„Verlorene Generation“ dort, aber auch hier. Dazu europäische Verlautbarungsrhetorik und bei uns ein „Übergangssystem“, zu dem es kein Erkenntnis-, sondern ein veritables Umsetzungsproblem gibt.

Es ist ein Drama, was sich vor allem, aber nicht nur in den Krisenstaaten des Euro-Raums für die dortige junge Generation abspielt. Arbeitslosenquoten zwischen 25 bis über 50% sind eine echte Katastrophe für diese „verlorene Generation“. Hinzu kommt, dass viele junge Europäer auf der Suche nach Ausbildung und Arbeit ausgewandert sind in andere Länder – und dort nicht selten in neuen Ausbeutungsverhältnissen landen. Hierzu nur als ein Beispiel von vielen den Beitrag Arbeitnehmer zweiter Klasse: »Seit Beginn der Eurokrise kommen gut ausgebildete Pflegekräfte aus Südeuropa nach Deutschland. Hier werden einige von ihnen von Medizindienstleistern mit Knebelverträgen und schlechter Bezahlung ausgenutzt«. Oder aber sie gehen in ihren Heimatstaaten Beschäftigungen zu Niedrigstlöhnen nach, die sie aus der offiziellen Statistik katapultieren. Die Lage in Griechenland, Spanien und den anderen Krisenstaaten ist besonders übel – aber auch im Zentrum der relativen arbeitsmarktlichen „Glückseligkeit“, also in Deutschland, gibt es zahlreiche Verwerfungen für einen Teil der jüngeren Generation.

Es wird zwar immer wieder auf die im Vergleich zu anderen Ländern sehr niedrige Arbeitslosenquote der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingewiesen. Allerdings ist diese offiziell ausgewiesene registrierte Arbeitslosigkeit unter den Jüngeren nur der eine Teil der Wahrheit, denn die faktische Erwerbs- und Ausbildungslosigkeit verbirgt sich teilweise hinter eigenen Systemen, wie dem so genannten „Übergangssystem“ in der Zone zwischen der Schule und dem Beruf bzw. der beruflichen Ausbildung. Und obgleich die Diskussion in Deutschland beherrscht wird von Berichten über nicht besetztbare Ausbildungsstellen, weil aufgrund der demografischen Entwicklung immer mehr junge Menschen fehlen würden, gelingt es auch hier hunderttausenden Jugendlichen nicht, ohne Hürden und Umwege in eine berufliche Ausbildung einzumünden. Hinzu kommen die, die gar nicht mehr auf den offiziellen Schirmen auftauchen, weil sie irgendwo zwischen den zählbaren Systemen treiben.

So stellt die Autorengruppe Bildungsberichterstattung in ihrem Bericht „Bildung in Deutschland 2014“ fest: »Nimmt man alle Sektoren beruflicher Bildung (einschließlich Hochschulstudium) für die letzten 20 Jahre in den Blick, dann zeigt sich, dass zwei Sektoren eine starke Dynamik entfalten, die beiden anderen eher stagnieren oder rückläufig sind: Eine starke Aufwärtsdynamik von ca. 200.000 Personen bzw. 61% an Neuzugängen weist das Hoch-/Fachhochschulstudium seit der Jahrhundertwende auf … Am unteren Ende der Berufsausbildung steigen zunächst die Neuzugänge zum Übergangssystem während des Zustroms der geburtenstarken Schulentlassjahrgänge auf fast eine halbe Million bzw. 40% der Neuzugänge jährlich an, um im demografischen Abschwung sukzessive auf eine viertel Million (2013) bzw. 27% an den Neuzugängen zurückzugehen.« (Vgl. hierzu auch die Abbildung, die dem Bildungsbericht entnommen ist). Das für Deutschland so wichtige und im internationalen Vergleich immer wieder als besonders vorteilhaft herausgestellte duale System der Berufsausbildung ist der große Verlierer der Umsortierprozesse, die seit längerem ablaufen: Im Vergleich zu 2000 hat es fast ein Fünftel der Neuzugänge verloren.

