Merkel als Spielverderberin für die Anhänger der „Rente mit 70“? Aber die lassen nicht locker

Über das „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem SPD-Herausforderer Martin Schulz, das eher als TV-Duett daherkam, ist in den vergangenen Tagen schon eine Menge geschrieben worden. Immer wieder wurde beklagt, dass sozialpolitische Themen so gut wie gar nicht angesprochen wurden. Armut, Pflege – Fehlanzeige. Auch die Rententhematik wurde nur en passant erwähnt, aber da landete die ansonsten im Ungefähren verweilende Kanzlerin ein Aussage mit Deutlichkeitswert: »Es sei „schlicht und ergreifend falsch“, sagte Merkel beim TV-Duell mit entschlossen klingender Stimme, dass die Union die Rente mit 70 propagiere – wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gerade behauptet hatte. Es gebe keinen Beschluss eines CDU-Gremiums dazu. „Das ist falsch.“ Und es habe nichts zu bedeuten, „wenn irgendeine Untergruppe oder irgendein Flügel“ so etwas fordere.« So die Darstellung bei Kerstin Gammelin, die ihren Artikel so überschrieben hat: Merkel brüskiert Parteifreunde mit Absage zur „Rente mit 70“. Offensichtlich ist das dann noch nicht so eindeutig in der Union.

Denn das sind nicht irgendwelche Hinterbänkler der CDU, die sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode für ein späteres Renteneintrittsalter ausgesprochen haben.
Finanzminister Wolfgang Schäuble und der selbsternannte Hoffnungsträger der Union, Jens Spahn, gehören dazu. Und Carsten Linnemann, der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, des Wirtschaftsflügels der Union. Auch der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger vertritt das offensiv. Besonders aktiv in dieser Angelegenheit sind immer wieder Funktionäre der Jungen Union, die offensichtlich ganz scharf sind auf die Anhebung des Renteneintrittsalters.

Wie dem auch sei – Die Bundeskanzlerin ahnt, welche Sprengkraft das Thema hat bzw. bekommen könnte und angesichts ihrer Prämisse, dass in den kommenden Jahren eigentlich nichts zu tun sei an der Rentenfront (frühestens ab 2030 und dazu will sie dann eine Kommission einsetzen, die sich mal Gedanken machen kann), hat sie schlichtweg keine Lust, sich so ein Thema ins Wahlkampfnest legen zu lassen. Später kann man dann ja immer noch die Koordinaten wieder ändern.

In den Medien wurde dieser Punkt hingegen sofort aufgegriffen. Die FAZ stellt die eher rhetorisch gemeinte Frage Keine „Rente mit 70“ – geht das überhaupt? Und Spiegel Online sekundiert weiterführend und die Sache an sich gar nicht infragestellend: Warum die Rente mit 70 kommt – aber anders heißen wird.

Und auf der gleichen Seite konnte man schon einige Stunden vorher diese unmissverständliche Botschaft zur Kenntnis nehmen: Top-Ökonomen kritisieren Merkels Nein zur Rente mit 70: »Hochrangige Experten halten das nicht für tragfähig. Die deutsche Altersvorsorge werde so auf Dauer kaum zu finanzieren sein.« Also wenn „Top-Ökonomen“ das sagen, dann muss die Kanzlerin sich aber warm anziehen. Nur als redaktionelle Fußnote: Als „hochrangige Rentenexperten“ werden uns Michael Hüther, seines Zeichens Chef des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, sowie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und sozialdemokratischer Vorzeige-Ökonom, verkauft. Noch vor kurzem hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schon mit der Artikel-Überschrift über Marcel Fratzscher vernichtend: Claqueur der SPD: »DIW-Chef Marcel Fratzscher hat sich ganz der SPD verschrieben. Das beschädigt seine Glaubwürdigkeit als Ökonom, hat aber Methode«, so Rainer Hank in dem Artikel. Aber bei der „Rente mit 70“ kann man ihn natürlich wieder als Top-Ökonom reanimieren.

