Die Pflege und das Geld: Wiederbelebungsversuche der „Bürgerversicherung“ und Wiederauferstehung der Kapitaldeckung im Mäntelchen eines „Vorsorgefonds“

Der Pflegebedürftigkeit werden viele von uns nicht entkommen. Betrachtet man die Lebenszeitprävalenz, standardisiert auf die Altersverteilung der Sterbefälle in Deutschland 2011, dann liegt diese bei 48% für Männer und bei den Frauen sogar bei 67%, wie Berechnungen zeigen, die im „BARMER GEK Pflegereport 2013“ veröffentlicht wurden. Jeder zweite Mann und drei von vier Frauen. Und dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den vor uns liegenden Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung massiv ansteigen wird, ist mittlerweile sicher überall angekommen.
Daraus ergeben sich zwei zentrale Schlussfolgerungen: Wenn wir auch weiterhin eine dann auch noch halbwegs humane Versorgung der pflegebedürftigen Menschen sicherstellen wollen, dann brauchen wir erheblich mehr Personal in der Pflege – und das meint nicht nur deutlich mehr Professionelle, sondern auch in und um die Familien herum bis in den ehrenamtlichen Bereich angesichts der großen Zahl an Menschen, die von Pflegebedürftigkeit betroffen sein werden. Zum anderen muss deutlich mehr Geld in das Pflegesystem hinein gegeben werden – und das auch unabhängig von der Frage, ob es nicht „Ineffizienzen“ in der Art und Weise der pflegerischen Versorgung gibt, die man abbauen könnte und müsste.

Die Finanzierung der Pflege ist eine komplexe Angelegenheit, obgleich in der öffentlichen Diskussion immer wieder der Eindruck erweckt wird, dass hierbei alles an der Pflegeversicherung hängt, die zwar eine wichtige Rolle im Finanzierungsmix spielt, aus deren Leistungen aber eben nur einen Teil der Pflegekosten refinanziert wird. Hinzu kommen die privaten Anteile der Betroffenen (und ihrer Kinder) sowie seit Jahren wieder ansteigend die kommunal zu finanzierenden Ausgaben der Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII). Dem „Pflegereport 2013“ kann man zur Einordnung entnehmen: Derzeit wird gut die Hälfte aller Ausgaben bei Pflegebedürftigkeit durch die Soziale Pflegeversicherung getragen, die damit das wichtigste Leistungssystem bei Pflegebedürftigkeit ist (S. 51). Übrigens – immer wieder wird vergessen, dass es neben der „normalen“ Pflegeversicherung mit 69,6 Mio. Versicherten auch noch die private Pflegeversicherung gibt mit 9,7 Mio. Versicherten.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass erneut die Frage auf die Tagesordnung gesetzt wird, wie denn die steigenden Ausgaben für die Pflege finanziert werden sollen. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich bis 2030 verdoppeln. Um das zu finanzieren, müssen alle Bürger in die Pflegeversicherung einzahlen, so die Forderung von AWO-Chef Wolfgang Stadler in einem Interview („Pflege ist ein Knochenjob„). Ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD ist die Entscheidung, dass der der Beitragssatz in der Pflegeversicherung in dieser Wahlperiode schrittweise um 0,5 Prozentpunkte steigen soll. Das kritisiert Stadler als nicht ausreichend, denn wenn man nur bei den gesetzlich Versicherten diese Beitragserhöhung umsetzt, dann werden die daraus generierbaren Mehreinnahmen nicht ausreichen, um beispielsweise den seit langem vor sich her geschobenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff im Sinne der Abkehr von einer zeitabhängigen und somatisch fixierten Pflege finanzieren zu können. Stadler fordert statt dessen:

»Eine Bürgerversicherung wäre aus unserer Sicht die beste Lösung … Die Zahl derjenigen, die in die Pflegeversicherung einzahlt, sinkt. Nur eine integrierte, alle Bürger umfassende gesetzliche Pflegeversicherung und eine Beitragspflicht, die alle Einkommen erfasst, gewährleisten eine hinreichende Finanzierungsgrundlage. Dann bliebe der Beitrag nach unseren Gutachten immer noch unter drei Prozentpunkten und man kann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff konsequent umsetzen.«