»Sowohl die Ausbildungs- als auch die Ausbildungsbetriebsquote gehen in diesem Zeitraum deutlich (ca. 10%) zurück … Das bedeutet, dass immer weniger Betriebe ausbilden (2012 noch 21,3%) und gleichzeitig die duale Ausbildung an Gewicht für das Beschäftigungssystem verliert (Ausbildungsquote).« 2013 gab es zum ersten Mal mehr Studienanfänger als Neuzugänge in eine duale Berufsausbildung.

Das „Übergangssystem“ als Auffangbecken für die Übriggebliebenen und (Noch-)Nicht-Verwertbaren hat zwar abgenommen, allein schon aufgrund der durch die demografische Entwicklung bedingten rückläufigen Zahl an jungen Menschen und weil tatsächlich aufgrund der Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen zuungunsten der Betriebe einige von ihnen auch Jugendlichen ein Chance geben, die früher nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs gekommen wären, aber immer noch mehr als 250.000 strömen erst einmal in das überaus heterogene „Übergangssystem“. Dieser anhaltende Zustrom ist zudem sozial hoch selektiv, wie man dem Bildungsbericht 2014 entnehmen kann:

»Mündet bei den deutschen Neuzugängen jeder Vierte ins Übergangssystem, so ist es bei den Ausländern fast die Hälfte. Bei den unteren Schulabschlusskategorien steigen bei den ausländischen Jugendlichen die Einmündungsquoten im Übergangssystem auf annähernd 85% bei Neuzugängen ohne Hauptschulabschluss und auf fast drei Fünftel mit Hauptschulabschluss. Selbst bei Neuzugängen mit Mittlerem Abschluss bleibt die Quote der ausländischen Jugendlichen im Übergangssystem knapp doppelt so hoch wie bei der entsprechenden deutschen Schulabsolventengruppe … Im Übergangssystem haben die männlichen Neuzugänge einen Anteil von drei Fünfteln, sind also stärker von Übergangsschwierigkeiten betroffen.«

Aber es gibt nicht nur die jungen Menschen, die in dem vielgestaltigen und seit langem einer kritischen Bewertung unterworfenen „Übergangssystem“ zwischengelagert und bestenfalls mit einem mehr oder weniger langen Zeitaufwand am Ende dem Ausbildungssystem doch zugeführt werden – oder aber in irgendeine Beschäftigung abwandern.

Es war der EU-Sozialkommissar László Andor, der diese Tage in einem Interview („Die Statistik verbirgt 370.000 junge Arbeitslose“) den Finger auch auf eine der Wunden bei uns gelegt hat:

»Deutschland hat zwar offiziell eine registrierte Jugendarbeitslosigkeit von nur 7,8 Prozent. Die wahre Jugendarbeitslosigkeit ist aber weitaus höher. In Deutschland gibt es 370.000 arbeitslose Jugendliche, die nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen, weil sie nicht nach Arbeit suchen und nicht in Ausbildung oder Schulung sind. Das ist eine sehr hohe Zahl, die ein Grund zur Sorge ist. Viele dieser Jugendlichen sind Migranten oder Außenseiter der Gesellschaft. Aus Sicht der EU-Kommission muss die deutsche Politik sich um diese Gruppe viel stärker kümmern. Der deutsche Ansatz bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist zu stark auf die offiziell registrierten arbeitslosen Jugendlichen konzentriert. Deutschland muss mehr tun, um die Jugendgarantie, wonach jeder Jugendliche unter 25 Jahren nach vier Monaten einen Job, Ausbildungs- oder Praktikumsplatz erhalten soll, umzusetzen. Die Politik muss sich auch um jene Menschen kümmern, die nicht im Computersystem registriert sind, aber trotzdem keine Arbeit haben und dringend Hilfe benötigen.«

Das sind ja nun andere Zahlen als die, die man ansonsten gewohnt ist. Wo kommen die 370.000 her und wie muss man die einordnen?

