Gentrifizierung – die zerstörerischen Schneisen hinter einem abstrakten Begriff und die Maschinerie von Angebot und Nachfrage

Auch wenn das im noch laufenden Wahlkampf wie so viele andere wahrlich bedeutsame Themen keine Rolle spielt – eine der ganz großen sozialen Fragen, mit denen wir es zu tun haben und die absehbar an Konfliktintensität und Verzweifelungspotenzial gewinnen wird, ist die Wohnungsfrage. Ein eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum für die vielen Menschen in den unteren und zunehmend auch mittleren Einkommensschichten in den (groß)städtischen Wachstumsregionen ist bereits vorhanden und wird sich der Mechanik der großen Angebots-Nachfrage-Maschienerie entsprechend weiter entfalten müssen, wenn man nicht korrigierend eingreift. Wenn man das überhaupt kann.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder in der Debatte über das, was in vielen Großstädten abläuft, der Begriff der „Gentrifizierung“ verwendet.

Was muss man sich darunter vorstellen? Das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) sollte das wissen. 2011 hat das Institut einen Erläuterungsversuch veröffentlicht. Die Stadtforscher schreiben in ihrem kurzen Beitrag Was ist eigentlich Gentrifizierung?: »Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht.« 

mehr

Wir haben einen Plan. Sogar einen „Masterplan Medizinstudium 2020“. Und eine Kommission, die sich über das erforderliche Geld Gedanken machen soll. Das fehlt noch

Wenn man über Ärzte und damit auch über den Zugang zu diesem Berufsfeld spricht, dann geht es in mehrfacher Hinsicht um eine große Sache. Auf Ärzte sind alle angewiesen, die krank sind und Hilfe bedürfen. Sie haben das kostbarste Gut, die Gesundheit bzw. eben ihre Beeinträchtigung, mehr oder weniger in der Hand. Sie genießen immer noch sehr hohes Ansehen, gemessen am Berufsprestige, in der Bevölkerung. Und auch wenn sie bzw. ihre umtriebigen Funktionäre immer schrecklich klagen – finanziell geht es den meisten wirklich sehr gut. Erst vor kurzem wurde dies wieder deutlich in Erinnerung gerufen, durch eine Studie des ifo-Instituts, in der die Unterschiede beim Lebenseinkommen von Erwerbstätigen nach ihrem Ausbildungsabschluss untersucht wurden. Da stehen die Mediziner ganz oben, wenn auch mit einem so typischen Unterschied zwischen Männern und Frauen: Ein Medizinstudium bringt einem Mann über das gesamte Erwerbsleben im Schnitt bis zu 983.000 Euro mehr Einkommen als eine Lehre, bei Frauen beträgt das Plus „nur“ 612.731, kann man diesem Artikel entnehmen: Studieren lohnt sich – aber was? Zum Vergleich mit einem anderen Studium: Sozialarbeit schlägt bei Männern im Vergleich zu einer Lehre nur mit einem Plus von knapp 20.000 Euro zu Buche. Bei Frauen sind es hier 79.000 Euro – und damit mehr als die Männer, eine seltene Fallkonstellation.

Zugleich wird immer wieder in den vergangenen Jahren über einen bereits vorhandenen, zumindest aber sicher drohenden „Ärztemangel“ berichtet und viele Menschen gerade in den ländlichen Räumen wissen davon ein Lies zu singen, was das ganz praktisch bedeuten kann, wenn die Haus- und Fachärzte in der Region wegbrechen.

Und was vielen Menschen nicht wirklich bewusst ist – bereits heute würde in in nicht wenigen Krankenhäusern vor allem in den eher ländlichen Regionen der Betrieb zusammenbrechen, wenn man nicht auf zahlreiche ausländische Ärzte zurückgreifen könnte. Ausweislich der Ärztestatistik der Bundesärztekammer waren in den Krankenhäusern insgesamt 189.622 Ärzte tätig. Davon waren 30.600 ausländische Ärzte, also mehr als 16 Prozent der Krankenhausärzte, wobei zu bedenken ist, dass die nicht über alle Kliniken gleich verteilt sind, sondern bestimmte Krankenhäuser deutlich höhere Anteilswerte aufweisen. Deutschland importiert also bereits heute eine nicht unerhebliche Zahl an Medizinern – bei denen man bedenken muss, dass sie in ihren Heimatländern ausgebildet worden sind und dort natürlich in der medizinischen Versorgung fehlen -, um den laufenden Betrieb aufrechterhalten zu können.