Das ist sie also wieder, die Idee der „Bürgerversicherung“, die vor der Bundestagswahl von der SPD noch hochgehalten wurde, aber bereits bei den Koalitionsverhandlungen in der Versenkung verschwunden ist, hatte die Sozialdemokratie dem Koalitionspartner mit der „Rente mit 63“ und dem Mindestlohn schon einiges „zugemutet“, so dass für systemverändernde Maßnahmen auf der Einnahmenseite kein Platz mehr war. Aber es wurde auch noch nicht einmal diskutiert.
Statt dessen also der Griff in die Beitragskasse der Sozialen Pflegeversicherung – und das in einem höchst problematischen doppelten Sinn.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die finanzierungsseitigen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Dezember 2013:

»Der paritätische Beitragssatz zur Pflegeversicherung wird spätestens zum 1. Januar 2015 um 0,3 Prozentpunkte erhöht. Aus dieser Erhöhung stehen die Einnahmen von 0,2 Prozentpunkten zur Finanzierung der vereinbarten kurzfristigen Leistungsverbesserungen, insbesondere für eine bessere Betreuung der Pflegebedürftigen sowie der für 2015 gesetzlich vorgesehenen Dynamisierung der Leistungen zur Verfügung. Die Einnahmen aus der weiteren Erhöhung um 0,1 Prozentpunkte werden zum Aufbau eines Pflegevorsorgefonds verwendet, der künftige Beitragssteigerungen abmildern soll. Dieser Fonds wird von der Bundesbank verwaltet.
In einem zweiten Schritt wird mit der Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs der Beitrag um weitere 0,2 Prozentpunkte und damit insgesamt um 0,5 Prozentpunkte in dieser Legislaturperiode angehoben« (Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 2013: 61)

Was wir diesen wenigen Sätzen zur Pflegefinanzierung in der nun laufenden neuen Legislaturperiode entnehmen können ist eine Wiederauferstehung des Gedankens der Kapitaldeckung. Es muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass bereits im Koalitionsvertrag zwischen der Union und der FDP aus dem Jahr 2009 vorgesehen war, dass es eine Ergänzung durch eine „Kapitaldeckung“ bei der Pflegefinanzierung geben sollte. Herausgekommen ist in der letzten Legislaturperiode aber lediglich der so genannte „Pflege-Bahr“, also zulagengeförderte freiwillige private Versicherungsverträge.
  • Dieses neue Instrument sieht einen Förderbetrag in Höhe von fünf Euro pro Monat bzw. 60 € pro Jahr vor, wenn mindestens zehn Euro pro Monat Prämie für einen privaten Pflegeversicherungsvertrag gezahlt werden. Die Kritik an dieser Förderung ist umfassend und stellt ab auf die Punkte geringe Reichweite des Versicherungsschutzes, umverteilen Wirkung der Förderung im Sinne von „Mitnahmeeffekte durch Vermögende“ (so eine treffende Charakterisierung seitens der Deutschen Bundesbank), ein unzureichender Versicherungsschutz sowie die Tatsache, dass keine Dynamisierung der staatlichen Förderung vorgesehen ist, sehr wohl aber Prämiensteigerungen möglich sind und auch eintreten werden. Bösartig formuliert könnte man die steuerfinanzierte Zulage gleichsam als Lockmittel in solche Versicherungsverträge hinein verstehen. Der „Pflege-Bahr“ steht stellvertretend für die in der vergangenen Legislaturperiode so dominante „Playmobil-Sozialpolitik“, zu der beispielsweise auch das „Betreuungsgeld“ in Höhe von 100, später einmal 150 € pro Monat gehört, die für diejenigen geleistet werden, die keine öffentliche Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen.
Quelle der Abbildung: PKV

Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) hat aktuell die Präsentation der Geschäftszahlen 2013 unter die Überschrift „Rasantes Wachstum in privater Pflegevorsorge“ gestellt: «So wurden im Jahr 2013 allein 353.400 geförderte Pflegezusatzversicherungen abgeschlossen. Dazu kommen noch 174.100 ungeförderte Policen, sodass der Gesamtbestand an Pflegezusatzversicherungen um mehr als eine halbe Million auf insgesamt über 2,7 Millionen Versicherungen anstieg«, so die Jubelmeldung des Verbandes – schaut man sich allerdings die Relationen genauer an, dann offenbart sich, dass gerade einmal nur 3,4% der Pflegepflichtversicherten eine Pflegezusatzversicherung abgeschlossen haben, wie die vom PKV-Verband selbst veröffentlichte Abbildung zeigt.

