Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich

Man darf und muss an ihn erinnern – der allgemeine
gesetzliche Mindestlohn, der seit dem 1, Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde und
der davor und in den Wochen danach für intensive Debatten in Deutschland
gesorgt hat. Aufgrund der überaus pessimistischen Vorhersagen zahlreicher
ökonomischer Auguren wurden gewaltige negative Auswirkungen auf den
Arbeitsmarkt in den Raum gestellt. „Job-Killer“ und andere Schmähzuschreibungen
machten die Runde. Aber schon damals gab es auch zahlreiche und gewichtige
Gegenstimmen, die darauf verwiesen, dass es sich bei den meisten „Prognosen“ um
interessengeleitete Stimmungsmache gegen das Instrument staatlicher Mindestlohn
an sich handelt und – weitaus bedeutsamer – dass viele damals hysterische
Wirtschaftswissenschaftler schlichtweg die andere Seite der Medaille vergessen
haben, dass höhere Löhne eben nicht nur höhere Kosten darstellen, sondern
gerade in dem Segment, in dem der Mindestlohn greift, also bei den unteren
Einkommensgruppen, immer auch einen hohen Nachfrageeffekt und damit beschäftigungschaffende
Wirkungen entfalten.

Nunmehr kann man der Print-Ausgabe der FAZ vom 18.08.2015
unter der Überschrift „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ lesen: »Vor allem
Geringqualifizierte bekommen nun deutlich mehr Geld. Das Gastgewerbe stellt
sogar mehr Personal ein.« So einen eindeutigen Befund kann man natürlich nur
zähneknirschend stehen lassen und deshalb schiebt man sogleich mit Sorgenfalten
gezeichneter Stirn hinterher: »Wird das so bleiben?« Trotzdem stellt man zuerst
einmal die Fakten dar: »Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro je Stunde
hat vielen Geringverdienern zu Jahresbeginn einen Lohnsprung beschert. Un- und
angelernte Arbeiter haben ihren Bruttoverdienst deutlich gesteigert, vor allem
in Ostdeutschland; in einigen Branchen legten die Löhne sogar um mehr als 10
Prozent zu. Verdienste, die schon zuvor über 8,50 Euro lagen, haben
demgegenüber kaum auf den Mindestlohn reagiert.« Und woher hat die FAZ diese
Zahlen? Von der Bundesbank, die in ihrem Monatsbericht für den August 2015 die
Befunde der vierteljährlichen Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes
aufgearbeitet hat.

Die Ausführungen der Bundesbank finden sich in dem Beitrag Konjunktur
in Deutschland
und dort im Abschnitt „Beschäftigung und Arbeitsmarkt“ auf
den Seiten 54 ff. Dort kann man nachlesen:

»Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich im Frühjahr 2015 weiter
verbessert. Die Erwerbstätigkeit und die Zahl offener Stellen sind erneut
gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat abgenommen. Die seit dem Jahresbeginn
auffallend kräftige Verringerung der Minijobs ist im Verbund mit der
vergleichsweise starken Expansion sozialversicherungspflichtiger Stellen in
einigen eher personalintensiven Dienstleistungssektoren wohl weitgehend als
Anpassungsreaktion der Unternehmen auf das Inkrafttreten des allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohns zu interpretieren. Abgesehen von diesem
Umwandlungseffekt erscheinen die Auswirkungen der Mindestlohneinführung auf das
gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im aktuell günstigen Konjunkturumfeld sehr
begrenzt.«

