Der „Ausbildungsmarkt“ aus Sicht der Schönfärber

So eine Schlagzeile muss uns freuen: „Lehrstellen für alle„, so betitelt Inge Kloepfer ihren Artikel in der FAZ und jubelt weiter, damit es auch ja bei uns hängenbleibt: »Noch nie waren die Einstellungschancen für Lehrlinge so gut wie heute. Unternehmen locken mit vielen Anreizen. Selbst mittelmäßigen Schülern stehen die Türen offen.« In dieser Tonlage geht es weiter, denn wir erfahren, dass die Zeiten eines nahezu chronischen Lehrstellenmangels der Vergangenheit angehören, dass sich auf dem Ausbildungsmarkt vor allem wegen der sinkenden Jahrgangsstärken ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. Dann wird der neue DHIK-Präsident Eric Schweitzer zitiert, der für dieses Jahr von 70.000 nicht besetzten Ausbildungsstellen schwadroniert. Und für die jungen Menschen brechen jetzt goldene Zeiten an, folgt man der Argumentation in diesem Artikel: »Das Leid des einen ist die Chance des anderen. Aus Perspektive der Jugendlichen wird es immer besser. Schon heute werden fast alle gebraucht – nicht nur die leistungsstarken.«

Besonders putzig: Die Autorin führt dann an dieser Stelle McDonald’s als Beispielunternehmen an. Die machen gerade eine Kampagne namens „Du hast die Zukunft! Wir haben den Plan“ (sicher hat sich das eine coole, junge Werbeagentur ausgedacht, um die „Zielgruppe“ zu adressieren). Und warum machen die das? »Auffällig offensiv wirbt der Konzern um jeden Schulabgänger. Die Zahl der Azubis ist auch bei McDonald’s gesunken – allerdings nicht, weil das Unternehmen weniger ausbilden will. Von 1000 angebotenen Ausbildungsplätzen im Jahr 2012 konnten nur 700 besetzt werden.« Nun könnt es ja auch sein, dass die Nachwuchsrekrutierungsprobleme nicht nur etwas mit der rückläufigen Zahl an Schulabgängern zu tun hat, sondern dass es darüber hinaus ganz unternehmens- oder branchenspezifische Ursachen geben könnte, aber noch nicht einmal der Gedanke daran taucht in diesem Artikel auf.

Eine positive Salve nach der anderen wird abgefeuert – hier nur eine Auswahl: Besonders schwache Schulabgänger werden nachgeschult. Außerdem haben Lehrlinge bessere Aussichten als je zuvor, vom Betrieb auch übernommen zu werden. Die Bewerbungszeiten haben sich deutlich verkürzt. Außerdem gehen immer mehr Unternehmen dazu über, Bewerber nicht mehr in erster Linie nach Schulnoten zu beurteilen, sondern vor allem durch ein persönliches Gespräch. Studienabbrechern wird der rote Teppich ausgerollt. Ihnen werden verkürzte Ausbildungsprogramme angeboten.

In allem steckt ein wahrer Kern – natürlich muss die Arbeitsnachfrageseite reagieren und das möglichst flexibel, wenn das Arbeitsangebot knapp wird. Und klar sollte auch sein, dass sich die Marktposition der jungen Menschen nicht nur deswegen verbessert, weil es weniger von ihnen gibt, sondern weil immer mehr junge Menschen eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben und diese auch an völlig überfüllten Hochschulen einlösen (wollen). Das verringert dann noch mal die potenzielle Grundgesamtheit an Auszubildenden.