Das kann bei einigen Ländern ganz erhebliche Verwüstungen in deren Gesundheitssystem auslösen. So arbeiten derzeit in deutschen Krankenhäusern 4.500 Ärzte aus Rumänien und Bulgarien – die Zuwanderung aus diesen beiden Staaten wird ansonsten bei uns in Deutschland immer mit Blick auf eine „Armutszuwanderung“ geführt, dieser Teil der Migration hingegen wird kaum ins Bewusstsein gerufen, auch nicht in der Medienberichterstattung, wo oftmals lieber „Problemhäuser“ im Ruhrgebiet gezeigt werden. Hinzu kommen 1.385 polnische Ärzte, 1.500 aus Russland bzw. aus Staaten des ehemaligen Sowjetunion und 1.220 aus Ungarn. Mit Blick auf die Flüchtlingsfrage interessant: Die Zahl der in deutschen Kliniken arbeitenden syrischen Ärzte beläuft sich auf 1.720.

Das könnte man durchaus als einen Hinweis verstehen, dass in Deutschland selbst möglicherweise zu wenig Ärzte ausgebildet werden. Dass man mit dieser Hypothese nicht falsch liegt, kann auch durch die Berücksichtigung von strukturellen Veränderungen gefestigt werden. So ist der Anteil der Frauen unter den Ärzten (und vor allem unter den Studienanfängern) deutlich gestiegen. Bei den berufstätigen Ärzten liegt der Frauenanteil mittlerweile bei 46 Prozent. Und von den 11.531 Studienanfängern im Fach Humanmedizin im Jahr 2016 waren 64 Prozent Frauen. Das verändert aber auch das Arbeitsvolumen, durch eine Zunahme des Teilzeitanteils unter den Medizinern. Selbst wenn also die gleiche Kopfzahl an Ärzten ausgebildet wird, kann es durch den Teilzeiteffekt zu einer Mangelsituation kommen. Hinzu kommt, dass der laufende und vor allem der anstehende Ersatzbedarf aufgrund der Kohorteneffekte innerhalb der Ärzteschaft, die dort genau so wirken wie in anderen Berufsgruppen auch, ganz erheblich sein wird, denn viele Ärzte aus den geburtenstarken Jahrgängen stehen vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben.

Und noch sicherer wird man bei der Diagnose einer nicht ausreichenden Zahl an Medizinstudienplätzen, wenn man sich die Abbildungen am Anfang dieses Beitrags anschaut und komplementär beispielsweise dieses Zitat des Präsidenten der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery zur Kenntnis nimmt: „Noch im Jahr 1990 gab es in den alten Bundesländern 12.000 Plätze im Studiengang Humanmedizin. Heute sind es gerade noch 10.000, obwohl durch die Wiedervereinigung acht medizinische Fakultäten hinzugekommen sind.“

Man sieht an den Abbildungen tatsächlich – die Zahl der Studienanfänger in Humanmedizin ist wie festgenagelt. Eine eigentlich erforderliche und von vielen durchaus seit Jahren geforderte Ausweitung der Studienkapazitäten in der Humanmedizin hat nicht stattgefunden.

Aber es gibt neben der quantitativen auch noch eine qualitative Dimension des Veränderungsbedarfs des Medizinstudiums. Seit vielen Jahren bekannt ist die Debatte, ob wirklich die Abiturnote das Gewicht haben sollte bei der Auswahl der Studierenden. Und auch die Art und Weise des Studiums wird immer wieder hinterfragt, beispielsweise hinsichtlich der traditionellen Aufteilung des Studiums und der immer wieder geforderten – und in einigen „Modellstudiengängen“ auch seit längerem praktizierte – frühzeitige Einbindung des Versorgungsalltags in das Studium. In den letzten Jahren wird außerdem eine angesichts der tatsächlichen Bedeutung völlig untergewichtete Rolle der Allgemeinmedizin im Studium und in den ersten praktischen Schritten der angehenden Mediziner beklagt.