Noch in den zurückliegenden Wochen war der erkennbare
Rückgang der Zahl der Minijobber sofort (fehl)interpretiert worden im Sinne der
vorhergesagten zerstörerischen Wirkung auf die Beschäftigung. Allerdings hatte
ich beispielsweise bereits im April dieses Jahres in einer Expertise für die
rheinland-pfälzische Landesregierung (Sell, Stefan: 100 Tage
gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und
offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
.
Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015) darauf
hingewiesen: »Hinsichtlich des für Januar 2015 ausgewiesenen
überdurchschnittlich ausgeprägten Rückgangs der Zahl der geringfügig
Beschäftigte … kann man zum jetzigen Zeitpunkt keinesfalls von einem
„Wegfall“ von Arbeitsplätzen sprechen. Denn wir wissen derzeit schlichtweg
nicht, ob die Stellen ersatzlos gestrichen wurden oder ob es auf der
betrieblichen Ebene nicht Substitutionsprozesse gegeben hat, beispielsweise ein
„Upgrading“ bisher auf geringfügiger Basis Beschäftigter in den Bereich der
„normalen“, also sozialversicherungspflichtigen Teil- oder gar Vollzeit.«
(S.3). Und weiter: »… es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht
bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in
den teilzeitigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen
sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen
Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.« Vor dem Hintergrund der seit längerem
insgesamt positiven Verfasstheit des deutschen Arbeitsmarktes »kann ein Teil
der jetzt ausgewiesenen Rückgange bei den ausschließlich geringfügig
Beschäftigten auch damit zusammen hängen, dass Menschen, die bislang
unfreiwillig auf Minijobs verwiesen waren, weil sie eigentlich mehr und
„normal“ arbeiten wollen, die sich verbessernde Beschäftigungssituation nutzen,
um in „normale“, also sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder gar
Vollzeitbeschäftigung zu wechseln und die individuelle Arbeitsmarktlage damit
deutlich zu verbessern.« (S. 4)

Die Abbildung zur Arbeitsmarktentwicklung (Quelle: Bundesbank
Monatsbericht August 2015
, S. 55) verdeutlich auf einen Blick die insgesamt
positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den zurückliegenden
Jahren. Hinsichtlich der hier interessierenden Mindestlohn-Thematik fördert die
Bundesbank aus der Statistik einige interessante Aspekte ans Tageslicht, vor
allem hinsichtlich der bereits angesprochenen Minijobs, deren Rückgang von den
Mindestlohn-Kritikern als „Beleg“ für die arbeitsplatzzerstörende Wirkung der
staatlichen Lohnuntergrenze angeführt wird. Da kommt man mit den nunmehr
vorliegenden Daten zu ganz anderen Ergebnissen, die bereits frühzeitig – siehe
das Zitat aus meiner Expertise zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Zahlen noch
nicht vorlagen – als wahrscheinliches Szenario in den Raum gestellt wurde:

»Seit dem Jahreswechsel nimmt der Umfang der
sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gerade in denjenigen
Dienstleistungsbranchen recht stark zu, in denen ein überdurchschnittlicher
Anteil des Personalbestandes geringfügig beschäftigt ist. So war im Handel, im
Gastgewerbe, bei Verkehr und Lagerei sowie im Sektor Sonstige Dienstleister der
Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung während der letzten sechs
Monate, für die Daten vorliegen und in denen Beschäftigungseffekte durch die
Mindestlohneinführung zu erwarten sind, in saisonbereinigter Rechnung mehr als
doppelt so hoch wie in vergleichbaren Perioden der letzten zwei Jahre. Zwischen
November 2014 und Mai 2015 wurden in diesen Branchen mehr als 60 000 Stellen
zusätzlich zum bisherigen Aufwärtstrend geschaffen. In diesem Zeitraum kam es in
allen Wirtschaftszweigen zusammengenommen zu einem Abbau von über 140 000
Minijobs … In den betrachteten Wirtschaftsbereichen ist … etwa die Hälfte
aller geringfügig Beschäftigten angestellt. Deshalb legen die Ergebnisse die
Schlussfolgerung nahe, dass eine Umwandlung oder Zusammenfassung in
sozialversicherungspflichtige Stellen als Reaktion auf die Einführung des allgemeinen
Mindestlohns stattgefunden hat.«

Anreize für eine solche Umwandlung sieht die Bundesbank auch
in dadurch realisierbaren Lohnnebenkosten. Das sieht dann so aus:

»Bei gleichem Brutto-Stundenlohn fallen für den Arbeitgeber
bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur 20,7% Sozialversicherungsbeiträge
an, im Fall von Minijobbern inklusive Pauschalsteuern immerhin 30,9%. Da die geringfügig
Beschäftigten selbst allenfalls geringe Abgaben zahlen, konnten die Unternehmen
bislang für die hier höheren Abgaben zum Teil durch niedrigere Bruttolöhne
kompensiert werden. Für besonders niedrige Löhne besteht diese Möglichkeit
durch den Mindestlohn nicht mehr.«

Auf den S. 58-59 ihres Monatsberichts vertieft die
Bundesbank dann ihre Auseinandersetzung mit dem Mindestlohn in einem Exkurs: „Erste
Anhaltspunkte zur Wirkung des Mindestlohns auf den Verdienstanstieg“, dort auch
mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit einzelnen
„mindestlohnrelevanten“ Branchen.

»Die Brutto-Stundenvergütungen (ohne Sonderzahlungen) der
un- und angelernten Arbeitnehmer in Ostdeutschland stiegen im Winter 2015 mit
9,3% beziehungsweise 6,6% etwa dreimal beziehungsweise doppelt so stark wie in
den oberen beiden Leistungsgruppen … In Branchen, die überwiegend niedrig vergüten,
ist im ersten Vierteljahr 2015 gleichfalls ein auffälliger Anstieg zu
verzeichnen. Dies gilt wieder insbesondere für die Stundenverdienste von
Vollzeitbeschäftigten im östlichen Bundesgebiet. In Westdeutschland ist ein
herausgehobener Anstieg nur in einigen Branchen wie der Beherbergung, der
Textilherstellung und der Nahrungsmittelindustrie zu beobachten … In Branchen
mit geringer Tarifbindung wie der ostdeutschen Gastronomie und dem Wach- und
Sicherheitsgewerbe stiegen die Verdienste im Winterquartal 2015 mit
zweistelligen Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr ebenfalls sehr kräftig. Zudem
sind bereits in den Vorperioden die Tarife vergleichsweise stark angehoben
worden, was auf Vorzieheffekte des flächendeckenden Mindestlohns hindeutet. In
den sehr gering tarifgebundenen Wirtschafts- zweigen Heime und Sozialwesen kam
es im Winter 2015 ebenfalls zu einem spürbaren Verdienstschub.«

 Selbst die FAZ legt in ihrem Artikel „Mindestlohn freut Arbeiter im Osten“ noch einen drauf:

»Vor allem das Gastgewerbe hatte vor der Einführung des
Mindestlohns vehement gewarnt, die höheren Lohnkosten würden zu einem starken
Personalabbau führen. Umso auffälliger ist aber, was der Branchenverband Dehoga
am Montag verkündete: Die Geschäfte der Gastronomen und Hoteliers seien im
ersten Halbjahr 2015 gut gelaufen, im Durchschnitt seien die Umsätze um 4,3
Prozent gestiegen. Damit nicht genug: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten im Hotel- und Gastgewerbe habe ein „Allzeithoch“ erreicht, so der
Verband.« Und weiter mit Daten der Bundesagentur für Arbeit: »Für Mai 2015 weist diese 986 600 Beschäftigte im Gastgewerbe aus. Das waren 5,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Im Osten hat sich die Zahl, trotz der besonders starken Lohnkostensteigerung, sogar um 6,1 Prozent erhöht. Eine Erklärung könnte sein, dass die Branche Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt hat.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Jobkiller an.
 Vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Daten kommt die
Bundesbank zu folgendem Fazit:

»Insgesamt deuten die Ergebnisse der Vierteljährlichen
Verdiensterhebung darauf hin, dass die Einführung des Mindestlohns die Lohnstruktur
stark beeinflusst hat. Besonders betroffen waren Geringqualifizierte und
Beschäftigte in niedrig vergütenden Wirtschaftszweigen in den neuen Bundesländern
sowie vermutlich die geringfügig Beschäftigten in ganz Deutschland … Der vom
Mindestlohn in diesen Bereichen am unteren Ende der Entgeltverteilung ausgelöste
Lohnzuwachs ist so stark, dass er sich auch in den Durchschnittsvergütungen niederschlägt.«