In diesem Zusammenhang als Nebenasspekt relevant der Hinweis auf eine Debatte, die Norbert Häring in seinem Blog-Beitrag Der DGB sollte den Sachverständigenrat sehr ernst nehmen aufgegriffen hat. Dort geht es um die vor kurzem gegen die abweichenden Meinungen des „schwarzen Schafes“ (bzw. in diesem Fall besser als „rotes Schaf“) der Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, der auf dem „Gewerkschaftsticket“ in das Gremium gekommen ist. Der wird von den vier anderen gerade massiv und unterirdisch angegriffen. Anfang 2019 wird es einen Nachfolger für Bofinger geben müssen und Häring schreibt dem DGB ins Stammbuch: »Wohin die Reise nach Vorstellung des marktliebenden Ökonomenmainstream gehen soll, hat Ifo-Ökonom Niklas Potrafke in seinem Angriff auf Bofinger in der FAS deutlich gezeigt. Er argumentierte ganz explizit, dass gewerkschaftsnominierte Sachverständigenratsmitglieder keine echten Ökonomen seien, und lies dies in dem Vorschlag an den DGB gipfeln, DIW-Chef Marcel Fratzscher als Nachfolger von Bofinger zu nominieren. Fratzscher hat sich als Hofökonom von Sigmar Gabriel redlich bemüht, mit Ungleichheitsrhetorik sozialdemokratischen Stallgeruch anzunehmen. Das sollte aber keinen im DGB darüber hinwegtäuschen können, dass er daraus fast genau die gleichen Folgerungen zieht, wie marktliberale Ökonomen. Das ist vor allem bessere Bildung und frühkindliche Förderung, garniert mit ein klein bisschen Umverteilung. Nach der jüngsten Fernsehdiskussion von Merkel und Schulz rügte Fratzscher ebenso wie IW-Chef Michael Hüther die Kanzlerin dafür, dass sie der Rente mit 70 eine Absage erteilt hatte.«

Womit wir wieder beim hier besonders interessierenden Thema „Rente mit 70“ wären. Und wieder wird von vielen Medien der Eindruck transportiert, „die“ Ökonomen seien für die Rente mit 70. Was natürlich großer Humbug ist, denn erstens gibt es nicht „die“ Ökonomen und zweitens gibt es durchaus welche, die dagegen sind (vgl. dazu nur als Beispiel den Beitrag Rente mit 70: Pro und Contra des WDR5-Wirtschaftsmagazins „Profit“, in der neben Hüther als Anhänger der Idee auch Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, zu Wort kommt, der das ablehnt).

Aber Spiegel Online berichtet über „die“ Ökonomen:

»Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Festlegungen der Parteien. Von „Wahltaktik“ spricht Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Rente mit 70 auszuklammern, schade der deutschen Gesellschaft. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht das genauso: „Die demografische Entwicklung, die verlängerte Lebenszeit, machen ein späteres Renteneintrittsalter notwendig. Anders kann das System nicht finanziert werden.“«

Nun könnte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass in diesem Blog bereits vor kurzem, am 16. August 2017, dieser Beitrag veröffentlicht wurde: Vorwärts zur „Rente mit 70“? Eine große Koalition von „Top-Ökonomen“ und die Untiefen der Rasenmähermethode.  Oder auf den aufschlussreichen Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016. Und um das alles abzurunden sei hier auch noch auf diesen Beitrag verwiesen: Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert. Er wurde am 22. April 2016 veröffentlicht.

Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde, wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 70 Jahre angehoben werden würde – für viele Menschen eine enorme Rentenkürzung. Das kann man nur verstehen, wenn man sich etwas auskennt in der Mechanik des bestehenden Rentensystems. An das gesetzliche Renteneintrittsalter sind die Abschläge gekoppelt, die man lebenslang bei seiner Rente in Kauf nehmen muss, wenn man vorzeitig in Rente geht oder gehen muss.

Der Abschlag beträgt pro Monat vorzeitiger Inanspruchnahme 0,3 Prozent, pro Jahr 3,6 Prozent. Dies gilt nicht nur für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten, sondern auch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Seit 2012 wird die Altersgrenze von 63 Jahren für diese Renten schrittweise auf das 65. Lebensjahr angehoben. Der maximale Abschlag beträgt hierbei 10,8 Prozent. Denn für die Menschen mit dem Baujahr 1964 wird die „Rente mit 67“ gelten, die ja trotz des temporären Ausflugs in die (unter bestimmten Voraussetzungen) abschlagsfreie „Rente mit 63“ für einige wenige Jahrgänge nicht aufgehoben wurde.