Aber in dieser anspruchsvollen Gemengelage soll nun endlich der Durchbruch geschafft worden sein. »Mit einem großen Reformplan krempeln Bund und Länder die Ausbildung für angehende Ärzte um«, erfahren wir beispielsweise aus diesem Artikel: Zukünftige Landärzte dürfen eher studieren. »Patientenkontakte schon im ersten oder zweiten Semester, dazu Studienplätze, die später zur Arbeit als Landarzt verpflichten: Das sind die Kernelemente des „Masterplans Medizinstudium 2020“, den Bund und Länder am Freitag verabredet haben. Ziel der Reform ist eine größere Praxisnähe des Studiums und die Stärkung der Allgemeinmedizin gegenüber Spezialistentum.« So der Versuch einer Verdichtung dessen, was da beschlossen worden ist. Und das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium überschlägt sich fast gemessen an den üblichen ministerialen Standards schon in der Überschrift der Pressemitteilung: Rheinland-Pfalz begrüßt Verabschiedung des Masterplanes Medizinstudium 2020 – Bätzing-Lichtenthäler: Neue Ärzte braucht das Land! „Heute haben wir in Berlin den Masterplan Medizinstudium 2020 verabschiedet und damit die Weichen für eine neue Ärztegeneration gestellt“, so wird die Ministerin zitiert. Die insgesamt 41 Maßnahmen des Masterplans werden dafür sorgen, »dass künftige Medizinergenerationen kompetenzorientiert, praxisbezogener und patientennäher ausgebildet werden.« Das hört sich ja fast nach revolutionären Veränderungen im bestehenden System an.

Wer einen Blick werfen möchte in das Original des Masterplans, um sich einen ungefilterten Eindruck zu verschaffen, der kann das hier machen:

„Masterplan Medizinstudium 2020“ beschlossen am 31. März 2017 in einer gemeinsamen Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit von Bund und Ländern sowie den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD

Andreas Mihm berichtet in der Online-Ausgabe der FAZ unter der Überschrift Medizinstudenten müssen nah an den Patienten und raus aufs Land schon deutlich reservierter und zugleich den Finger auf eine ganz große offene Wunde legend:

»Der „Masterplan Medizinstudium 2020“ sieht vor allem eine Stärkung der allgemeinärztlichen Ausbildung vor. Auch soll die Abiturnote künftig eine weniger große Bedeutung bei der Zuweisung der knappen Studienplätze bekommen. Auf die von der Ärzteschaft verlangte Ausweitung der Studienplätze um zehn Prozent oder etwa 1000 Plätze konnten sich die Gesundheits- und Wissenschaftsminister aus Kostengründen nicht einigen. Überdies steht der Plan unter einem einschränkenden „Haushaltvorbehalt“.«

Die Ärzte Zeitung greift den kritischen Aspekt der Noch-nicht-Finanzierung des Masterplans ebenfalls und schon in der Überschrift auf: Masterplan startet ohne Finanzplan. Schätzungen zufolge kostet die Umsetzung pro Jahr etwa 300 Millionen. Doch wer soll das Geld zahlen?

»Eine Expertenkommission soll nun Details und Kosten klären … Die Kommission soll in den kommenden zwölf Monaten untersuchen, wie sich der Plan auf die Studienplatzsituation auswirkt und mit welchen Kosten Bund, Länder und die Kostenträger zu rechnen haben werden.«

Wird hier etwa ein Produkt verkauft, bei dem man noch gar nicht weiß, wer und wie man die Lieferanten bezahlen soll?

