Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene

War da nicht noch was? Genau, die Schlichtung im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste, in der Öffentlichkeit oftmals fälschlicherweise verkürzt auf „Kita-Streik“, aber es haben nicht nur die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen di Arbeit niedergelegt, sondern auch die Sozialarbeiter beispielsweise in der Jugend- oder Behindertenhilfe, die aber in der öffentlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht vorgekommen sind.

Heute findet in Fulda die vierte bundesweite Streikdelegiertenkonferenz der Gewerkschaft ver.di statt und dort wird der Verdi-Chef Frank Bsirske das Ergebnis der seit Wochen laufenden Mitgliederbefragung über eine Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs vorstellen und mit den Delegierten sicherlich sehr kontrovers diskutieren. Vgl. dazu auch den Artikel Die nächste Runde droht. Alfons Frese schreibt darin: »Die Verdi-Mitglieder haben über den Schlichterspruch im Kita-Streit abgestimmt. Jetzt wird wieder verhandelt – und womöglich gestreikt. Verdi-Chef Bsirske sitzt in der Klemme.«

„In der Klemme“ ist noch nett ausgedrückt. Nicht nur der Streik der Sozial- und Erziehungsdienste – als unbefristeter Arbeitskampf begonnen, nicht um ein paar Prozente im bestehenden Tarifsystem, sondern mit dem Ziel einer strukturellen Aufwertung der Fachkräfte im Tarifgefüge durch eine deutliche Höhergruppierung – ist krachend gescheitert, wenn man den Schlichterspruch, der bei langer Laufzeit nur kosmetische Anhebungen vorsieht und die Sozialarbeiter sogar leer ausgehen lässt, annehmen würde bzw. wird, denn die Führungsspitze von ver.di plädiert genau dafür (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015).

Es muss an dieser Stelle leider auch noch auf die zweite ebenfalls krachende Niederlage in einem aktuellen Arbeitskampf hingewiesen werden, gemeint ist der Streik bei der Deutschen Post DHL, wo man das eigentliche Ziel, eine Verhinderung bzw. wenigstens eine Abschwächung der Auslagerung der Zustellung in Billigtöchter des eigenen Unternehmens (DHL Delivery), nicht ansatzweise erreicht hat und mit einem mager daherkommenden Ergebnis den ebenfalls unbefristet begonnenen Streik abgebrochen hat nach einem Verhandlungstreffen mit dem Konzern in Bad Neuenahr-Ahrweiler (vgl. dazu meinen kritischen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Was steht heute also an in Fulda auf der Streikdelegiertenversammlung?
»Kommt der Ende Juni nach zähen Verhandlungen, Streiks und einer Schlichtung erreichte Tarifkompromiss zum Tragen, oder geht das ganze Theater von vorne los, weil die Erzieherinnen und Sozialarbeiter das Ergebnis ablehnen?«, so Alfons Frese in seinem Artikel.
Und weiter:

»Wenn die Mehrheit zugestimmt hat, ist alles gut. Wenn nicht, hat Bsirske ein Problem. „Dann hängen wir am Fliegenfänger“, heißt es im Umfeld des Verdi-Vorsitzenden.«

Ein leider schönes Bild, bringt es doch das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Gewerkschaft hat sich mit der Zustimmung ihrer Unterhändler zu dem Schlichtungsspruch in eine letztendlich unauflösbare Situation manövriert, sollte die Basis diesem Votum nicht folgen, denn warum sollten die kommunalen Arbeitgeber das Fass neu aufmachen, haben sie doch bereits die – natürlich nur unter „größten Bauchschmerzen“ erfolgte – Annahme des Schlichterspruchs verkündet, zugleich aber darauf hingewiesen, dass mehr nicht drin ist (zugleich steht der Verhandlungsführer der Arbeitgeber tatsächlich vor einer Ablehnungsfront vor allem der ostdeutschen Kommunen, die seinen Bewegungsspielraum gegen Null verengen).