Diese Zahl hat sich der EU-Sozialkommisar nicht ausgedacht, sondern sie stammt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus Deutschland selbst. Denn in deren National Implementation Plan to Establish the EU Youth Guarantee in Germany aus dem April 2014 findet man den folgenden Passus:

»The NEET rate (NEET meaning not in education, employment or training) comprises those young people of the same age who neither go to work nor attend vocational education and training nor are in other forms of education. Germany had a NEET rate of 7.1 percent (640,000 individuals) in 2012 – almost twice as many as young unemployed.«

Das NEET-Konzept (NEET = „Not in Employment, Education, or Training“), ist ein erweitertes Erwerbslosigkeitskonzept, bei dem – neben den im engeren Sinne arbeitslosen Jugendlichen – auch arbeitsmarktferne Jugendliche, die sich nicht in Bildung, Ausbildung oder Beschäftigung befinden, als Risikogruppe in die Berechnung einfließen, so Hans Dietrich in seinem Aufsatz Qualitative und quantitative Dimensionen von Jugendarbeitslosigkeit in Europa, der 2013 in der Zeitschrift Wirtschaftsdienst veröffentlicht wurde. Zu den NEETS vgl. auch die Studie von Eurofound (2012): NEETs – Young people not in employment, education or training: Characteristics, costs and policy responses in Europe, Dublin.

Das alles verdeutlicht, dass wir nicht nur in den Krisensstaaten der EU eine Menge zu tun haben, wenn es um die Teilhabeperspektiven der jungen Generation geht. Auch in Deutschland, dem angeblichen Musterland, gibt es zahlreiche Baustellen. Insofern ist es konsequent, dass der Deutschlandfunk die Serie „Europas vergessener Nachwuchs“, die in der Sendung „Campus & Karriere“ gelaufen ist, mit einem Blick auf die Situation in Deutschland abgeschlossen hat. Die Beiträge aus dieser Serie kann man hier abrufen bzw. nachlesen:

Es ist eine verfahrene Situation – seit mehreren Jahren gibt es massive Probleme mit einer sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit vor allem in den südeuropäischen Staaten. Aber nicht nur dort, wie hier gezeigt wurde, sondern auch in dem „Musterland“ Deutschland, das nicht nur im Fußball Weltmeister geworden ist, sondern auch hinsichtlich des Umgangs mit den offenen und vor allem den versteckten jugendlichen Arbeitslosen weltmeisterlicher Qualitäten an den Tag legt. Und dies ist hier ausdrücklich im positiven wie im negativen Sinne gemeint. Denn auf der einen Seite kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass es in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart gelungen ist bzw. gelingt, einen Großteil der Jugendlichen beim Übergang zwischen Schule und Beruf gut zu integrieren in das Erwerbssystem. Von zentraler Bedeutung hierfür ist das duale Berufsausbildungssystem in Deutschland. Über dieses höchst komplexe Gebilde im Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften ist es bislang sehr gut gelungen, die Mehrheit der jungen Menschen in eine vernünftige berufliche Grundbildung einzubetten.

Allerdings muss auf zwei zentrale Schwachstellen hingewiesen werden: Zum einen gerät seit längerem das System der dualen Berufsausbildung in dem Moment, in dem andere Länder am liebsten dieses System kopieren und zu sich verpflanzen würden, von mehreren Seiten schwer unter Druck. „Von oben“, weil immer mehr junge Menschen an die Hochschulen drängen, darunter auch sehr viele, die früher eine duale Berufsausbildung gemacht hätten. Aber auch „von unten“, denn die Öffnung der Ausbildung für so genannte „leistungsschwächere“ Jugendliche lässt sich nur auf dem Papier so einfach bewerkstelligen, denn zum einen sind die Ausbildung in den vergangenen Jahren teilweise erheblich kognitiv angehoben worden, so dass sich gerade für Jugendliche, die an und in der Schule gescheitert sind, erhebliche neue Scheiternswahrscheinlichkeiten ergeben. Zum anderen ist es aber auch so, dass unter diesen Jugendlichen, die bislang keinen Zugang zu einer Ausbildung gefunden haben, natürlich auch junge Menschen sind, die erhebliche Verhaltensprobleme oder andere persönliche Einschränkungen haben, die es dem einzelnen Auszubildenden Unternehmen schwer bis teilweise unmöglich macht, hier eine betriebliche Ausbildung anbieten zu können.