Diese Skepsis wird durch solche Hinweise mehr als gestützt: »Die Gesundheitsminister sähen es am liebsten, wenn die Kultus- und Wissenschaftsseite die Finanzierung übernimmt. Das sei völlig unmöglich, erklärten die Kultusminister noch vor zwei Wochen.« Die Kultusministerkonferenz hat beschlossen, »dass die Länder zunächst keine zusätzlichen Mittel für die Umsetzung des Plans bereitstellen werden. Sie forderten die Regierung auf, über Zuschläge in den Fallpauschalen auch die Beitragszahler in die Pflicht zu nehmen. Der schwarze Peter liegt nun bei den Medizinfakultäten – und den Medizinstudierenden von morgen.«

Das hört sich nicht wirklich nach einer Revolution an. Sondern nach einem föderalen Zuständigkeits- und Verantwortungsabschiebegemengelage, wie wir das aus vielen anderen Politikfeldern zur Genüge kennen. Florian Staeck kommentiert in der Ärzte Zeitung unter der Überschrift Masterplan 2020 – Gröhes unbezahlte Reform:

»Die Studienreform zeigt einmal mehr die verqueren Strukturen des deutschen Bildungsföderalismus: Bundespolitiker können die Party steigen lassen, zahlen müssen sie andere. Allein die Neustrukturierung des Praktischen Jahres mit einem verbindlichen Quartal in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung soll zwischen 30 bis 40 Millionen Euro pro Jahr kosten. Und die Frage, ob in einer alternden Gesellschaft mehr Medizinstudienplätze nötig sind, ist mit dem Masterplan erst gar nicht gestellt worden.«

Damit wären wir auch wieder bei der quantitativen Dimension, die in diesem Beitrag bereits angesprochen wurde. „Der Masterplan verzichtet zum gegenwärtigen Zeitpunkt darauf, die Forderung nach einer generellen Erhöhung der Studienplatzkapazität aufzugreifen“, so heißt es lapidar und damit die Sache auf Jahre vertagend.

Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer, wird in einer Pressemitteilung so zitiert: »Offenbar auf Betreiben der Länder wurde die vollständige Umsetzung des Masterplans unter Haushaltsvorbehalt gestellt. Dadurch fehlen klare Vorgaben für wichtige Bereiche. Eine Entscheidung über die dringend erforderliche Erhöhung der Studienplatzkapazitäten haben die Verhandlungspartner auf unbestimmte Zeit vertagt. Auch bei der bundesweiten Etablierung von Lehrstühlen für Allgemeinmedizin bleibt der Masterplan vage und sieht lediglich eine Soll-Bestimmung vor. Bloße Absichtserklärungen bringen uns jedoch nicht weiter. Hier muss dringend nachgeschärft werden.«

So wird das nichts. So bleibt das durch die Nicht-Finanzierung reine Reform-Prosa. Wenn man solche Ausführungen zur Kenntnis nehmen muss – »Als „kleine Revolution“ bezeichnete Forschungsministerin Professor Johanna Wanka (CDU) das Projekt und bezog sich dabei auf das geplante Training von Arzt-Patientengesprächen« -, dann wird klar, dass hier ganz kleine Brötchen gebacken werden. Diese Selbstverständlichkeit soll eine „kleine Revolution“ sein und dafür braucht man einen Masterplan? Traurig, sehr traurig.

Womit wir abschließend bei einem weiteren ganz bitteren Wermutstropfen angekommen wären. Denn mehr als notwendig wäre eine wirkliche „kleine Revolution“ des Medizinstudiums. Was damit gemeint ist? Bereits am 16. April 2016, also vor fast genau einem Jahr, wurde in diesem Blog der Beitrag Welches Medizinstudium soll es sein? Und wie viele sollen das machen (dürfen)? Zum „Masterplan Medizinstudium 2020“ in Zeiten der Mangels und des Überschusses veröffentlicht. Darin findet man den unverändert gültigen Gedankengang: Es geht nicht nur um die Frage, ob in Zukunft mehr Studienplätze benötigt werden und nicht nur, wie nun aber geschehen, ob man bestimmte Elemente aus den Reformstudiengängen für alle zukünftigen Medizinstudenten verallgemeinert plus der Option, eine „Landarztquote“ bei der Auswahl der Studierenden einzuführen, sondern es müsste um die Frage nach der Einbettung eines zu reformierenden Medizinstudiums in einen umfassenderen Kontext, konkret: der Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe insgesamt, gehen. Allen müsste doch klar sein, dass die Zeiten einer pyramidalen, arztzentrierten Versorgung vorbei sind und es mit Blick auf die vor uns liegenden Versorgungsaufgaben um die Verbindung mit den Potenzen und Kapazitäten anderer Gesundheitsberufe, die ebenfalls einer Weiterentwicklung und in vielen Fällen einer (auch akademischen) Aufwertung bedürfen, gehen wird bzw. gehen muss. So schon im vergangenen Jahr.