Eine weitere Anhebung wird nun immer wieder mit dieser Argumentation begründet: Die steigende Lebenserwartung mache das Unterfangen einer Anhebung des Renteneintrittsalters unabdingbar: »In den Sechzigerjahren hatte ein 65-jähriger Mann im Schnitt noch rund zwölf Jahre zu leben, heute sind es 18 Jahre. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, auch dank des medizinischen Fortschritts. Bisher führte diese Entwicklung dazu, dass die Zeit des Rentenbezugs steigt, auf zuletzt durchschnittlich rund 20 Jahre (1957 waren es neun Jahre).«

Eine schematische Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre für bestimmte Menschen ein doppelter Schlag ins Gesicht. Zum einen haben wir eine erhebliche Spannweite der Lebenserwartung dergestalt, dass die unteren Einkommensgruppen (also die mit den in der Regel eben auch niedrigen Renten) um Jahre kürzer leben als die oberen Einkommensgruppen, die nicht nur höhere Renten bekommen, sondern diese auch länger in Anspruch nehmen können. Und hinzu kommt, dass eine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters gerade für die unteren Einkommensgruppen eine weitere Rentenkürzung bedeuten würde, denn viele von den Menschen hier arbeiten in Berufen, die man definitiv nicht bis in diese hohen Altersgruppen ausüben kann bzw. man wird vorher von den Arbeitgebern entsorgt und durch andere, jüngere Arbeitskräfte ersetzt und findet dann keine andere Beschäftigung mehr.

Warum ist das eigentlich so schwer zu verstehen – alles ist ungleich verteilt, das sollten Ökonomen eigentlich wissen.

Und wer sich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei an dieser Stelle diese Studie empfohlen:

Gerhard Bäcker, Andreas Jansen und Jutta Schmitz (2017): Rente erst ab 70? Probleme und Perspektiven des Altersübergangs. Gutachten für den DGB Bundesvorstand. IAQ-Forschung 2017-02, Duisburg 2017

Darin heißt es – neben einer detaillierten Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse – hinsichtlich der als Automatismus an „die“ steigende Lebenserwartung ausgestalteten Forderung nach einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters, dass das »an der Frage vorbei (geht), ob die Arbeitnehmer/-innen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Konstitution und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit auch tatsächlich in der Lage sind, länger zu arbeiten. Zudem ist es ungewiss, wie sich der Arbeitsmarkt über 2030 hinaus entwickelt. Auf einen Automatismus, der sicherstellt, dass die Unternehmen immer Arbeitsplätze in ausreichender Zahl für die (weiterarbeitenden) Älteren bereitstellen, kann nicht gesetzt werden. Zu berücksichtigen sind nicht nur die Unwägbarkeiten auf der Angebotsseite hinsichtlich der Größenordnung von Zuwanderung und Erwerbsbevölkerung, sondern auch auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes hinsichtlich der Entwicklung von Zahl und Struktur der Arbeitsplätze. Von maßgebender Bedeutung für die Arbeitsnachfrage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist die gesamtwirtschaftliche Entwicklung: Welches Wachstum ist zu erwarten, in welche Richtung weisen die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Arbeitsproduktivität?

Diese Ungewissheiten verbieten es, die Regelaltersgrenze an die Entwicklung der Lebenserwartung automatisch anzukoppeln. Die Anhebung des Rentenalters wäre dann nicht mehr das Ergebnis eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses, sondern würde wie ein Mechanismus funktionieren. Die Politik hat sich jedoch laufend mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu befassen und muss entsprechend reagieren. Durch eine vorgegebene automatische Anpassung könnte den Besonderheiten der Alterssicherung und der jeweiligen demografischen und ökonomischen Entwicklung nicht mehr Rechnung getragen werden.«

Vorwärts zur „Rente mit 70“? Eine große Koalition von „Top-Ökonomen“ und die Untiefen der Rasenmähermethode

Wenn in den Medien effektheischend von „Top-Ökonomen“ sie Rede ist und dann noch im Kontext sozialpolitischer Themen, dann sollten nicht nur aufgrund der hier nicht weiter zu verfolgenden Infantilität der Verwendung einer solchen Terminologie alle Alarmlampen angehen. Offensichtlich will man etwas als „alternativlos“ unter die Leute bringen und die Unausweichlichkeit wird dann bemäntelt mit der (scheinbaren) Autorität von Wissenschaftlern.