Wenn die Verdi-Mitglieder aber dem Votum der Gewerkschaftsspitze, die offensichtlich die Panik ergriffen hat, nicht folgen, müsste man konsequenterweise eigentlich die abgekühlten Arbeitskampfmaßnahmen nach den Sommerferien wieder aufnehmen.
Die unrühmliche Rolle des Verdi-Vorsitzenden Bsirske verdeutlicht auch dieses Zitat aus dem Artikel von Frese:

„Wir müssen abwägen, ob wir es uns zutrauen können, durch weitere Streikwochen substanziell mehr zu erreichen.“ In dem Fall müsste man aber „gegen die Schlichtungsempfehlung und erhebliche Teile der Öffentlichkeit anstreiken“, warnte der Verdi-Chef seine Basis.

Wer hat denn seine Leute – auch für der Sache gewogene Leute überstürzt daherkommend – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Maßgabe, nur so lasse sich die angestrebte substanzielle Aufwertung der Berufe erreichen? Der heilige Geist oder die Führungsebene der Gewerkschaft? Wobei man an dieser Stelle der Vollständigkeit halber anmerken muss, dass es neben Verdi auch noch die GEW gibt, die ebenfalls gestreikt hat – und die offensichtliche Nicht-Synchronisation des gewerkschaftlichen Vorgehens wäre ein eigenes Thema.

Wenn man in einen unbefristeten Streik geht, dann muss man doch eine klare Vorstellung haben, wie und vor allem womit mindestens man da wieder rauskommen will. Es handelt sich um die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Arbeitskampf und man sollte diese auch so nur verwenden. Die gleiche offensichtliche Nicht-Strategie bei der Post und das gleiche fatale Ergebnis – eine Niederlage.
Wie auch immer die Sache heute ausgeht – unabhängig davon sind die Auswirkungen für die gewerkschaftliche Sache desaströs. Wenn man – wie es die Spitze der Organisation will – dem Schlichterspruch zustimmt, dann werden sich viele Aktive enttäuscht abwenden und sicher werden auch viele, die während des Streiks eingetreten sind, die Gewerkschaft wieder verlassen. Auf der anderen Seite wird eine Wiederaufnahme des Arbeitskampfes tatsächlich sehr schwierig bis unmöglich sein, nachdem man die Bewegung, die sich vor Ort im Streik entfaltet hat, abrupt ab- bzw. ausgebremst hat durch die mehrwöchige Abkühlphase über die Mitgliederbefragung, die natürlich auch deshalb so lange angelegt war, um die Leute am Ende dann doch wieder auf Linie zu bekommen.

Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.

Nachtrag: Mittlerweile sind die Abstimmungsergebnisse der befragten Mitglieder der beiden Gewerkschaften veröffentlicht worden: Ver.di-Basis lehnt Schlichterspruch ab: »Insgesamt lehnten 69,13 Prozent der Ver.di-Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst den Schlichterspruch ab« und von der GEW wird gemeldet: Mitgliederbefragung abgeschlossen: Enttäuschung, Wut und Realismus: »31,2 Prozent der befragten GEW-Mitglieder wollen den Schlichterspruch annehmen, 68,8 Prozent sprechen sich dagegen aus.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Dilemma mit den an sich sehr hohen Ablehnungswerten seitens der GEW-Mitglieder in der Pressemitteilung der Gewerkschaft: »Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt. Gleichzeitig lehnt eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden das Verhandlungsergebnis ab. Jetzt müssen die GEW-Gremien das Ergebnis politisch bewerten und das weitere Vorgehen beraten.« Anders ausgedrückt: Der erforderliche hohe Anteilswert von 75 Prozent für einen Streik wurde nicht erreicht, auf der anderen Seite einen Tarifabschluss auf der Basis von fast 70 Prozent Ablehnung? Es wird spannend bleiben, wie die beiden Gewerkschaften mit dieser Gemengelage umgehen werden.