Ein Trauerspiel: Tarif weg, Betriebsräte weg, mindestens ein Viertel weniger Lohn. Das war mal anders. Und wenn man schon dabei ist, kann man die Minijobs gleich mitmachen

Wenn man die vergangenen Jahre zurückblickt, dann muss man für den Handel, vor allem für den Einzelhandel, immer wieder und mit zunehmender Häufigkeit wie auch Intensität Auseinandersetzungen über die Arbeitsbedingungen der dort arbeitenden Menschen, überwiegend Frauen, zur Kenntnis nehmen. Das hat auch etwas mit einer bedenklichen Entwicklung zu tun, die Alexander Hagelüken in seinem Artikel Ein Viertel weniger Lohn so umreißt: »Der Handel in Deutschland bezahlt nur noch jeden Zweiten nach Tarif – mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Sie bekommen nicht nur weniger Geld, sondern haben meist auch keinen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt.« Wenn wir über „den“ Handel sprechen, dann geht es um eine Branche, in der mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt sind.

Seit Mitte der 1990er Jahre ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung aussteigen, um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen stärker nach ihren Wünschen zu gestalten. Inzwischen bezahlt weniger als jeder dritte Betrieb im Handel noch nach Tarifvertrag und damit ist der allgemeine Trend einer Tarifflucht in dieser Branche besonders ausgeprägt. »In der deutschen Wirtschaft arbeiten zwei von drei Beschäftigten nach Tarifvertrag … Im Handel dagegen profitiert nur noch jeder zweite von branchenweit geltenden Löhnen – im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent«, berichtet Hagelüken in seinem Artikel. Und man muss bereits an dieser Stelle anmerken: Im Einzelhandel waren es vor dem Jahr 2000 sogar noch mehr, denn bis zu diesem Jahr war der Tarifvertrag in diesem Bereich allgemeinverbindlich, er galt also für alle Unternehmen, egal ob tarifgebunden oder nicht.

Basis für den Artikel von Alexander Hagelüken ist eine Studie aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München:

Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte. In: ifo Schnelldienst, 11/2015, S. 33-40
Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene. Der Tendenz nach weisen sie auch eine geringere Produktivität auf und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.

Er hebt einige der Befunde aus dieser Studie hervor – wobei man davon ausgehen muss, dass sich die Zahlen und die dahinter stehenden Verhältnisse noch weiter verschlechtert haben, denn die Daten, die in der ifo-Studie verwendet wurden, stammen aus dem Jahr 2010: »Die Auswirkung auf Arbeitnehmer ist gewaltig: Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient ein Viertel weniger. Angesichts der ohnehin überschaubaren Löhne für Verkäufer(innen) und andere in der Branche wirkt sich der Unterschied stark aus. Auch gibt es nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarif einen Betriebsrat.« Da, wo noch eine Tarifbindung existiert, handelt es sich im Regelfall um größere Unternehmen mit mehreren Betrieben. 80 Prozent der Handelsfirmen ohne Tarifvertrag sind hingegen Einzelbetriebe. Das wiederum nutzen die Großen: »Konzerne wie die großen Supermarktketten gliedern Filialen aus und lassen die von einem Selbständigen als eigene Firma führen – ohne Tarifvertrag und Betriebsrat.« Edeka und Rewe sind hier besonders hervorzuheben. 
Man kann es drehen und wenden wie man will: Gerade das Beispiel des Einzelhandels verdeutlicht, was passiert, wenn eine ganze Branche nach dem – bewussten – Wegfall der flächendeckenden und alle Unternehmen betreffenden Tarifbindung über eine Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags in die „freie Wildbahn“ entlassen wird. Denn ab dem Moment des Wegfalls der Tarifbindung wurde es für einzelne Unternehmen attraktiv, sich gegenüber der Konkurrenz Kostenvorteile dadurch zu verschaffen, dass man das Personal schlechter vergütet. Denn die Personalkosten spielen eine große Rolle im Bereich vieler Dienstleistungen.