Das wird dann schon fragwürdig bis putzig, wenn es sich bei den Wissenschaftlern nun gerade um Verkörperungen interessengeleiteter Positionen handelt. Erneut werden wir in diesen Tagen Zeugen dieses je nach Stimmungslage als putzig oder entnervend zu bezeichnenden Vorgehens: Top-Ökonomen sprechen sich für Rente mit 70 aus: »Führende Wirtschaftswissenschaftler üben scharfe Kritik an den Wahlprogrammen: Statt Geschenke zu versprechen, sollten die Parteien die Bürger auf ein höheres Rentenalter ab 2030 vorbereiten«, so Birgit Marschall in ihrem Artikel.

Um wen handelt es sich hier, wenn von „führenden Wirtschaftswissenschaftlern“ gesprochen wird? Zum einen um Michael Hüther, Direktor des Arbeitgeber-Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Hüther ist seit 2001 Honorarprofessor an der privaten EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Oestrich-Winkel. Er ist in den Medien sehr präsent, aber sicher das Gegenteil eines unabhängigen Wirtschaftsforschers. Und das er beim hier interessierenden Thema für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters plädiert, überrascht angesichts der Stakeholder des von ihm geleiteten Instituts nicht wirklich, sondern gehört zu seiner Jobbeschreibung.

Aber Hüther bekommt Flankenschutz von einem anderen „Top-Ökonom“, der ebenfalls immer wieder in den Medien präsent ist – und diese Personalie mag den einen oder anderen überraschen: „Die Politik muss sich endlich ehrlich machen und den Menschen sagen: Die Lebensarbeitszeit wird weiter steigen müssen.“ Mit diesen Worten wird der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, in dem Artikel zitiert. Fratzscher wurde in der einschlägigen Presse schon mal als „Claqueur der SPD“ bezeichnet, so die abwertende Überschrift eines Artikels von Rainer Hank in der FAZ. vom 25. Juni 2017. Bereits 2014 befasste sich die FAZ mit der (parteipolitischen) Berater-Karriere von Fratzscher: Gabriels Geheimwaffe, so war der damalige Artikel überschrieben, als Sigmar Gabriel noch als Bundeswirtschaftsminister unterwegs war: »Marcel Fratzscher ist zum neuen Chefökonomen der Bundesregierung aufgestiegen. Mit Fleiß und einem untrüglichen Gespür für Macht.«

Ein der Union bzw. der FDP nahestehender Arbeitgeber-Ökonom und der „Hausökonom“ der SPD machen gemeinsame Sache? Bei einem derart sensiblen Thema wie dem Renteneintrittsalter? Das scheint dann irgendwie auf den ersten Blick für die Seriosität des Anliegens zu sprechen – und das ist sicher ein Grund, warum das unkritisch in einem Teil der Medien aufgegriffen und wiedergegeben wird. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt für die Resonanz solcher Forderungen ist die – wiederum scheinbare – Plausibilität der vorgetragenen Argumentation:
Die beiden Ökonomen haben die Parteien aufgefordert, die Bürger schon jetzt auf die „notwendige“ Erhöhung des Renteneintrittsalters von 67 auf 70 Jahre ab 2030 einzustimmen. Warum notwendig?

„Für jedes Jahr zusätzlicher Lebenserwartung müssen die Menschen acht Monate länger arbeiten, damit das Rentensystem überhaupt finanzierbar bleibt. Wir müssen irgendwann über die Rente mit 70 reden.“ Auch der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, sagte: „Die Rente mit 67 gilt ab 2030 für alle. Die Anpassungstreppe sollte anschließend verlängert und der neue Zielwert bei 70 Jahren liegen.“

Da ist sie wieder, die Argumentation mit „der“ Lebenserwartung:

»Die Ökonomen begründen ihren Vorstoß mit der steigenden Lebenserwartung. Ein Mann, der 1970 mit 65 Jahren in Rente ging, hatte im Schnitt noch knapp 14 Jahre seines Lebens vor sich, bei Frauen waren es gut 16 Jahre. 65-jährige Männer leben heute durchschnittlich noch fast 18 Jahre, Frauen sogar 21 Jahre. Entsprechend länger beziehen sie die Rente. „Diese Verschiebung der Lebenserwartung wird allen Prognosen zufolge weiter anhalten“, sagte Hüther. Derzeit kommen drei Erwerbstätige auf einen Rentner. Im Jahr 2030 sind es wegen der fortschreitenden Alterung nur noch zwei Erwerbstätige pro Rentner.«