Konkret würde das bedeuten: Von einer echten Revolution könnte man sprechen, wenn man sich endlich zu einem großen Schritt nach vorne durchgerungen und beispielsweise ein Medical School-Modell auf die Schiene gesetzt hätte, bei dem nicht nur angehende Mediziner ausgebildet werden, sondern diese gemeinsam mit den anderen Gesundheitsberufen, mit denen sie im Team zusammenarbeiten werden bzw. die in Zukunft immer mehr Aufgaben eigenverantwortlich werden übernehmen müssen, die heute noch als ärztliche Tätigkeiten reklamiert werden. Gemeinsam, wenigstens streckenweise, mit den Pflegekräften, mit den Physiotherapeuten, mit den psychologischen Psychotherapeuten, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur, wenn die angehenden Ärzte von Anfang an lernen, dass es auch andere Disziplinen und Berufe gibt, die ihren Stellenwert und Bedeutung und Nützlichkeit im Gesundheitswesen haben, wird sich substanziell etwas im System verändern können. Wenn auch nur auf lange Sicht, aber die Weichen hätte man durch einen Masterplan stellen können, der seinen Namen wirklich verdient.

Das, was jetzt vorgelegt wurde, ist die offensichtlich mühevolle und aufgrund der Nicht-Finanzierung wahrscheinlich sowieso nur weitgehend Rhetorik bleibende Umsetzung dessen, was Union und SPD im Dezember 2013 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben: »Für eine zielgerichtetere Auswahl der Studienplatzbewerber, zur Förderung der Praxisnähe und zur Stärkung der Allgemeinmedizin im Studium wollen wir in einer Konferenz der Gesundheits- und Wissenschaftsminister von Bund und Ländern einen „Masterplan Medizinstudium 2020“ entwickeln.« Nicht mehr, nicht weniger ist gemacht worden. Auftrag erledigt.

Aber das ist keine Revolution, nicht mal eine kleine.

Ausbildung: Viele studieren, die duale Berufsausbildung kämpft gegen den Sinkflug und das „Übergangssystem“ wächst wieder

„Akademisierungswahn“, so lautet eines der Schlagworte der bildungspolitischen Diskussion. „Azubi-Mangel“ ein anderes, das man sich noch vor einigen Jahren nicht hat vorstellen können, als viele junge Menschen beim anstehenden Übergang von der Schule in den Beruf keinen Fuß in die Tür bekommen haben – und durchaus folgerichtig aufgefangen bzw. geparkt wurden im vielgestaltigen „Übergangssystem“. Aber die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine sowohl demografisch bedingte Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen im Sinne einer Abnahme der Zahl der jungen Menschen wie auch eine durch gesellschaftlichen Wertewandel verursachte Verschiebung zwischen den Ausbildungssektoren. Das Jahr 2013 kann und muss man sich als ein historisches Datum merken, denn in diesem Jahr gab es erstmals mehr Studienanfänger als neue Auszubildende im dualen Berufsausbildungssystem. Während sich die Zahl der Studienanfänger auf hohem Niveau stabilisiert, kämpft die duale Berufsausbildung weiter gegen den erkennbaren Sinkflug, wenn man denn diesen an der Zahl der Neuzugänge misst.