Heike Haarhoff schreibt hierzu in ihrem Kommentar „Aus Flop mach Top„: »1,5 Millionen Neu-Verträge allein binnen des ersten Jahres, das war Bahrs – schriftlich verankertes – Versprechen … Jetzt stellt sich heraus: Gerade 400.000 Menschen haben einen „Pflege-Bahr“ abgeschlossen – nicht in den ersten 12, sondern in den ersten 14 Monaten seit Einführung. Das ist nicht nur weniger als ein Drittel des angepeilten Ziels. Das ist blamabel.« Und inhaltlich kritisiert sie: »Die Stiftung Warentest hat dem Pflege-Bahr unlängst jeglichen Zusatznutzen abgesprochen: Die staatlich geförderte Police biete keine finanziellen Vorteile gegenüber herkömmlichen Produkten der privaten Pflegeversicherung. Überdies, das beklagen Sozialverbände, schließen diejenigen Menschen mit hohem Pflegerisiko – also Arme und Kranke – den Pflege-Bahr gar nicht ab. Ihnen fehlt schlicht das Geld für den Eigenanteil. Aber auch die Einkommensstärkeren, die jetzt in die Privatvorsorge investieren, können nicht sicher sein, am Ende zu profitieren: Niemand weiß, wie sich die Prämien entwickeln. Ein vorzeitiges Aussteigen aber ist bei Risikoversicherungen stets mit extremen finanziellen Einbußen verbunden.«

Betrachtet man in diesem Kontext die Vereinbarungen in dem neuen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, dann wird verständlich, warum man tatsächlich von einer wirklichen „Wiederauferstehung“ des Gedankens der Kapitaldeckung innerhalb der Pflegefinanzierung sprechen kann und muss. Die Verwendung des Begriffs Wiederauferstehung soll daran erinnern, dass in der Anfangsphase der Pflegeversicherung von durchaus unterschiedlichen Seiten eine ergänzende Kapitaldeckung angesichts des besonderen Risikocharakters der Pflegebedürftigkeit vorgeschlagen bzw. gefordert wurde und es wurde darauf hingewiesen, dass man mit dieser ergänzenden Kapitaldeckung für die jüngeren Jahrgänge rechtzeitig anfangen müsse, um überhaupt Entlastungswirkungen haben zu können – aktuell wird allerdings darauf hingewiesen, dass der „richtige“ Zeitpunkt für eine solche ergänzende Teil Kapitaldeckung verpasst worden ist. 
Unter dem euphemistisch daherkommenden Terminus „Vorsorgefonds“ wurde seitens der Großen Koalition nicht nur vereinbart, erhebliche Mittel in den kommenden Jahren anzusparen, sondern aus Sicht des bisherigen Systems tatsächlich systemverändernd ist die Tatsache, dass dieser kapitalgedeckte Fonds über Beitragsmittel aus einer umlagefinanzierten Sozialversicherung gespeist werden soll. Das hat es nun wirklich noch nicht gegeben.

Noch sind die Details dieses tiefen Eingriffs in die Systematik einer umlagefinanzierten Sozialversicherung gar nicht geklärt, da wird das dann zusätzlich aufgeladen mit weiteren höchst umstrittenen Forderungen, konkret einer Differenzierung der Belastung zwischen Familien und Kinderlosen. So müssen jedenfalls die Ausführungen des gesundheitspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn, verstanden werden. Das Interview mit ihm ist überschrieben worden mit „Kinderlose sollen mehr Beiträge zahlen„. Auch Spahn betont den paradigmatischen Punkt der Koalitionsvereinbarung: »Zunächst einmal hat das Ganze eine hohe Symbolkraft: Zum ersten Mal sparen wir in der gesetzlichen Sozialversicherung ganz gezielt Geld, um uns auf die Alterung der Gesellschaft einzustellen. Das hat es bisher noch nicht gegeben und ist daher ein Wert an sich.«