Viele werden sich noch erinnern an die Verwerfungen, die mit der Durchsetzung der schrittweisen Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbunden war – vorangetrieben von der SPD und hierbei in Gestalt von Franz Müntefering in der ersten großen Koalition mit der Union. Aktuell erreichen Arbeitnehmer mit 65 Jahren und sechs Monaten die Regelaltersgrenze. Wer 1964 (nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland) oder später geboren wurde, muss bis 67 arbeiten, um abschlagsfrei in Rente gehen zu können.

Der springende Punkt ist der Hinweis auf die (lebenslangen) Abschläge, mit denen Arbeitnehmer konfrontiert werden, wenn sie vorzeitig in den Ruhestand gehen (müssen). Versicherte, die eine Altersrente vor Beginn der Regelaltersgrenze beziehen, müssen sog. versicherungstechnische Rentenabschläge in Kauf nehmen. Diese Abschläge belaufen sich auf 0,3 Prozent der Rente je vorgezogenen Monat, was einer Rentenminderung von 3,6 Prozent je Jahr entspricht. Sie können unter Berücksichtigung der laufenden Anhebung des Renteneintrittsalters bis zu 14,4 Prozent erreichen (in der Vergangenheit waren die Abschläge bei einer Regelaltersgrenze von 65 und einem vorzeitigen Renteneintritt mit 63 auf maximal 7,2 Prozent begrenzt).

Das IW hat sogleich der Argumentation der beiden Renteneintrittsaltersverlängerungsapologeten eine „Studie“ zur Seite gestellt:

Susanna Kochskämper (2017): Auswirkung einer längeren Lebensarbeitszeit auf die Rentenversicherung – Variationen in einem einfachen Simulationsmodell. IW-Report Nr. 25/2017, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft, 2017

Dazu schreibt das Institut zusammenfassend: »Dem demografischen Wandel hat die Politik bereits in der Vergangenheit Rechnung getragen, indem in mehreren Reformschritten die Rentenberechnung modifiziert wurde. Gibt es im Verhältnis mehr Rentner als Beitragszahler, nehmen nicht nur die Rentenversicherungsbeiträge zu. Gleichzeitig steigen auch die Renten langsamer als die Löhne. Dadurch wird nicht nur eine Generation mit den Folgen des demografischen Wandels belastet. Darüber hinaus wurde als dritte Stellschraube die Regelaltersgrenze verändert: Sie wird in den nächsten Jahren schrittweise auf 67 Jahre angehoben.

Allerdings zeigen Berechnungen verschiedener Autoren, dass ein Ansteigen der Altersgrenze auf 67 alleine die Auswirkungen des demografischen Wandels voraussichtlich nicht vollständig kompensieren kann, so dass Beitragssatz und Rentenniveau vollkommen stabil bleiben. Auch hier wird simuliert, wie sich eine höhere Regelaltersgrenze auf die Finanzierung der Rentenversicherung auswirken kann. Die Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung wie die anderer Studien: Unter der Annahme, dass künftig nicht alle Beitragszahler bis zur Regelaltergrenze arbeiten können, kann zwar selbst ein Anstieg über die 67 Jahre hinaus die Folgen der Bevölkerungsalterung auf die Rentenversicherung nicht vollständig aufheben. Umgekehrt zeigt sich aber sehr wohl ein positiver Effekt auf Beitragssatz und Rentenniveau.«

Zu den bereits seit längerem laufenden Aktivitäten des IW in dieser Frage vgl. auch schon den Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016.

Hier aber soll vor allem das – scheinbar plausible – Argument kritisch aufgegriffen werden, dass „die“ steigende Lebenserwartung eine (weitere) Anhebung des Renteneintrittsalters unausweichlich mache, zugleich aber durchaus zumutbar sei, weil „die“ Versicherten schließlich auch länger leben. Was aber ist davon wirklich zu halten?