Aber die Abbildung verdeutlicht noch zwei andere Auffälligkeiten. Eine davon wird oftmals übersehen. Die Zugangszahlen in das Schulberufssystem erscheinen seit vielen Jahren wie festgenagelt knapp oberhalb der 200.000 Neuzugänge pro Jahr. Dabei handelt es sich hier neben dem dualen Berufsausbildungssystem um einen ganz wichtigen Teilbereich der beruflichen Qualifizierung, denn hier sind beispielsweise zahlreiche Berufe des Gesundheitswesens- und Sozialwesens angesiedelt, nicht nur die Pflegeberufe, sondern beispielsweise auch die Erzieher/innen. Und man muss nur etwas mitbekommen haben von der höchst umstrittenen Fachkräftemangel-Debatte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen wie mehr alte Menschen und Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die einfache Frage zu stellen, warum die Zugangszahlen angesichts des offensichtlichen Bedarfs hier nicht viel stärker angestiegen sind.

Die Abbildung mit der Entwicklung in den Jahren von 2005 bis 2016 verdeutlicht aber noch eine andere Auffälligkeit. Man erkennt den deutlichen Rückgang der Neuzugänge in das überaus heterogene Übergangssystem zwischen Schule und Beruf, das nicht nur, aber auch viele junge Menschen aufnehmen musste, als es „zu viele“ Bewerber für einen Ausbildungsplatz gegeben hat, die dann nicht zum Zuge gekommen und „unversorgt“ geblieben sind. Daneben gehören zum Übergangssystem auch diejenigen, die einen oder einen höheren Schulabschluss zu erwerben versuchen. Hinzu kommen zahlreiche junge Menschen, die tatsächlich oder einfach aufgrund der Marktbedingungen als noch nicht „ausbildungsreif“ (ein übrigens höchst umstrittener Begriff) etikettiert wurden und werden und es durchaus nicht selten auch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht sind, jedenfalls nicht im bestehenden System.

Aufgrund der vor allem demografisch bedingten Entspannung, aber auch eines zunehmenden Anteils an jungen Menschen, die ein Studium aufnehmen und damit nicht mehr dem dualen Berufsausbildungssystem zur Verfügung stehen, hat sich für einen Teil der der jungen Menschen, die unter den für sie schlechteren Marktbedingungen in das Übergangssystem abgedrängt worden sind, die Chance auf den direkten Einstieg in eine Berufsausbildung erhöht. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich niedergeschlagen in einem massiven Rückgang der Neuzugänge in das Übergangssystem von weit über 400.000 auf knapp 253.000 im Jahr 2014, als der bisherige Tiefstand erreicht wurde. Aber seit 2015 steigt die Zahl der Zugänge wieder an, im vergangenen Jahr waren es ausweislich der Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung des Statistischen Bundesamtes fast 300.000.

Schaut man genauer in die Statistik des Übergangssystems, dann erkennt man im Vergleich der beiden Jahre 2015 und 2016, dass der Anstieg ausschließlich auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen zurückgeht, also vor allem beim Berufsvorbereitungsjahr und den einjährigen Berufseinstiegsklassen.

An dieser Stelle wird dann auch plausibel erwartbar, dass das Übergangssystem eben nicht einer „biologischen“ Lösung, also einem generell mangelbedingten Aussterben, zugeführt wird, sondern dass wir durchaus realistisch einen weiteren Anstieg der Neuzugänge erwarten müssen. Denn zum einen ist die aufgrund der gestiegenen Studierneigung  dem dualen Berufsausbildungssystem immer wieder empfohlene „Öffnung nach unten“, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, angesichts der realen Marktverhältnisse von vielen Betrieben durchaus umgesetzt worden, aber es gibt systemstrukturelle Grenzen für diesen Prozess, die zum einen mit der nicht weg zu diskutierenden Verhaltensseite bei einigen jungen Menschen zu tun haben, zum anderen aber – und weitaus gewichtiger – mit der Tatsache, dass eben auch die duale Berufsausbildung einem erheblichen kognitiven Upgrading unterworfen wurde, was auch angesichts der Berücksichtigung der technologischen Entwicklung in vielen Handwerken auch nicht vermeidbar ist. Daran aber scheitern nicht wenige praktisch begabte junge Menschen. Hinzu kommt: Viele der jüngeren Flüchtlinge, die potenziell für eine Berufsausbildung in Frage kommen könnten, werden erst einmal im Übergangssystem landen.