Arbeitswelten: In der Fleischindustrie ist alles besser geworden! Wirklich? Und beim Daimler sprudeln die Gewinne – und die Fremdvergabe boomt

Viele werden sich erinnern an die Reportagen, Dokumentationen und Artikel, in denen die Verhältnisse im „Billigschlachthaus“ Deutschland angeprangert wurden, vor allem die Ausbeutung osteuropäischer Werkvertragsarbeiter, nicht nur hinsichtlich einer extrem niedrigen Bezahlung, sondern auch angesichts teilweise nur noch als kriminell zu bezeichnender Unterbringungsverhältnisse. Und keiner möge behaupten, dass mediale Berichterstattung nichts verändern kann – sie kann Druck aufbauen, Politiker zum Jagen tragen, Verbesserungen auslösen. Das war gerade in dieser Schmuddel-Branche der Fall (vgl. dazu auch den Beitrag Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist vom 15.11.2014). Zugleich lehrt die Erfahrung, dass man immer wieder die Dinge auf Wiedervorlage legen muss, um nachzuschauen, ob die Veränderungen nur angekündigt oder temporärer Natur waren und sich zwischenzeitlich eventuell die alten Verhältnisse wieder eingestellt haben. »Etwa ein Jahr ist es her, dass die Fleischbranche feierlich Besserung gelobte: Die Ausbeutung osteuropäischer Billiglöhner, von Subunternehmen in die Schlachthöfe geschickt, sollte ein Ende haben, ebenso die Unterbringung der Menschen in Schrottimmobilien zu Wuchermieten.« So beginnt ein Artikel von Karl Doeleke, mit der allerdings die Hoffnungen relativierenden Überschrift Zweifel an Reformen in der Fleischindustrie. Damals wurde ein Verhaltenskodex der Fleischwirtschaft ins Leben gerufen, der auch Mindestlohn und soziale Standards für Wohnungen regelt. Überwacht werden soll der von unabhängigen Wirtschaftsprüfern. Hört sich gut an. Nun aber hat die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ das gemacht, was bereits angedeutet wurde – den Sachverhalt nicht nur auf Wiedervorlage legen, sondern ihn auch mit Leben füllen, in dem einige scheinbar einfache Fragen gestellt werden: Werden die Regeln im Kodex alle umgesetzt? Welche Schlachtkonzerne verpflichten ihre Subunternehmer dazu? Wie wird die Einhaltung überwacht? Die Antworten darauf fielen sparsam aus.

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Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist

Amazon wurde vor genau zwanzig Jahren – natürlich stilgerecht in einer kalifornischen Garage – gegründet und ist heute ein Megakonzern mit über 150.000 Mitarbeitern und einem weltweiten Nettoumsatz von 89 Mrd. US-Dollar, 11,9 Mrd. davon in Deutschland. Während in vielen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen der Aufstieg des Unternehmens teils aus skeptischer Distanz, nicht selten aber auch voller Bewunderung für die aggressive Unternehmensphilosophie behandelt wurde (vgl. als nur ein Beispiel von vielen den Kommentar Service-Monster aus Seattle von Caspar Busse), hat Michael Merz sein Geburtstagsständchen überschrieben mit Kein Tag zum Feiern.
Seine kompakte Sichtweise auf die Unternehmensgeschichte verdeutlicht der folgende Passus:

»Vor genau 20 Jahren verkaufte der Amazon-Patriarch Jeff Bezos das erste Buch via Internet. Ursprünglich wollte er seine Firma »Relentless« (englisch für gnadenlos, unerbittlich) nennen, womit er wohl für mehr Authentizität gesorgt hätte. Denn rücksichtslose Expansion kennzeichnen zwei Dekaden Amazon: Westeuropäische Erlöse wurden jahrelang in Luxemburg versteuert, Autoren und Verleger mit schlechten Konditionen geknechtet, etliche Buchläden aufgrund des Preiskampfs in den Ruin getrieben.«

Der Verdrängungswettbewerb werde auch auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen, so die Perspektive der Gewerkschaft ver.di. Und über die Arbeitsbedingungen bei Amazon wurde in den zurückliegenden Jahren in den Medien durchaus kritisch berichtet.