Aber es ist schon eine Zumutung, dass man in der Lage ist, einen solchen Artikel zu verfassen, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass es eben nicht so ist, wie der Artikel suggeriert – dass sich also die jungen Leuten gleichsam die Angebote aussuchen können, dass sie wie auf Rosen gebettet werden von den Arbeitgebern, dass sich das Problem des Mangels an Asubildung gleichsam „von alleine“, irgendwie biologisch gelöst hat. Denn die Autorin hätte zumindest darauf hinweisen müssen, dass es sehr wohl immer noch zahlreiche Schulabgänger gibt, die aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen Ausbildungsplatz finden können: Im vergangenen Jahr sind von den Schulabgängern immer noch 270.000 nicht in eine duale oder fachschulische Berufsausbildung eingemündet, sondern in das so genannte „Übergangssystem“, in dem viele von ihnen teilweise mehrere Jahre geparkt werden. Das Fatale an solchen Artikeln ist doch letztendlich, dass bei allen sicher zu würdigenden Verbesserungen der Ausbildungssituation der Eindruck verfestigt wird, es gibt diese anderen jungen Menschen gar nicht mehr. Und denn real davon betroffenen Jugendlichen wird der Eindruck vermittelt, es muss also in jeden Fall nur an ihnen liegen, dass sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Was sicher bei dem einen oder anderen auch der Fall ist, aber eben nicht bei allen.

Man darf die aktuell sichtbaren und sich angesichts der demografischen Entwicklung sowie der veränderten Berufswahl weiter zuspitzenden Knappheitsrelationen auf dem Ausbildungsmarkt nicht isoliert sehen von dem, was in den Jahren zuvor passiert ist, als die Angebots-Nachfrage-Relationen genau umgekehrt waren. Hierzu ein Beispiel aus dem Artikel „Das Elend mit der Umlage“ von Velten Schäfer:

»Margit Haupt-Koopmann, Arbeitsagenturchefin im Nordosten, sprach kürzlich Klartext: Rund 5000 Lehrstellen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern, doch nur 3000 potenzielle Bewerber … Laut Haupt-Koopmann pendeln mehr als 2000 junge Leute zur Ausbildung in benachbarte Bundesländer, so viele also, wie statistisch im Land fehlen. Anderswo kümmert man sich um sie: Laut Haupt-Koopmann gibt es Fahrschulzuschüsse und Hilfen beim Autokauf oder der Wohnungssuche. Im Nordosten dagegen gebe es „noch immer junge Leute, die trotz Lehrvertrags auf Unterstützung von uns angewiesen sind“. Was Haupt-Koopmann nicht erwähnt, ist eine andere Statistik: Den 2000 fehlenden Ausbildungsanwärtern standen im Land im Juni 2013 rund 8000 junge Arbeitslose zwischen 15 und 25 Jahren gegenüber – von denen viele keine Ausbildung haben, manche auch keinen Schulabschluss. Doch andere sind in den 2000er Jahren einfach ausgesiebt worden.«

Hier wird auf eine ganz zentrale Aufgabe der vor uns liegenden Legislaturperiode hingewiesen: Nicht nur die Bedingungen für die Ausbildung der neuen Schulabgänger verbessern und fördern, sondern den vielen, die zu Zeiten des Bewerberüberschusses der Zugang zu einer ordentlichen Berufsausbildung versperrt worden ist, sollt eine ordentliches Angebot gemacht werden, eine qualifizierte Berufsausbildung nachzuholen. Und hierfür brauchen wir keine warmen Worte wie jüngst vom BA-Vorstand Heinrich Alt, der mit diesen Menschen „Gespräche“ im Jobcenter führen möchte, sondern zum einen vernünftige finanzielle Unterstützung während der nachholenden Ausbildung (eine Investition, die sich um ein Mehrfaches auszahlen würde) sowie neue Konzepte für den berufsschulischen Teil der Ausbildung. Davon würde man gerne mal was hören.

Das Land der Niedriglöhne und die es umgebenden Länder

Die Berichterstattung über eine neue Studie des IAB zum Thema Niedriglöhne in Deutschland war eindeutig und tut besonders weh vor dem Hintergrund des internationalen Vergleichs: „Jeder vierte Deutsche muss für Niedriglohn arbeiten„, so beispielsweise Spiegel Online: »Knapp ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland bezieht einen Niedriglohn von weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde. Das geht aus einer Studie des Forschungsinstituts IAB hervor. Europaweit gibt es nur in Litauen mehr Geringverdiener als hierzulande.« Es handelt sich um die Studie „Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich“ von Thomas Rhein. Man muss dabei beachten, dass es um einen Vergleich der Niedriglohnbeschäftigung zwischen Deutschland und 16 anderen europäischen Ländern geht und sich die dafür verwendeten Daten aus das Jahr 2010 beziehen.