Erneut starker Anstieg der Anfänger bei Bildungs­programmen im Übergangs­bereich im Jahr 2016, so ist die Mitteilung vom 10.03.2017 überschrieben: Für 2016 weist die vorläufige Berichterstattung einen Anstieg der Eintritte in das Übergangssystem in Höhe von +12,2 Prozent aus. Dabei wird von den Bundesstatistikern darauf hingewiesen, dass der Anstieg eher unterzeichnet ist, da aus Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zum Übergangsbereich im Wesentlichen nur Vorjahresdaten vorliegen. Und was wird als Erklärung für den Anstieg angeboten?

»Seit dem Jahr 2015 steigt die Zahl der Anfängerinnen und Anfänger im Übergangsbereich wieder an. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf Programme zum Erlernen der deutschen Sprache für jugendliche Flüchtlinge und Zugewanderte zurückzuführen.«

Abschließend ein Blick auf eine der Großbaustellen der bildungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre- zugespitzt formuliert: Immer mehr wollen studieren, immer weniger eine klassische Berufsausbildung (ob dual oder fachschulisch) absolvieren. Zu diesem hoch kontroversen Themenfeld hat sich nun das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu Wort gemeldet mit einer neuen Studie:

Regina Dionisius und Amelie Illiger (2017): Trends ins Studium und in die duale Berufsausbildung unter Berücksichtigung ausgewählter Einflussfaktoren. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 182, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

Und das, was darin vorgetragen wird, ist für den einen oder anderen sicher überraschend: Während immer mehr junge Menschen ein Studium beginnen, sinken die Anfängerzahlen in der dualen Berufsausbildung. Die Zahlen allein lassen jedoch nicht auf einen veränderten Studier- oder Ausbildungstrend der Jugendlichen in Deutschland schließen. Die BIBB-Studie beleuchtet die Faktoren, welche die Anfängerzahlen in den unterschiedlichen Bildungsbereichen beeinflussen. Die Analyse basiert auf Daten der amtlichen Statistik für den Zeitraum 2005-2014 und berücksichtigt neben den Effekten der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, der steigenden Zahl von Bildungsausländern/-ausländerinnen, der demografischen Entwicklung sowie der Situation am Ausbildungsmarkt auch länderspezifische Einflüsse. Panel Regressionen mit fixen Effekten weisen einen leichten Trend zu mehr Studierenden nach. Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung wird jedoch nicht festgestellt. »Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung kann für den gewählten Betrachtungszeit­ raum nicht festgestellt werden. Die Neigung zur Aufnahme einer dualen Berufsausbildung hängt im Wesentlichen vom Ausbildungsplatzangebot ab«, so Dionisius/Illiger (2017: 22).

Offensichtlich plädieren die beiden Autoren der Studie für eine Abkehr von der bisherigen getrennten Sicht auf die einzelnen Ausbildungssektoren:

»Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern die Bildungssäulen „duale Berufsausbildung“ und „Studium“ wei­terhin als Alternativmodelle nebeneinanderstehen. Rauner … beschreibt unter dem Titel „Akademisierung beruflicher und Verberuflichung akademischer Bildung“ einen Prozess, den Esser als „Entsäulung“ … bezeichnet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Entwick­lung sogenannter „hybrider Ausbildungsformate“ … Hierunter fallen vor allem die dualen Studiengänge sowie die doppelqualifizierenden Bildungsgänge, in denen gleichzeitig Berufsabschluss und Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kön­nen. Quantitativ erfährt insbesondere das duale Studium einen starken Zulauf. So hat sich das Angebot an dualen Studiengängen zwischen 2005 und 2014 mehr als vervierfacht … und die Zahl der Anfänger/-innen im dualen Studium an Hochschulen mehr als verzehnfacht.«