Ab 2015 sollen jährlich 1,2 Mrd. Euro in den „Vorsorgefonds“ zurückgelegt werden – wohlgemerkt, aus Beitragsmitteln der „normalen“ Pflegeversicherten. Auf die kritische Vorhaltung, dass die auf diesen Weg angesparten Beträge kaum ausreichen werden, lässt Spahn dann die perspektivische Katze aus dem Sack:

»Wer sagt denn, dass wir künftig nicht mehr sparen? Ich werde mich jedenfalls dafür einsetzen, dass wir die Sparsumme für den Fonds mittelfristig erhöhen. Fair und gerecht wäre es, wenn vor allem die Kinderlosen einen größeren Beitrag zur Vorsorge leisten. Die Eltern, die künftige Beitragszahler großziehen, haben ihren Anteil ja schon geleistet. Ich kann mir daher vorstellen, dass wir den Beitragssatz für Kinderlose künftig weiter erhöhen und diese zusätzlichen Einnahmen dann in den Fonds stecken. Eine stärkere Belastung der Kinderlosen zur Entlastung der Familien sollte ein generelles Prinzip in der Sozialversicherung werden.«

So kann man sich das vorstellen – schrittweiser Ausbau der nunmehr verpflichtend eingeführten Teilkapitaldeckung innerhalb der Sozialversicherung und die von immer mehr geforderte stärkere Belastung der Kinderlosen umlenken in die Kapitaldeckung.

Bei Gelegenheit müsste die SPD dann schon mal die Frage beantworten, wie sie es selbst bewerten will, dass sie bis vor der Wahl das Konzept der „Bürgerversicherung“ propagiert hat und nach der Wahl eine weitaus stärkere Kapitaldeckung implementieren lässt, als es die schwarz-gelbe Koalition auch nur ansatzweise geschafft hat. Das hat schon eine gewisse Ironie.
Abschließend zur Kapitaldeckung ein Hinweis auf die private Kranken- und Pflegeversicherung, denn die kennen sich damit aus. In der Pressemitteilung zum Jahresergebnis 2013 teilt der PKV-Verband mit: »Einen Teil der Beiträge ihrer Kunden legt die Private Krankenversicherung auf dem Kapitalmarkt an. Aus diesem Geld werden die im Alter steigenden Gesundheitskosten der Versicherten finanziert. Diese Alterungsrückstellungen erhöhten sich bis Ende 2013 auf 190 Milliarden Euro – 164 Milliarden Euro in der Krankenversicherung und 26 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung.« Das ist mal ein Sparstrumpf.

„Pflege-Bahr“: Begeisterung für das „Erfolgsmodell“ (bei der Versicherungswirtschaft)

Muss man sich beim Bundesgesundheitsminister Bahr (FDP) und der Versicherungswirtschaft entschuldigen? War die massive Kritik an der staatlichen Förderung einer privaten Pflegeversicherung in der Größenordnung von 5 Euro pro Monat vielleicht doch überzogen und nur eine reflexhafter, möglicherweise gar ideologisch begründeter Verhinderungsversuch von mehr Privatisierung in den Bereichen, in denen die Sozialversicherungen die Hauptlast zu schultern haben? Immerhin gibt es ja auch eine ausgeprägte und öffentlichkeitswirksame Kritik bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung der „Riester-Rente“ als Schlachtschiff einer dritten Säule der Alterssicherung.
Man könnte schon auf diesen Gedanken kommen, wenn man die Jubelmeldung der privaten Versicherungswirtschaft über den so genannten „Pflege-Bahr“ zur Kenntnis nimmt.

So berichtet der „Tagesspiegel“ in dem Beitrag „Begeistert vom Pflege-Bahr“ von der Jahrestagung des Verbandes der privaten Krankenversicherung (PKV):

»Entgegen aller Schwarzmalerei habe sich die staatlich geförderte Pflegezusatzversicherung – kurz Pflege-Bahr genannt – als „echtes Erfolgsmodell“ erwiesen. Bis Ende Mai, so berichtete Schulte, hätten bereits mehr als 125 000 Menschen die neue, von Schwarz-Gelb propagierte Zusatzversicherung abgeschlossen. Da mit jedem Tag 1000 neue Anträge hinzukämen, liege man inzwischen wahrscheinlich schon bei rund 150 000. Und das, so der Verbandschef, sei „erst der Anfang“.«