Ein möglicher Lösungsansatz liegt auf der Hand: Back to the roots, so könnte man diese Strategie bezeichnen. Also angesichts der nun wirklich empirisch belegbaren Fehlentwicklungen in der Branche muss eine Wieder-Einführung der Allgemeinverbindlichkeit in Erwägung gezogen werden. Grundsätzlich müssen das auch Vertreter der Regierungsparteien so gesehen haben, denn in dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 findet man folgende Übereinkunft zwischen Schwarz und Rot:

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses.« (S. 48).

Auf diesem Feld allerdings lassen tatkräftige Aktivitäten der Großen Koalition bisher sehr zu wünschen übrig. Gerade für den Bereich des Einzelhandels lässt sich zeigen, dass diese Branche bis 2000 durchaus als stabil und „geordnet“ bezeichnet werden kann und die seitdem zu beobachtenden Ausformungen von Lohndumping und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen korrelieren eindeutig mit dem Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit, die auf Druck der Arbeitgeber zustande gekommen ist. Und angesichts der sehr asymmetrischen Machtposition der zumeist Arbeitnehmerinnen in diesem Bereich wäre ein „öffentliches Interesse“ im wahrsten Sinne des Wortes gegeben. Man kann nur hoffen, dass hier endlich was passiert. Wir haben definitiv kein Erkenntnis-, sondern ein vertitables Umsetzungsproblem.

Und viele Beschäftigte im Handel, vor allem im Einzelhandel, sind Minijobber, also geringfügig Beschäftigte. Eine hoch problematische besondere Beschäftigungsform, vor allem hinsichtlich der negativen Anreize, die hier mit Blick auf Erwerbsbiografien vor allem von Frauen und den daraus resultierenden Sicherungslücken gesetzt werden. Vgl. hierzu nur als Beispiel die vom Bundesfamilienministerium herausgegebene Studie von Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013. Es gibt eine lange „Traditionslinie“ von Forderungen, diese Sonder-Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen oder wenigstens deutlich restriktiver auszugestalten.

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich dazu so gut wir gar nichts, keinerlei Ambitionen werden erkennbar: »Wir werden dafür sorgen, dass geringfügig Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden. Zudem wollen wir die Übergänge aus geringfügiger in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtern.« (S. 52 f.)

Jetzt kommt mal wieder etwas Bewegung in dieses „vergessene“ Thema. Dies zum einen vor dem Hintergrund der Mindestlohn-Debatte, denn wenn auch die im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von vielen Ökonomen in den Raum gestellten schweren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt ausgeblieben sind, konnte man am Anfang des Jahres Rückgänge bei der Zahl der geringfügig Beschäftigten beobachten, die über das übliche Muster hinausgehen. Dies wird sofort aufgegriffen als Beleg für die „zerstörerischen“ Wirkungen des Mindestlohns. Vgl. hierzu beispielsweise Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel in seinem kurzen Beitrag Mindestlohn: erste Anzeichen für Jobverluste, der in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ veröffentlicht wurde. Aber auch er muss zugeben, dass wir uns derzeit hier im Bereich der Spekulation bewegen, es fehlen nicht nur Daten, sondern auch eine Gesamtbilanzierung ist derzeit nicht möglich (so bereits in meiner im April verfassten Kurzexpertise diskutiert: Stefan Sell: 100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015).

Zum anderen hat sich nunmehr der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium zu Wort gemeldet mit einem Gutachten unter dem Titel Potenziale nutzen – mehr Fachkräfte durch weniger Arbeitsmarkthemmnisse, in dem auch Änderungsvorschläge bei den Minijobs vorgeschlagen werden. Thomas Öchsner hat das in diesem Artikel zusammengefasst: „Steuerfreiheit von Minijobs im Nebenerwerb abschaffen“.