Seit zwei Jahren befinden sich Beschäftigte im Arbeitskampf um einen Tarifvertrag. Immer wieder kommt es zu Streiks an den neun deutschen Standorten. Bislang allerdings haben diese Aktionen nicht wirklich Wirkung entfaltet (bzw. aufgrund der Bedingungen vor Ort nicht entfalten können). Ver.di will Verträge nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels durchsetzen. Diese werden weiterhin verwehrt. Das Unternehmen beharrt darauf, in Anlehnung an den schlechteren Logistik-Tarif zu vergüten. Lediglich kleine Verbesserungen gibt es: dezentrale Pausenräume, Klimaanlagen, Wasserspender.

Auf der anderen Seite wird von denjenigen, die Amazon weniger kritisch sehen, immer wieder darauf hingewiesen, dass in den deutschen Logistikzentren – in denen es mittlerweile überall Betriebsräte gibt – der niedrigste Einstiegslohn (in Leipzig) bei 9,75 Euro liegt und damit deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn – und das Amazon tatsächlich relativ vorbehaltlos auch bislang langzeitarbeitslosen Menschen eine Chance gibt. Wenn sie funktionieren, denn die Arbeit der „Picker“ und „Packer“ ist hart und die Leistungsanforderungen hoch und die Beschäftigten werden einem rigiden Controlling unterworfen. Das erklärt teilweise auch die erheblichen Schwierigkeiten der Gewerkschaft, einen Fuß in die Tür der Belegschaft zu bekommen, nicht nur, weil viele befristet arbeiten müssen, sondern gerade die vorher längere Zeit der Arbeitslosigkeit ausgelieferten Mitarbeiter von Amazon sind froh überhaupt wieder eine Beschäftigung bekommen zu haben.

Aber das Unternehmen plant vor und will zum einen gerüstet sein, wenn die Kollektivierungstendenzen in Deutschland stärker werden, vor allem aber, wenn die Kosten weiter gedrückt werden können und müssen, denn das ist in der Unternehmens-DNA von Amazon eingebrannt: Also hat man beispielsweise in der Nähe von Breslau neue Logistikzentren errichtet, die überwiegend in Deutschland lebende Kunden von Amazon bedienen und deren Beschäftigte deutlich „günstiger“ sind als die in Deutschland.

Amazon in Polen (und der Tschechei) – was da nicht was? Bereits  am 25. November 2013 konnte man in diesem Blog eine Aussicht auf das, was jetzt genauere Formen annimmt, lesen: Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt, so ist der damalige Beitrag überschrieben worden. Dort konnte man den folgenden Passus lesen:

»Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben – bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Und in einem Beitrag am 10. August 2014 musste dann nachgelegt werden: Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst: »Und jetzt, im August 2014, wird klar, dass es bei den neuen Logistik-Zentren in unseren Nachbarstaaten natürlich nicht um die Belieferung des osteuropäischen Marktes geht bzw. wenn, dann nur sekundär, sondern um eine strategische Alternative zu diesen unbotmäßigen und übergriffigen Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften in den deutschen Standorten. Amazon verlangt von deutschen Verlagen, dass sie Bücher verstärkt über ausländische Versandzentren schicken, um als ein Ergebnis daraus die potenziell streikgefährdeten deutschen Logistikstandorte umgehen zu können … Dass der Versender durch seine Umgehungstaktik mittelfristig massiv Arbeitsplätze an seinen deutschen Standorten gefährdet, liegt auf der Hand. Die Löhne in Polen und Tschechien liegen teilweise um mehr als die Hälfte niedriger als in Deutschland.«
Hinsichtlich des letzten Punktes, also des Lohnkostengefälles, muss der damalige Beitrag korrigiert bzw. präzisiert werden. Denn mittlerweile wissen wir mehr über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort, zumindest in Polen, denn dort beginnt man auf der einen Seite zu begreifen, wofür man gebraucht wird und zugleich sprießen erste Pflänzchen der Kollektivierung auch dort.