Datengrundlage der Studie ist der „Survey on Income and Living Conditions“ (EU-SILC), eine repräsentative Befragung von Haushalten in den Mitgliedsländern der EU, bei der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte mit Angaben zur Arbeitszeit in allen Betrieben unabhängig von deren Größe oder Branche erfasst werden. Das erlaubt eine umfassende Analyse.

Wichtig ist natürlich die Frage, wie „Niedriglohn“ abgegrenzt wird, also ab welchem Lohneinkommen kann man von einem Niedriglohn sprechen. Die vorliegende Studie bezieht sich auf eine international gängige Definition: »Die Höhe der Niedriglohnschwelle wird in Relation zum mittleren Lohn bzw. Medianlohn in einem Land bestimmt. Genauer: Ein Lohn gilt als Niedriglohn, wenn er unter dem Schwellenwert von zwei Dritteln des Medians liegt. Wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse wird die Niedriglohnschwelle für jedes Land separat ermittelt. Auf Grundlage dieser Schwelle lässt sich die Niedriglohnquote … als Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten ermitteln.« Der Median wird statt des arithmetischen Mittels verwendet, weil diese Kennzahl, bei der die Lohneinkommen in eine untere und eine obere Hälfte sortiert werden, unempfindlicher ist gegen einige wenige Ausreißer, die beim arithmetischen Mittel, also dem „normalen“ Durchschnitt, sofort zu Auswirkungen führen.

Für die Interpretation der Werte besonders wichtig:  Wenn man die Niedriglohnschwelle definiert als zwei Drittel des Medians des jeweiligen Landes, dann ist das der zentrale Indikator »… für die Größe des Niedriglohnsektors in einem Land und damit auch für die (Un-)Gleichverteilung der Lohneinkommen, allerdings nur für die untere Hälfte der Lohnverteilung.« Und ganz vollständig muss man hinzufügen: ein Maß für die Lohnungleichheit in einem bestimmten Land, wie wir gleich noch sehen werden bei Betrachtung der unterschiedlichen Niedriglohn-Schwellen in den einzelnen Ländern. Außerdem muss auch darauf hingewiesen werden: Niedriglohnbeschäftigung muss nicht unbedingt mit Einkommensarmut einhergehen: »Denn die Armutsgefährdung hängt nicht nur vom individuellen Bruttolohn, sondern auch von anderen Einkünften, von der Wirkung des Steuer- und Transfersystems und vom Haushaltskontext ab.« Natürlich ist das für ein Überschreiten der Einkommensarmut notwendige Lohneinkommen für einen Alleinstehenden niedriger als für einen Alleinverdiener, der mit seinem Lohneinkommen eine vierköpfige Familie ernähren muss/will.

Auf dieser methodischen Grundlage errechnet sich für Deutschland ein Niedriglohn-Schwellenwert von 9,54 Euro pro Stunde. Das sieht in anderen Ländern vor dem Hintergrund der dortigen Lohneinkommensverteilung naturgemäß anders aus: »In den übrigen Ländern liegen die Schwellenwerte in einer großen Spannweite zwischen 1,08 Euro (Bulgarien) und 15,80 Euro (Dänemark).«

Deutschland hat mit einem Anteil von 24,1 Prozent an allen Beschäftigten den höchsten Wert unter den Vergleichsländern, wenn man einmal von Litauen (27,5 Prozent) absieht. Der Anteilswert von 24,1 Prozent in Deutschland entspricht einer Zahl von 7,1 Millionen Menschen, die zu Niedriglohnbedingungen arbeiten müssen.

Die Studie von Rhein versucht aber auch, die gängigen Erklärungen, die für die hohen Anteilswerte in Deutschland vorgetragen werden, einer Prüfung zu unterziehen: die steigende Zahl der Minijobber; Frauen, die Lohnnachteilen besonders stark ausgesetzt sind; die Zunahme der befristeten Beschäftigung, u. a. bei jüngeren Berufseinsteigern, verbunden mit teils geringen Einstiegsverdiensten. In der Studie wird dies vergleichend untersucht anhand einer Fokussierung auf insgesamt sechs Länder, darunter die vier größten EU-Länder, die Niederlande sowie Dänemark als Vertreter des skandinavischen Wohlfahrtsstaaten-Typs. Hier einige der wichtigsten Befunde aus der Studie:

Geschlecht: Die Niedriglohnquote der Frauen liegt in Deutschland  mit 32,4 Prozent fast doppelt so hoch wie die der Männer. In keinem anderen Land (mit Ausnahme Österreichs) ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern derart ausgeprägt wie bei uns. Erkennbar wird die unselige Rolle, die die „Minijobs“ in Deutschland spielen: »In Deutschland arbeiten deutlich mehr als 40 Prozent aller Geringverdiener in Teilzeit. Dazu trägt auch die Verbreitung der geringfügigen Teilzeitarbeit (Minijobs) bei: Über 11 Prozent aller Geringverdiener arbeiten hierzulande zwölf Wochenstunden oder weniger – ein Anteil, der in keinem anderen Land auch nur annähernd erreicht wird.« Und von den Minijobs sind überwiegend Frauen betroffen.
Qualifikation: Geringqualifizierte (ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium) sind besonders häufig in der Niedriglohnbeschäftigung zu finden – in Deutschland liegt der betreffende Anteil bei über 44 Prozent. Aber: nur 18 Prozent aller Niedriglohnbezieher gering qualifiziert. Mehr als vier von fünf Geringverdienern in Deutschland haben eine abgeschlossene Ausbildung – das ist mehr als in jedem der anderen der untersuchten Länder.

Einer der für die arbeitsmarktpolitische Diskussion wichtigste Befund der Studie sei hier besonders herausgestellt:

»Jedoch lässt sich die Größe des deutschen Niedriglohnsektors nicht allein auf strukturelle Besonderheiten zurückführen. Vielmehr zeigt der Ländervergleich, dass auch „Kerngruppen“ des Arbeitsmarkts betroffen sind. Das lässt sich anhand einer Gruppe verdeutlichen, die eine Kombination von lauter „günstigen“ Merkmalen aufweist: männlich, unbefristet vollzeitbeschäftigt in einem Betrieb mit mehr als 50 Beschäftigten, inländische Staatsangehörigkeit, abgeschlossene Ausbildung, mindestens 30 Jahre alt« (Rhein 2013: 7; Hervorhebung nicht im Original).

Auch die immer noch besondere Rolle Ostdeutschlands kann den großen Niedriglohnsektor nicht erklären, denn auch bei einer separaten Betrachtung zwischen West und Ost zeigt sich für Westdeutschland die beschriebene Größe des Niedriglohnsektors.

»Letztlich können also weder persönliche, noch betriebliche, noch regionale Strukturmerkmale befriedigend begründen, warum die Lohneinkommen im unteren Bereich der Verteilung hierzulande stärker differenziert sind als in anderen europäischen Ländern. Vielmehr muss der Befund als allgemeines Phänomen begriffen werden, das sich quasi „quer“ durch alle Personengruppen zieht« (Rhein 2013: 7).

Der Niedriglohn hat sich in Deutschland von den Rändern in die Mitte gefressen, wenn man es mal anders ausdrücken soll.

Bei der Suche nach möglichen Erklärungen weist Rhein darauf hin, dass ein wichtiger institutioneller Faktor in diesem Zusammenhang die kontinuierlich abnehmende Tarifbindung deutscher Beschäftigter und Betriebe sei. Die arbeitsmarktpolitischen Reformen des letzten Jahrzehnts haben den Trend zu mehr Lohnungleichheit zwar nicht herbeigeführt, könnten aber zu seiner Fortsetzung beigetragen haben, so seine Vermutung.

In diesem Kontext wird uns in Deutschland immer wieder gesagt, die „tolle Arbeitsmarktentwicklung“ bei uns sei einer Folge der „Arbeitsmarktreformen“ und die Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung sei der Preis, den man für die positive Beschäftigungsentwicklung zu zahlen habe. Aber das sei doch besser, als wenn die Menschen gar keine Arbeit hätten. Aber hier gießen die Befunde der Studie Wasser in den Wein, denn:

»Im Ländervergleich ergeben sich allerdings keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Niedriglohnempfänger und dem Beschäftigungsstand. Dies würde dafür sprechen, dass eine erhöhte Lohnspreizung keine zwingende Voraussetzung für dauerhafte Erfolge am Arbeitsmarkt ist« (Rhein 2013: 9).