Es handelt sich um eine ganz gefährliche Honigspur, die hier gelegt wird. Denn „die“ Lebenserwartung gibt es nicht und damit auch nicht „den“ Anstieg der Lebenserwartung. Wie so gut wie alles im Leben sind wir auch hier konfrontiert mit einer höchst ungleichen Verteilung – die aber durch die Verwendung von Durchschnittswerten eher verkleistert wird. Was auch die eigentliche Absicht ist.

Den Arbeitnehmern sollte klar werden, dass es sich bei den immer wieder vorgetragenen und von vielen Medien wiedergekäuten Argument, „die“ Lebenserwartung steige doch kontinuierlich und „wir“ beziehen immer länger Rente, also könne „man“ doch auch etwas länger arbeiten, um ein überaus vergiftetes Argument handelt.

Dazu bereits die Hinweise in meinem Blog-Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert vom 22. April 2016. Dort wurde herausgearbeitet, dass die schematische Erhöhung des Renteneintrittsalters für bestimmte Menschen ein doppelter Schlag ins Gesicht wäre. Zum einen haben wir eine erhebliche Spannweite der Lebenserwartung dergestalt, dass die unteren Einkommensgruppen (also die mit den in der Regel eben auch niedrigen Renten) um Jahre kürzer leben als die oberen Einkommensgruppen, die nicht nur höhere Renten bekommen, sondern diese auch länger in Anspruch nehmen können. Und hinzu kommt, dass eine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters gerade für die unteren Einkommensgruppen eine weitere Rentenkürzung bedeuten würde, denn viele von den Menschen hier arbeiten in Berufen, die man definitiv nicht bis in diese hohen Altersgruppen ausüben kann bzw. man wird vorher von den Arbeitgebern entsorgt und durch andere, jüngere Arbeitskräfte ersetzt und findet dann keine andere Beschäftigung mehr.

Damit wird auch klar, worum es eigentlich geht bei dem Vorschlag einer pauschalen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nach der Rasenmähermethode für alle und unter Beibehaltung der Abschlagsregelung: Um eine drastische Rentenkürzung für einen Teil der Versicherten und aufgrund der Konfiguration gerade für die Arbeitnehmer im unteren und mittleren Einkommensbereich.

Aber zumindest werden die beiden „Top-Ökonomen“ eines erreichen – ihr Ticket für die geplanten Rentenkommission ist sicher. Im Wahlprogramm der CDU/CSU zur Bundestagswahl 2017 findet man  nach der Behauptung, die Rente sei bis 2030 sicher und nicht reformbedürftig, auf der Seite 43 diese Vertröstung:

»Die Weiterentwicklung der Rente nach 2030 soll in einem partei- und fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens unter Einbeziehung der Tarifpartner geregelt werden. Zu diesem Zweck setzen wir eine Rentenkommission ein, die bis Ende 2019 Vorschläge erarbeiten soll.«

Man könnte wetten, dass Hüther und Fratzscher, die nicht als langjährig erfahrene Rentenexperten ausgewiesen sind, wahrscheinlich gerade deshalb mit Sicherheit Platz nehmen werden dürfen in der großen Runde.

Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters

Wir erinnern uns alle noch an die Auseinandersetzung über die „Rente mit 67“, die vielen Proteste dagegen und die dann dennoch erfolgte Verabschiedung durch die alte große Koalition. Der damalige sozialdemokratische Bundesarbeitsminister Franz Müntefering war es gewesen, der das vorangetrieben hat – immer natürlich mit Hinweis auf „die“ demografische Entwicklung, die einem gar keine andere Wahl lässt als den Weg einer Verlängerung des Erwerbsarbeitslebens zu gehen. Und nun wird von Monat zu Monat das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise angehoben, bis dass der – nicht zufälligerweise geburtenstärkste – Jahrgang 1964 voll von der dann neuen Regelaltersgrenze 67 betroffen sein wird. Auch die im Zuge des „Rentenpakets 2014“ eingeführte abschlagsfreie „Rente mit 63“ ist nur eine temporäre Unterbrechung für diejenigen, die die Voraussetzungen erfüllen und außerdem wächst die Altersgrenze schrittweise auf 65 mit. Die Rente mit 67 ist nicht abgeschafft worden, sondern Realität. Aber offensichtlich reicht das einigen nun immer noch nicht. Da geht offensichtlich in den Köpfen noch mehr.

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