Nun wird nicht erst seit gestern über die Probleme beim Übergang zwischen Schule und Beruf diskutiert und experimentiert mit Lösungsmöglichkeiten. Man kann und muss sogar so weit gehen, festzustellen, dass wir in keinerlei Hinsicht mehr ein Erkenntnisproblem haben, was sowohl die Schwachstellen wie auch die konzeptionellen Ansätze für eine sinnvolle Reform dessen, was bei uns als „Übergangssystem“ bezeichnet wird, angeht – sondern ein im wahrsten Sinne des Wortes leider typisch deutsches Umsetzungsproblem. Hier lassen sich bei genauerer Betrachtung zwei zentrale Problemstellen identifizieren: zum einen ist es bis heute nicht gelungen, die vielen guten und auch erprobten Ansätze aus den zahlreichen Modellprojekten in eine nachhaltige, flächendeckende Struktur zu implementieren. Wir brauchen nicht nur eine Verstetigung, sondern auch eine Konzentration der mit diesen Ansätzen verbundenen Personen unter einem Dach. An diesem Aspekt setzt ja auch konzeptionell der Ansatz der Jugendberufsagenturen an (vgl. als Beispiel die Hamburger Jugendberufsagentur), wobei darauf zu achten ist, dass hier nicht nur eine neue Hülle geschaffen wird, sondern dass auch tatsächlich unter dieser Hülle die modernen pädagogischen Konzepte für die Arbeit mit den Jugendlichen umgesetzt werden (können). Auf der anderen Seite ist es im wahrsten Sinne des Wortes skandalös, dass die Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte, die an dieser schwierigen Schnittstelle zwischen Schule und Beruf arbeiten, mit zu den am schlechtesten ausgestalteten in der Bildungskette gehören. Nicht nur eine desaströs niedrige Bezahlung, sondern die auch noch verbunden mit im Regelfall extrem kurz laufenden Befristung sind Alltag in diesem Bereich. Dies ist nicht nur mit Blick auf die betroffenen problematisch, sondern vor allem angesichts einer Erkenntnis, die man aus vielen Modellprojekten ableiten konnte und die sich bei logischer Betrachtung von selbst ergibt: Gerade in diesem Bereich sind dauerhafte Beziehungen zwischen den Fachkräften und den betroffenen Jugendlichen von zentraler Bedeutung, denn hier müssen nicht nur zu den Jugendlichen, sondern auch zu den Arbeitgebern, die bereit sind, einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, sichere Bindung aufgebaut werden. Das alles ist höchst voraussetzungsvoll.

Angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland immer noch derart massive Probleme haben, wenn es um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bzw. der Ausbildungslosigkeit junger Menschen geht, sollte es nicht verwunderlich sein, dass das in anderen Ländern noch weitaus schlimmer aussieht und dass die europäische Ebene angesichts der unglaublichen Heterogenität, die sich schon innerhalb eines Landes, geschweige denn zwischen den unterschiedlichen Ländern ausprägt, mit großen Summen zu operieren scheint, in Wahrheit aber damit konfrontiert ist, dass man immer noch hinsichtlich der so genannten Youth Guarantee im wesentlichen auf der Ebene der Verlautbarungsrhetorik stecken geblieben ist.

Es gibt wahrlich keine einfachen Antworten auf diesem Spielfeld, aber überhaupt nicht zu spielen bzw. darüber zu diskutieren, dass das Spielfeld äußerst uneben ist, wird sich im Nachhinein noch einmal bitter rächen. Denn sehenden Auges produziert man derzeit eine im wahrsten Sinne des Wortes „verlorene Generation“.