Besonders empören können sich die Verbandsvertreter über eine angebliche Kampagne gegen die Pflegezusatzversicherung in den Medien, angestachelt durch Verbraucherschützer, die nur die Produkte madig machen. So hatte – ein Beispiel – schon im April Frederike Roser in ihrem Beitrag Stiftung-Warentest: „Pflege-Bahr taugt nichts“ über die deutliche Kritik der Verbraucherschützer berichtet. Die vom Staat geförderten Tarife, so Stiftung Warentest, decken den Bedarf häufig nicht. Besser seien nicht geförderte Pflegeversicherungen. Beim „Pflege-Bahr“ zahlt der Staat monatlich fünf Euro zu einer privaten Pflegeversicherung dazu, wenn der Versicherte mindestens zehn Euro im Monat selbst zahlt und der Vertrag eine Leistung von mindestens 600 Euro monatlich in Pflegestufe III vorsieht. Die staatliche Förderung hat allerdings für die privaten Versicherungsanbieter einen echten Nachteil: Bei den geförderten Tarifen dürfen die Versicherungen keine Kunden ablehnen und keine Risikozuschläge oder Leistungsausschlüsse verlangen.

Nun muss man wie immer bei den an sich unmöglichen Versicherungsvergleichen einen genauen Blick werfen auf die Annahmen, die den tarifvergleichenden Berechnungen zugrunde liegen. Im Fall der Stiftung Warentest waren die Modellkunden im Alter von 45 und 55 Jahren – mit einem monatlichen Betrag von 55 Euro (für den 45-Jährigen) beziehungsweise 85 Euro (für den 55-Jährigen). Das auf der Grundlage dieser Modellkunden gefundene negative Ergebnis muss – so ein Einwand der Kritiker – nicht auf andere Fallkonstellationen übertragbar sein, sondern kann sich beispielsweise bei den Jüngeren in der Altersgruppe 25 bis 35 ganz anders, nämlich positiv aussehen.
Der zweite Einwand gegen die Kritik der Verbraucherschützer bezieht sich auf die Zielgröße „Deckung der Versorgungslücke“, also Kompensation der Differenz zwischen den Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung und den tatsächlichen Kosten. Es war nun aber vom Anfang an auch klar, dass die als „Pflege-Bahr“ titulierten staatlich geförderten Pflegezusatzversicherungen angesichts der relativ mickrigen Beträge, die man da im Regelfall einzahlt, weil auch die „generöse“ Förderung seitens des Staates aufgrund der Begrenzung der Förderhöhe auf 60 Euro im Jahr nicht wirklich hoch ist, den teilweise erheblichen Differenzbetrag nicht ausgleichen kann.

Dies vor allem nicht, wenn man sich an eine Empfehlung hält, die man auf vielen der mittlerweile im Netz auffindbaren Seiten über den Pflege-Bahr finden kann: Man soll demnach eine Pflegezusatzversicherung mit staatlicher Förderung abschließen, aber nur in der Höhe, dass man die 60 Euro pro Jahr „mitnehmen“ kann und alles, was darüber hinaus abzusichern ist, sollte dann über nicht geförderte Pflegezusatzversicherungen abgedeckt werden, weil die wieder anders kalkuliert werden (können). Denn für diese Produkte gibt es kein Kontrahierungszwang und auch kein Verbot von Risikoaufschlägen, so dass diese Nicht-Belastung in relativ gesehen günstigere Tarife eingebaut werden können.

Folgt man diesem Ansatz, dann relativieren sich auf der anderen Seite aber auch zugleich die bereits zitierten Jubelmeldungen der Versicherungswirtschaft mit den mehr als 125.000 Menschen, die schon so eine staatlich subventionierte Versicherung abgeschlossen haben. Beim normalen Leser wird der Eindruck hängen bleiben, da haben 125.000 oder noch mehr Menschen zusätzlich eine Versicherung abgeschlossen, die das ansonsten nicht gemacht hätten. Dabei sind darunter auch sicher sehr viele, die genau so vorgehen, wie das gerade beschrieben wurde. Dann hätten wir auf der einen Seite eine eben nur scheinbare Zunahme der Pflegezusatzversicherungen (weil aus bislang einer werden mindestens zwei gemacht, um die Förderung zu bekommen) und auf der anderen Seite würde das bedeuten, dass es sich um einen klassischen Mitnahmeeffekt handeln würde, denn diese Personen hätten ansonsten auch eine dann eben ungeförderte private Zusatzversicherung abgeschlossen, sie splitten jetzt halt ihre Verträge, um die staatlichen Zuschüsse abzugreifen. Hinzu kommt die sicher wie auch bei der „Riester-Rente“ beobachtbare soziale Selektivität der Inanspruchnahme, das also gerade die bereist relativ gesehen gut gestellten Personen die Förderung in Anspruch nehmen.