Wenn Unsinn Wirklichkeit wird – das „Bürokratiemonster“ Betreuungsgeld taucht aus dem Loch Ness staatlicher Leistungen auf

Diese Tage schauen alle wie gebannt auf die (Nicht-)Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, der zum 1. August dieses Jahres auch formal scharf gestellt wird. Dabei wird von vielen übersehen, dass neben dem Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz am gleichen Tag auch eine neue Leistung das Licht der Welt erblicken wird, die vor wenigen Monaten eine heftige Debatte in Deutschland ausgelöst hatte – das Betreuungsgeld. Darf man an dieser Stelle erinnern an den fundamentalistischen Rigorismus, mit der gegen bzw. für diese neue Geldleistung aus dem unerschöpflichen Beglückungsfundus des Staates argumentiert und polemisiert wurde?

Für die einen symbolisiert das Betreuungsgeld den frauen- und familienpolitischen Rückschritt par excellence, insofern wurden und werden begriffliche Zuspitzungen wie „Herdprämie“ oder auch „Kita-Fernhalteprämie“ verwendet. Von den anderen wurde das Betreuungsgeld zur Lichtgestalt der dadurch angeblich realisierbaren „Wahlfreiheit“ der Familien zwischen Eigen- oder Fremdbetreuung hochstilisiert.

Das alles erscheint bei einer Geldleistung in Höhe von 100 Euro pro Monat, ab August 2014 dann 150 Euro pro Monat, mehr als übertrieben.

Aber die ganze neue Geldleistung an sich ist ein Sinnbild zum einen für die immer mehr um sich greifende „Playmobil“-Sozialpolitik (zu der beispielsweise auch der „Pflege-Bahr“ in Höhe von sensationellen 5 Euro pro Monat gehört), also Geldleistungen, die bei genauerer Draufsicht rausgeschmissenes Geld mit wenig bis gar keiner Wirkung darstellen. Zum anderen ist das Betreuungsgeld ein Sinnbild für Leistungen, bei denen der notwendige Aufwand zur Erbringung in keinem Verhältnis steht zu der eigentlichen Leistung. Und dafür ist das Betreuungsgeld ein besonders eindrucksvolles Beispiel.

Unter der Überschrift „Bürokratiemonster“ Betreuungsgeld berichtet Handelsblatt Online am Beispiel von Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen die Problematik mit dem Verwaltungsaufwand thematisiert haben:

»Das umstrittene Betreuungsgeld könnte die Städte und Kreise mehr kosten als erwartet. Denn die „Herdprämie“ schaffe erheblichen Verwaltungsaufwand – und somit Kosten, sagen die Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen. 83,5 zusätzliche Stellen seien nötig, was jährlich insgesamt 4,7 Millionen Euro koste, rechnet der Landkreistag NRW vor. Die Grünen gehen davon aus, dass es sogar noch teurer werden könnte. Der Grund: das Betreuungsgeldänderungsgesetz. Das macht es möglich, das Betreuungsgeld mit einer zusätzlichen Prämie von 15 Euro als Altersvorsorge oder für die Ausbildung der Kinder anzulegen. Die Folge: Noch mehr Aufwand für die Verwaltung – und noch mehr Kosten, die auf die Kommunen zukommen.«