Er umreißt die Ausgangslage: »7,24 Millionen Menschen, meistens Frauen, haben eine Stelle auf 450-Euro-Basis, für die sie keine Steuern zahlen müssen und sich von den Sozialabgaben befreien lassen können. Allein 2,42 Millionen packen dabei auf ihren Hauptjob die geringfügige Beschäftigung als Zusatzjob oben drauf, etwa, weil das Geld sonst nicht reicht oder ein paar Hunderter im Monat zusätzlich für Extrawünsche zur Verfügung stehen sollen.«

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi fordert nun eine „Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“ – aber was die dann in ihrem Gutachten präsentieren, ist wenn überhaupt ein „Reförmchen“. Denn zumindest, so der Beirat, solle „die Steuerfreiheit von Minijobs für Zweitverdiener in einer Ehe“ abgeschafft werden. Die Begründung dafür:

»Die Gutachter führen aus, dass Minijobs besonders „für Verheiratete mit hoher Grenzsteuerbelastung interessant“ seien. Es sei „angesichts der hohen steuerlichen Belastung, die an der Verdienstgrenze der Minijobs einsetzt“ wenig überraschend, dass so wenige geringfügig beschäftigte Frauen auf eine sozialversicherungspflichtige Stelle wechselten.«

Das nun ist weder weitreichend, noch originell, letztendlich nur copy and paste vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den so genannten fünf „Wirtschaftsweisen“, die ebenfalls den „Fehlanreiz“ beklagt und gefordert hatten, die Steuerfreiheit der Minijobs im Nebenerwerb und für den Zweitverdiener einer Ehe abzuschaffen. Nichts neues also. Das eigentliche Anliegen des genannten Gutachtens des Beirats beim BMWi ist auch etwas ganz anderes, was Öchsner so beschreibt: »Der Beirat wünscht sich von der Bundesregierung außerdem neue flexiblere Regeln für den Eintritt in die Rente, um ältere Beschäftigte möglichst lange am Arbeitsmarkt zu halten.« Aber das ist nicht nur brisant, sondern wäre wieder eine weiteres eigenständiges Thema, dass uns noch verfolgen wird.
Fazit: Auf Seiten der megagroßen Koalition keine Anzeichen von Bewegung und es ist aus politökonomischen Gründen auch nicht erwartbar, dass sich hier was hinsichtlich der Minijobs tun wird, nachdem die Arbeitsmarktfrage aus Sicht der Union so „belastet“ ist durch die bisherigen Aktivitäten der Bundesarbeitsministerin Nahles. Grundsätzlich gilt: Man sollte schon mal immer wieder darüber nachdenken, warum Deutschland mit dieser besonderen Beschäftigungsform weltweit ziemlich solitär daherkommt.

(Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt

Die Bayern mal wieder: Die Gastronomie-Branche sieht sich durch das Gesetz zum Mindestlohn besonderen Belastungen ausgesetzt. Bei einer Demonstration „gegen Bürokratismus und Dokumentationswahn“ sagt der Präsident des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, das Gastgewerbe drohe unter der Last der Bürokratie zu zerbrechen, berichtet Franz Kotteder in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie. Und die Gastwirte sind nicht allein auf weiter Flur: Unterstützung kommt von der bayerischen Wirtschaftsministerin: Auch Ilse Aigner (CSU) schimpft auf das „Bürokratiemonster à la Nahles“, kann  man dem Artikel entnehmen. Und scheinbar reihen sich die Demonstranten ein in eine Vielzahl an protestierenden Stimmen gegen das erst seit Januar 2015 in Kraft befindliche Mindestlohngesetz – mit einem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Fokus:

„Gastfreundschaft statt Doku-Wahn“ und „Wirtsstube statt Schreibstube“ lauteten die Parolen, oder auch „Ich will jeden Sonntag arbeiten“ und „Ich will kochen statt dokumentieren“.

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