Schlussendlich kann und muss man sich natürlich fragen, warum man überhaupt seitens des Staates Produkte mit Steuermitteln subventioniert, wo die Staatsmittel teilweise oder ganz in die Töpfe der Versicherungsunternehmen wandert. Man könnte an dieser Stelle die Vermutung äußern, dass das eigentliche Ziel dieser Maßnahme weniger die Absicherung des Pflegerisikos an sich war und ist, sondern dass es darum ging, der Versicherungswirtschaft eine Geschäftsmodell zu eröffnen. Aber das ist jetzt reine Spekulation …

Warum die „Niedrigzinsfalle“ auch ein großes Thema für die Sozialpolitik ist

Die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sind die beiden großen Systeme des deutschen Sozialstaats – diese beiden Versicherungszweige bringen es auf mehr als die Hälfte des gesamten Sozialbudgets, also aller Sozialleistungen in Deutschland. Demnach entfielen nach dem amtlichen Sozialbudget 2011 von den 767,6 Mrd. Euro Sozialleistungen 32% auf die Rentenversicherung und 24,5% auf die Krankenversicherung (gesetzliche und private Krankenversicherung zusammen). Die Entwicklung in diesen beiden großen Systemen ist zentral für das, was unter „Sozialleistungen“ diskutiert wird – bzw. eigentlich werden sollte, denn wenn beispielsweise in der öffentlichen Debatte über Einsparmöglichkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gestritten wird, dann ist das aus der Gesamtperspektive des Sozialbudgets ohne spürbare Relevanz.

Man sollte sich an dieser Stelle einmal verdeutlichen, dass alle Ausgaben für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe zusammen lediglich 3,4% des Sozialbudgets ausmachen (BMAS, Sozialbudget 2011, S. 6). Wenn man jetzt also – um zu „sparen“ – alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe komplett einstellen würde, also alle Kindertageseinrichtungen schließen würde, alle Kinder- und Jugendheime und Wohngemeinschaften, alle Beratungsangebote, dann würde das erhebliche Verwüstungen vor Ort anrichten, wie sich jeder vorstellen kann, aber der Effekt im Sozialbudget wäre marginal.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Ausgabenentwicklung in den beiden großen Systemen die größte Bedeutung zukommt. Deshalb hat es ja auch mit den so genannten „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung vor allem Anfang der 2000er Jahre massive Einschnitte bei der gesetzlichen Rente gegeben, die im Wesentlichen daraus bestanden, faktische Rentenkürzungen zuungunsten der Versicherten durchzusetzen. Gleichzeitig wurden die bewusst geschaffenen Sicherungslücken bekanntlich auf dem Papier dadurch „ausgeglichen“, dass man ein mit erheblichen Steuermitteln gepampertes System der (freiwilligen) privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge („Riester-Rente“) installiert hat – zum besonderen Wohlgefallen der Versicherungswirtschaft, die hier ein weiteres staatlich subventioniertes Betätigungsfeld bekommen hat. Es ist hier nicht der Platz, in die Details der vielstimmigen Kritik an dieser Form der Altersvorsorge einzusteigen – aber ein Aspekt soll besonders herausgestellt werden: Die immer wieder vorgetragene Kritik, dass die milliardenschwere öffentliche Förderung der „Riester-Rente“ vor allem den privaten Finanzunternehmen zugute kommt und weniger bis gar nicht den betroffenen Versicherten. Das führt unmittelbar zu der Frage, warum eigentlich diese Säule der Altersvorsorge von privaten, auf Gewinn und Gewinnmaximierung ausgerichteten Unternehmen durchgeführt werden muss und ob man das – wenn schon – nicht in die Hände eines öffentlichen Versicherers hätte legen können und müssen. Vorbilder dafür gibt es in anderen Ländern, beispielsweise in Schweden.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß von Herbert Rische, dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) von Interesse, den dieser in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ geäußert hat:

»Ich kann mir ein Modell vorstellen, nach dem die Menschen zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Rente, über freiwillige Zahlungen weitere Ansprüche bei der Rentenversicherung erwerben. Solche Zahlungen ließen sich auch mit einer betrieblichen Altersvorsorge oder anderen Altersvorsorgeprodukten kombinieren. Von Versicherten haben wir oft solche Nachfragen. Wir sollten hier die Türen öffnen.«

Rische geht davon aus, dass die Deutsche Rentenversicherung mit einem solchen Angebot konkurrenzfähig wäre.

Es kann allerdings nicht wirklich verwundern, dass es so gut wie keine Resonanz auf diesen Versuchsballon der DRV in der Politik gegeben hat. Man kann sich vorstellen, welche Lobby-Geschütze der finanzindustrielle Komplex auffahren würde, um so eine Konkurrenz zu verhindern.

Aber auch wenn wir uns vorstellen, es würde eine solche private Altersvorsorge-Alternative in der Hand der Deutschen Rentenversicherung geben – sie müsste wie die private Konkurrenz angesichts der Kapitaldeckung in dieser Säule der Altersvorsorge das anzusparende Kapital rentierlich anlegen (können) – und würde damit sogleich vor ein Problem gestellt werden, mit dem die privaten Versicherungsunternehmen schon längst zu kämpfen haben: Der seit längerem anhaltenden Niedrigzinsphase, für deren Ende es in der absehbaren Zeit keine erkennbaren Anzeichen gibt. Das bringt die kapitalgedeckten Systeme in schweres Fahrwasser.

Nehmen wir als Beispiel eines der wichtigsten Instrumente für die private Altersvorsorge in Deutschland: Die Lebensversicherungen, von denen es in Deutschland mehr als 90 Millionen gibt. Die Zinsproblematik wird beispielsweise in dem SWR-Radiobeitrag „Sorge trotz Vorsorge. Warum der Leitzins die privaten Lebensversicherungen unter Druck setzt“ behandelt:

»Die Zinsen sind im Keller. Wer jetzt einen Kredit aufnimmt, kann sich vielleicht freuen. Wer aber spart und versucht fürs Alter vorzusorgen, macht ein langes Gesicht. Beim Blick auf den Bescheid der privaten Renten- und Lebensversicherungen kann einem angst und bange werden. Denn die private Absicherung, die die Versorgungslücke schließen sollte, reicht hinten und vorne nicht mehr. Droht im Alter jetzt Sorge trotz Vorsorge? Und welche Alternativen gibt es? Warum des Deutschen liebstes Vorsorgeprodukt weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Gesprächspartner ist Prof. Uwe Wystup. Der Finanzmathematiker ist Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance und Vorstand der MathFinance AG.«

Das Handelsblatt bringt es bereits mit einem Zitat in der Überschrift zu einem Artikel auf den Punkt: „Gib mir Geld, ich gebe es ohne Zinsen zurück“: Die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank macht den Anbietern von Lebensversicherungen das Leben schwer. Verbraucherschützer warnen bereits vor dem Abschluss solcher Versicherungen. Ist die Panik berechtigt?
Auf alle Fälle muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Garantiezins bei Neuverträgen auf 1,75 Prozent gedrückt worden ist seitens der Bundesregierung, die für die Festlegung verantwortlich ist – wegen der niedrigen Leitzinsen und magerer Kapitalmarktrenditen. »Auch die Beteiligungen der Versicherten an den Überschüssen der Unternehmen sinken. Verbraucherschützer warnen: Kunden müssten sich fragen, ob sie bei einer Lebensversicherung am Ende – nach Abzug der Inflationsrate – nicht draufzahlen.« Edda Castello von der Verbraucherzentrale Hamburg wird in dem Handelsblatt-Beitrag zitiert mit den Worten: „Alles läuft nach dem Motto: Gib mir Geld, in 30 Jahren gebe ich es zurück, allerdings fast ohne Zinsen“. Allerdings stellt sich das Problem mangelnder Alternativen, den wo soll statt dessen eine Anlage erfolgen? In Aktien oder Immobilien? Aber auch die Lebensversicherer selbst sind ein Risikofaktor, denn sie müssen einlösen, was sie mal zugesagt haben: In den 1990er Jahren beispielsweise lag der erwähnte Garantiezins bei bis zu vier Prozent und die müssen für die Kunden auch erwirtschaftet werden.