Darüber berichtet Jörg Winterbauer in seinem Artikel Die „Versklavung“ der polnischen Amazon-Mitarbeiter: »13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.«

Wie immer ist man mit großen Hoffnungen gestartet: »Als Amazon Ende 2014 seine Versandzentren in Polen eröffnete, war die Freude groß. Janusz Piechocinski, der Wirtschaftsminister, bezeichnete die Investitionen als einen „Meilenstein“ für die Wirtschaft Polens. Und Amazon kündigte an, Tausende neue Jobs zu schaffen – in Polen, einem Land mit einer Arbeitslosenquote von etwa zwölf Prozent, wurde diese Nachricht sehr positiv aufgenommen.« Und für das Unternehmen Amazon sind Breslau und Posen ideale Standorte, denn die Kombination aus unmittelbarer geografischer Nähe zu dem riesigen Markt Deutschland und sehr niedrigen Löhnen gibt es so sonst nur noch in Tschechien.
Und hier gleich die Korrektur bzw. Präzisierung des Lohngefälles aus meinem Beitrag vom 10. August 2014:

»Amazon findet in Polen Angestellte für die überwiegend sehr einfachen Tätigkeiten, die in den Amazon-Logistikzentren zu verrichten sind, zu einem Viertel des deutschen Preises: 12,50 Zloty bekommt ein einfacher Lagerarbeiter brutto in Breslau und 13 Zloty in Posen – das sind etwa drei Euro.«

Doch jetzt, nach der Eröffnung und Inbetriebnahme der drei Logistik-Zentren in Polen zeigt sich, dass Amazon Probleme mit staatlichen Behörden und unzufriedenen Angestellten bekommt. Die Staatliche Arbeitsinspektion (PIP), die in Polen die Einhaltung des Arbeitsrechts in den Betrieben kontrolliert, hat eine große Anzahl an Verstößen in Breslau aufgedeckt. Überstunden wurden nicht bezahlt oder bei Abwesenheit wegen Krankheit oder Schwangerschaft wurde – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – kein Lohn gezahlt.

Auch »die Gewerkschaften haben unter den Angestellten von Amazon Mitglieder gewonnen und erheben ihre Forderungen. Bei Amazon in Breslau ist vor allem die Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) aktiv.« Von dieser Seite wird nicht nur die – gerade im Vergleich zu Deutschland – extrem niedrige Bezahlung kritisiert, sondern auch, »dass die Hälfte der Arbeiter bei Amazon über Zeitarbeitsfirmen angestellt seien, die ihre Angestellten „wie Sklaven behandeln“.«

Und der folgende Passus verdeutlicht, dass die neuen Zentren entgegen der Unternehmenspropaganda sehr wohl in einem funktionalen Zusammenhang gesehen werden müssen mit den gewerkschaftlichen „Umtrieben“ in Deutschland und zugleich kann man aber auch eine positive Botschaft der Solidarisierung entnehmen:

»Am 24. und 25. Juni wurden die Schichten für die Arbeiter von zehn auf elf Stunden verlängert, berichtet die PIP. Zu dieser Zeit streikten Angestellte der meisten deutschen Amazon-Versandzentren. In der Nachtschicht vom 24. auf den 25. Juni gab es einen Spontan-Protest in Posen: Ein Teil der Belegschaft verlangsamte die Arbeit in der elften Stunde, um seine Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Lohnbedingungen und die Solidarität mit den deutschen Amazon-Angestellten auszudrücken.«

