Wer kennt das nicht, die alljährlichen Grippewarnungen. Aus aktuellem Anlass muss an dieser Stelle eine – mehr als vorsorgliche – Warnung vor einer in Berlin um sich greifenden „Ausnahmeritis“ ausgesprochen werden. Es geht um einen offensichtlich grassierenden Handlungszwang, kurz vor Gesetzgebungsschluss dem Schweizer Käse-Modell nachzulaufen. Richtig, wir sprechen vom flächendeckenden und einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, bei dem doch eigentlich vereinbart war, dass bis auf Langzeitarbeitslose, Jugendliche und bestimmte Praktikantenverhältnisse keine Ausnahmen gemacht werden sollen von der Anwendbarkeit der allgemeinen Lohnuntergrenze, in bestimmten Branchen zudem noch aufgeschoben bis Ende 2016, sofern es tarifvertraglich vereinbarte niedrigere Entgelte gibt. Die Betonung liegt auf eigentlich keine weitere Ausnahmen.
Nun wurde vor kurzem bekannt, dass die Große Mindestlohnkoalition in Berlin schwach geworden ist bei den Zeitungsausträgern. Den Verlegern soll – so die bisherigen Überlegungen – über eine hastig gezimmerte Brücke geholfen werden, indem sie kostenmäßig durch eine Absenkung der für ihre Minijobber zu zahlenden Sozialabgaben entlastet werden sollen. Das war schon irritierend.
Aber offensichtlich ist so ein Verhalten ansteckend, wenn man die aktuelle Berichterstattung verfolgt: Koalition beschließt Änderungen beim Mindestlohn, so beispielsweise die Online-Ausgabe des Handelsblatts. Und sollte sich das bestätigen, was dort berichtet wird, dann ist die „Ausnahmeritis“ akut und flächendeckend ausgebrochen in Berlin.
Spezielle Regelungen soll es nicht nur für Zeitungszusteller geben, sondern auch für Saisonarbeiter. Bei Praktikanten dürfen Arbeitgeber länger als ursprünglich geplant vom Mindestlohn abweichen.
Die mehr als merkwürdig daherkommenden Sonderregelung für die Zeitungsverleger ist in einem Blog-Beitrag bereits beschrieben worden: Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen? Allerdings ist die Berichterstattung in den Medien hier widersprüchlich, denn ursprünglich war ja eine Entlastung der Verleger bei den zu zahlenden Sozialbeiträgen geplant.
»Indessen ist die ursprünglich in den Verhandlungen angestrebte Regelung, die Arbeitgeber von Zeitungszustellern bei den Sozialbeiträgen zu entlasten, offenbar gekippt. Stattdessen soll es befristete Abweichungen vom Mindestlohn geben: für 2015 um 25 Prozent und 2016 um 15 Prozent vom Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde«, so ein Artikel in der Online-Ausgabe der WELT.
Sollte dieser Punkt zutreffen, dann muss man sich schon sehr wundern – denn mit welcher Begründung will man dann diesen Sub-Mindestlohn anderen Branchen, die sicher in der gleichen Kostenproblematik, wenn nicht noch tiefer, stecken? Wie ist es dann bei den Taxifahrern oder im Gaststättenbereich? Einen Hinweis findet man hier: »Juristen wie der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hatten argumentiert, der Mindestlohn für Zeitungszusteller sei verfassungsrechtlich bedenklich, weil er die wirtschaftlichen Grundlagen der Presseverlage und damit letztlich die vom Grundgesetz geschützte Pressefreiheit tangiere.«
Was ist das für eine Argumentation? Die Existenz der Tageszeitungen hängt davon ab, dass die Verleger ihren Austrägern einen Lohn zahlen, der deutlich niedriger sein muss als 8,50 Euro in der Stunde? Wenn wir mal hypothetisch davon ausgehen, die wirtschaftliche Existenz würde davon abhängen, dann wäre ein systematische – und letztendlich dauerhafte – Subventionierung wie beim Gebührenmodell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch irgendwie logischer als das, was hier jetzt vorgesehen ist. Denn die Absenkung des Mindestlohns soll ja – wenn denn die Berichterstattung stimmt – nicht auf Dauer erfolgen, sondern „nur“ für eine Übergangszeit. Was macht das dann aber angesichts der schweren Keule Gefährdung der Pressefreiheit für einen Sinn? Christian Bäumler von der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) wird mit diesen kritischen Worten zitiert: »Wenn der Gesetzentwurf Abweichungen vom gesetzlichen Mindestlohn nur bei Abschluss eines Tarifvertrages vorsieht, kann eine einzelne Branche von dieser Pflicht nicht ausgenommen werden … Es darf nicht sein dass die Zeitungsverleger dafür belohnt werden, dass sie sich weigern einen Tarifvertrag zu überdenken«. Das ist richtig – die Verleger haben sich bislang beharrlich geweigert, über einen Tarifvertrag zu verhandeln, mit dem man – wie andere Branchen auch – zeitlich befristet bis 2017 den Mindestlohn unterschreiten kann. Nunmehr sollen sie also ihr tarivertragsfeindliches Verhalten belohnt bekommen im Kontext eines „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“ – die Welt wird immer eigenartiger.
Und wie will man den deutschen Spargel retten?
»Bei Saisonarbeitern aus dem Ausland gilt bisher die Regel, dass für sie keine Sozialbeiträge abgeführt werden müssen, wenn sie maximal 50 Tage im Jahr in Deutschland arbeiten und noch einen anderen Job in ihrer Heimat haben. Diese 50-Tages-Frist soll nach dem Koalitionskompromiss auf 70 Tage ausgedehnt werden. Außerdem sollen Arbeitgeber die Kosten für Kost und Logis der Saisonarbeiter mit dem Mindestlohn verrechnen dürfen.«
Kost- und Logis-Kosten anrechnen? Das öffnet der „kreativen Gestaltung“ seitens der Arbeitgeber Tür und Tor. Mehr muss man dazu nicht sagen.
Und die Praktikanten?
»Laut Gesetzentwurf waren bisher verpflichtende Praktika im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung komplett und freiwillige Orientierungspraktika sechs Wochen lang vom Mindestlohn ausgenommen. Diese Frist soll nun auf drei Monate verlängert werden.«
Nun kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch sagen, vielleicht sind das auch nur voreilig gestreute Verhandlungspunkte, um die andere Seite unter Druck zu setzen. Die endgültige Fassung des Gesetzes soll ja „erst“ am 3. Juli im Bundestag verabschiedet werden. Aber an dieser eher hoffnungsvollen Position hinsichtlich möglicher Korrekturen kann man begründet zweifeln:
»Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte am Freitag vor Familienunternehmern auf die Frage nach Ausnahmen für Praktikanten: „Wir lösen Ihr Problem.“ Konkrete Angaben machte er nicht. Er könne nicht in die Details zu dem gehen, was in der nächsten Woche verabschiedet werden solle«, so ein Bericht in der Online-Ausgabe der FAZ.
„Jetzt kommt der Mindestlohn doch als Schweizer Käse“. Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer, zitiert.