Das klingt alles nicht wirklich beruhigend. Zudem wird bei den meisten auch kritischen Berichten über die Probleme der kapitalgedeckten Systeme ein grundlegender Aspekt immer wieder ausgeklammert: Die wahren Probleme der kapitalgedeckten Systeme werden zu Tage treten, wenn die Babyboomer-Generation in die Renten geht oder zu gehen versucht und die Anlagen aufgelöst werden müssen, um die zugesagten Beträge auszahlen zu können. Nur muss es immer auch Nachfrager geben für die Anlagen der Versicherer, also Anleihen, Aktien und Immobilien, die dann ganz konkret zu Gbeld gemacht werden müssen. Dann wird richtig erkennbar werden, dass auch die Kapitaldeckung in großem Stil zumindest eher der Umlagefinanzierung ähnelt, als das heute gerade von vielen Ökonomen gesehen wird, die anscheinend eher einem „Sparkassen-Modell“ gedanklich frönen.

Und das ist nicht nur ein Problem der privaten Altersvorsorge, sondern auch eines für die privaten Krankenversicherer (PKV), wie Thomas Schmitt in seinem im Handelsblatt veröffentlichten Artikel „Privatpatienten tappen in die Zinsfalle“ erläutert. Konkret geht es um den „Rechnungszins“: »Mit diesem Satz werden die Altersrückstellungen verzinst, die in späteren Jahren den Beitragsanstieg in der PKV dämpfen sollen. Dieser Zins beträgt derzeit für die neun Millionen Altkunden 3,5 Prozent. Er ist damit viel höher als der Garantiezins der Lebensversicherung, der nur noch 1,75 Prozent beträgt.«  Aber 18 private Krankenversicherungsunternehmen liegen unterhalb dieses Satzes, wie laut Handelsblatt aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht – die von den Mathematikern der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) ermittelten Werte lägen zwischen 2,86 Prozent und 3,48 Prozent (zu den Auswirkungen der aktuellen Niedrigzinsphase auf die Lebensversicherungen gab es am 25. April 2013 eine Podiumsdiskussion der DAV, die man als Video anschauen kann). Die 18 privaten Krankenversicherungsunternehmen – die übrigens fast 40% der PKV-Unternehmen repräsentieren, zu denen beispielsweise Axa und die Generali-Tochter Central gehören, die beide zusammen 1,2 Mio. Vollversicherte auf die Waage bringen – müssten also den Rechnungszins eigentlich absenken, was aber höhere Beiträge für die Versicherten zur Folge hätte, damit diese im gleichen Umfang für niedrigere Beiträge im Alter vorsorgen können.

Es war immer schon ein grundsätzliches Problem der PKV, dass keiner hier richtig durchblickt. Nun wird auch der Teilbereich des Rechnungszinses ein buntes Biotop: »Gerade erst hat die Branche ab 2013 die Prämien für Neukunden kräftig erhöht – unter anderem auch wegen der niedrigen Zinsen. Manche Anbieter rechnen nun im Neugeschäft mit 2,5 Prozent Rechnungszins, viele mit 2,75 Prozent und manche auch noch mit 3,5 Prozent.« Das wir hier aus Sicht des Verbraucherschutzes ein echtes Problem haben, verdeutlicht der folgenden Passus in dem Beitrag von Thomas Schmitt:

„Größere Transparenz wäre sinnvoll.“ Das sagt selbst ein PKV-Insider wie Gerd Güssler, Geschäftsführer des Branchenspezialisten KVpro.de. Selbst Spezialisten wie er hätten keinen Überblick mehr über so wichtige Kennziffern wie den Rechnungszins einzelner Unternehmen.
Was lernen wir aus beiden Beispielen? Vielleicht mal wieder einen gewissen Respekt vor dem Umlageverfahren in den vielgeschmähten Sozialversicherungssystemen und die Richtigkeit einer grundlegenden Skepsis gegenüber kapitalgedeckten Systemen, die zu lange als die „bessere“ Alternative durch die politische Landschaft segeln konnten.