Denjenigen, die mit guten Gründen die Arbeitsbedingungen bei Amazon kritisieren, mag es kein Trost sein sehen zu müssen, dass es den Beschäftigten, auch denen aus der Verwaltung bis zum Management in den USA nicht wirklich besser zu gehen scheint, was vielleicht auch mit erklären kann, warum die Forderungen von ver.di für dieses amerikanische Unternehmen „mysteriös“ daherkommen. So berichtet Christian Rickens in seinem Artikel Wie ein Unternehmen uns alle verändert hat:

»… trotz seiner Größe hat sich Amazon viel von einem Start-up bewahrt. Ein ehemaliger Mitarbeiter spottet sogar, das Unternehmen vereine von beiden Welten das Schlechteste: das Chaos, die langen Arbeitstage und die fehlenden Gewinne eines Start-ups mit der Knickerigkeit und der Bürokratie eines Konzerns.
Noch immer hausen in der Amazon-Zentrale in der Innenstadt von Seattle viele Manager in fensterlosen Arbeitsboxen, die aus rohen Spanplatten zusammengezimmert sind – Verpackungsabfälle aus den Amazon-Logistikzentren. Und weil es hier noch immer keine Kantine gibt, stauen sich um die Mittagszeit die Food Trucks zwischen den Büroklötzen. Von Gratis-Sushi wie bei Google können die Amazon-Mitarbeiter nur träumen. Flüge in der Business Class? Bei Amazon ebenso verpönt wie Powerpoint-Präsentationen.
Vielleicht trägt diese Käfighaltung der Amazon-Mitarbeiter dazu bei, dass das Unternehmen auch nach 20 Jahren nichts von seinem Wettbewerbsgeist verloren hat.«

Aber Amazon hat nicht nur hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen ein dickes Fragezeichen verdient, auch die Auswirkungen des Geschäftsmodells auf den stationären Einzelhandel, auf die vielen Online-Händler, die sich auf dem Amazon-Marktplatz als Heerschar kleiner Handelsameisen verdingen bis hin zu den Kunden, die die Monopolisierung wichtiger Teilbereiche des Online-Handels irgendwann einmal bezahlen werden müssen. Hinzu kommt der Boom der Paketdienste und der enorme Preisdruck, den solche „Mega-Kunden“ wie Amazon hier ausüben kann und das auch tut.

»Dass Jeff Bezos es ernst meint, wenn er, wie er einmal sagte, Geschäftspartner wie »kranke Gazellen« jagt, musste zuletzt die Deutsche Post erfahren. Am Mittwoch wurde kolportiert, Amazon sei dabei, einen eigenen Lieferservice zu installieren – für die Post wäre das ein schwerer Schlag«, so Michael Merz in seinem Artikel.

Hinsichtlich des Kampfes der Gewerkschaft ver.di kann man sich informieren über deren Sicht auf das Unternehmen Amazon auf einer eigenen Webseite unter http://amazon-verdi.de.

Ansonsten sei hier die folgende Reportage aus der Sendereihe ZDFzoom empfohlen, die einen besonderen und kritischen Blick wirft auf das „Ausbeutungssystem“ gegenüber den vielen kleinen Händlern, die sich Amazon unterwerfen (müssen):

ZDFzoom: Die Macht von Amazon. Günstig, aber gnadenlos? (17.06.2015): »Der Online-Handel boomt, allen voran: Amazon. Schon heute wird etwa ein Viertel des gesamten deutschen Onlinehandels von Amazon organisiert. Auch kaum ein Verkäufer kommt am US-Konzern vorbei. Der Grund: Amazon fährt eine Niedrigpreisstrategie, ist Preisbrecher für den Verbraucher. Doch was die Kunden freut, ist für Verkäufer bitter.«