Über eines sollte man sich bewusst sein: Würde das Gesetz mit seinen Anforderungen wirklich ganz korrekt umgesetzt werden, dann müsste ein erheblicher Aufwand getrieben werden vor Ort, also in den Kommunen. Nehmen wir nur als ein Beispiel für die Untiefen der Leistung: Scheinbar klar ist die Regelung, dass die Eltern von „betreuungsgeldfähigen“ Kindern dann die Leistung bekommen (können), wenn sie ihr Kind nicht in eine öffentlich geförderte Kindertageseinrichtungen oder zu einer öffentlich geförderten Tagesmutter bringen. Das hört sich einfacher an, als es ist, denn um diese Anspruchsvoraussetzung prüfen zu können, bräuchte man eigentlich eine Liste mit allen Eltern, die ihre Kinder in einer der genannten und öffentlich geförderten Betreuungsformen untergebracht haben, denn die haben ja dadurch keinen Anspruch mehr auf das Betreuungsgeld. Aber dieses Wissen ist in der Mehrzahl der Kommunen schlichtweg nicht vorhanden, die müssten also erst einmal ein Register aufbauen. Und damit nicht genug: Eigentlich müsste man dann ja in einem engmaschigen Kontrollsystem mögliche Statusänderungen, die zu einem Anspruchsverlust führen könnten, verfolgen. Die wenigen Ausführungen mögen aufzeigen können, dass es sich hier insgesamt um eine neue Leistung handelt, deren Schildbürgerstreichhaftigkeit sich kaum übertreffen lässt. Und was machen viele Kommunen? Sie setzen das eben nicht so um, wie man es eigentlich müsste bei isolierter Betrachtung, sondern sie „verlassen“ sich auf die Angaben der Bürger/innen, dass das dann schon so stimmt. Das kann und muss man aus einer pragmatischen Sicht so machen, denn ansonsten wäre der Bürokratieaufwand nochmals eine Nummer größer.

Neben dem jede normalen Wirtschaftlichkeitsmaßstäbe sprengenden Bürokratiekosten, die mit der Einführung der neuen Leistung verbunden sind, wird in dem Artikel auch eine weitere sozialpolitische Kapriole der Bundesregierung sichtbar: Noch vor dem Inkrafttreten dieser neuen Leistung hat man das Betreuungsgeld bereits ergänzt um eine weitere Variante: Mit dem „Betreuungsgeldergänzungsgesetz“ (so die richtige Bezeichnung: Gesetzentwurf sowie Beschlussempfehlung und Bericht) hat man die an sich schon fragwürdigen 100 Euro auch noch mit einem zusätzlichen Anreiz versehen, wenn sie genutzt werden für den Aufbau einer Riester-Rente oder für ein ominöses Bildungsparen!

»Durch das Betreuungsgeldergänzungsgesetz soll ermöglicht werden, die Leistung, die Eltern nach dem Betreuungsgeldgesetz erhalten, für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge oder ein Bildungssparen einzusetzen. Betreuungsgeldberechtigte, die sich dafür entscheiden, das Betreuungsgeld für eine dieser beiden Möglichkeiten einzusetzen, sollen hierfür einen Bonus von 15 Euro pro Monat erhalten. Hierdurch soll eine besondere Anreizwirkung geschaffen werden.« Die Finanzindustrie bekommt oder soll sogar noch ein Teil dieser neuen „Kinder-Leistung“ in den Hintern geschoben bekommen – ungeachtet der massiven Kritik an der Riester-Rente.

Bleibt für den einen oder die andere noch der Hoffnungsschimmer Verfassungsklage gegen diese neue Geldleistung. Hatte nicht Hamburg eine solche in Karlsruhe eingereicht? Aber auch hier gibt es vorerst keine guten Nachricht für das Lager der Vernunft:
»Das Bundesverfassungsgericht wird vor Inkrafttreten des Gesetzes zum Betreuungsgeld am 1. August nicht mehr über eine Klage Hamburgs entscheiden. Das sei ausgeschlossen, sagte ein Gerichtssprecher in Karlsruhe am Donnerstag auf dpa-Anfrage. „Wann darüber entschieden wird und auf welche Weise ist völlig offen.“ Der Hamburger SPD-Senat hatte im Februar wegen juristischer und politischer Bedenken Klage eingereicht. Dem Bund fehle es an der notwendigen Gesetzgebungskompetenz, hatte Justizsenatorin Jana Schiedek damals erklärt. Zudem halte das Vorhaben Frauen davon ab, nach der Geburt eines Kindes wieder ins Berufsleben einzusteigen«, müssen wir hier lesen.

So bleibt nur zu hoffen, dass diese neue Geldleistung – die trotz des mickrig daherkommenden Betrags von 100 Euro in ihrer Gesamtheit eine Finanzsumme zwischen 1,2 bis 2,2 Milliarden Euro pro Jahr je nach Inanspruchnahme binden könnte – nach der Bundestagswahl wieder von wem auch immer abgeschafft wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.