura-Kette, die man mittlerweile hinsichtlich der Zahl der Märkte überholt hat, nicht aber mit Blick auf den Umsatz:

»Nach taz-Schätzungen lag der Umsatz pro Alnatura-Filiale im Geschäftsjahr 2011/2012 im Schnitt bei 3,7 Millionen Euro. Teilt man dagegen den denn’s-Umsatz durch die Zahl der von Thomas Greim betriebenen Märkte, kommt man auf weniger als die Hälfte: lediglich 1,6 Millionen Euro.«

Aus der Tatsache, dass der Umsatz pro Markt deutlich höher liegt, resultiert dann auch der Tatbestand, dass Alnatura genug Geld hat, um seinen Beschäftigten Löhne wenigstens auf Tarifniveau zu zahlen. »Das Beispiel Alnatura beweist also: Auch Biosupermärkte können Tariflöhne zahlen«, so Maurin in der taz. Letztendlich finanzieren die Beschäftigten über die niedrigeren Löhne die Expansionsstrategie des Unternehmens mit, der dann die niedrigeren Löhne rechtfertigt mit den zu geringen Umsätzen durch Expansion auch in umsatzschwache Lagen – eine Strategie, die tatsächlich einige Parallelen zu der Expansionsgeschichte von Schlecker aufweist. So auch die Schlussfolgerung von Maurin:

»Wenn denn’s der Bio-Schlecker ist, ist Alnatura der Bio-dm. Die Karlsruher Drogeriemarktkette zahlte ebenfalls früher als Schlecker Löhne auf Tarifniveau. Schlecker eröffnete Filialen in jedem noch so kleinen Dorf und kämpfte dann mit mickerigen Umsätzen. dm dagegen konzentrierte sich auf profitablere Standorte mit größerem Einzugsbereich. Dann ging Schlecker pleite. Kein gutes Omen.«

Da erscheint ein weiteres strukturelles Dilemma im Einzelhandel fast schon zwangsläufig: Ein kaum vorhandener Organisationsgrad der Gewerkschaft ver.di unter den Mitarbeitern bei denn’s und eine ausgeprägte Abneigung des Firmeninhabers gegen Betriebsräte, die es folgerichtig auch nicht gibt in seinem Reich.

Die Thematik hat es auch in die etablierte Wirtschaftspresse geschafft. So berichtet das Handelsblatt in einem längeren Artikel unter der Überschrift „Glückliche Kühe statt glückliche Mitarbeiter“ über die Vorgänge. In diesem Beitrag wird ebenfalls der bereits erwähnte Handelsexperte Roeb zitiert mit einer positiv gehaltenen Perspektive, die am Schluss dieses Beitrags zitiert werden soll:

»Deswegen glaubt Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, dass die Aussichten für die Angestellten in der Bio-Branche mittelfristig gar nicht so schlecht sind. Denn: „Der Image-Schaden für die Bio-Ketten wäre einfach zu groß“, so der Handelsexperte. Die öffentliche Berichterstattung dränge die Bio-Ketten-Chefs regelrecht zu einer angemessenen Bezahlung. „Die Löhne werden sich wohl eher ein wenig nach oben entwickeln.“«

Hoffen wir mal, dass er Recht bekommt mit seiner Einschätzung.