Wie passt das zusammen? Klagen über Fachkräftemangel und Akademisierungswahn – und dann fällt die Zahl der neuen Ausbildungsverträge auf einen historischen Tiefstand. An der Passung liegt es, aber nicht nur

Das sind keine erfreulich daherkommenden Nachrichten, die das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn der Öffentlichkeit mitteilen musste: „Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fällt auf historischen Tiefstand„, so ist die Botschaft überschrieben.

Die wichtigsten Befunde in der Zusammenfassung: »(Die) Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fiel auf einen historischen Tiefstand, den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Zugleich nahmen die Passungsprobleme zu: ein höherer Anteil des betrieblichen Ausbildungsangebots blieb unbesetzt, und mehr Ausbildungsplatznachfrager blieben bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos. Insgesamt verschlechterte sich die Marktlage zu Lasten der Jugendlichen, und es gelang nicht mehr im selben Ausmaß wie in den drei Jahren zuvor, ausbildungsinteressierte Jugendliche an dualer Berufsausbildung zu beteiligen.«

Natürlich stellt sich angesichts dieser Daten die völlig naheliegende Frage, wie es sein kann, dass in den Medien andauernd über fehlende Fachkräfte – dabei auch und zutreffend in den „klassischen“ Ausbildungsberufen und nicht nur bezogen auf Ärzte oder Ingenieure – sowie fehlende Azubis diskutiert wird und ebenfalls grundsätzlich zutreffend über die problematischen Auswirkungen der expandierenden Akademisierung auf das System der dualen Berufsausbildung (vgl. hierzu beispielsweise die Arbeit „Wie viel akademische Bildung brauchen wir zukünftig? Ein Beitrag zur Akademisierungsdebatte“ von Hartmut Hirsch-Kreinsen) berichtet und diskutiert wird – und dann müssen wir einen solchen Einbruch bei der Zahl der Ausbildungsverträge zur Kenntnis nehmen?

Sven Astheimer versucht sich in der FAZ an Erläuterungsversuchen: »Neben dem demographischen Wandel gibt es weitere Gründe für den Rückgang in den Lehrberufen. Zum einen sorgt der Trend zu höheren Abschlüssen dafür, dass die Zahl der Studienanfänger mit mehr als einer halben Million mittlerweile fast gleichauf mit den neuen Lehrlingen liegt.« Und weiter: »Zum anderen sprechen Fachleute vom Bundesinstitut für Berufsbildung, die die Statistik erhoben haben, von einer steigenden „Passungsproblematik“: Das bedeutet, dass das Angebot an Lehrstellen und die Jugendlichen häufig nicht mehr zusammen passen. Das kann daran liegen, dass etwa Berufe im Handwerk, der Gastronomie oder in der Landwirtschaft nicht mehr den Wünschen der Jugendlichen entsprechen. Genauso gut ist möglich, dass die Qualifikation der Bewerber nicht den Anforderungen der Arbeitgeber entspricht.«

Bereits Ende Oktober hatte Astheimer in seinem Artikel „Lehrstellen und Bewerber finden schwerer zusammen“ auf diese Passungsprobleme hingewiesen und die Debatte darüber sofort als eine des Kampfes um „Deutungshoheit“ gewertet. Damit meint er die reflexhaften Reaktionen der Gewerkschaften und der Wirtschaft auf die sich verschlechternden Zahlen vom „Ausbildungsmarkt“ (wobei die Anführungszeichen hier von mir gesetzt werden vor allem für den Terminus „Markt“, denn es handelt sich wenn überhaupt nur um einen sehr amputierten „Markt“). Während die Gewerkschaften auf die „krisenhafte“ Entwicklung abstellen und angesichts der (wieder zunehmenden) Probleme eines Teils der jungen Menschen und der beobachtbaren Reduktion der Zahl der überhaupt ausbildenden Betriebe einen „Rechtsanspruch auf eine Lehrstelle“ fordern, kontern die Wirtschaftsvertreter: „Mangelnde Ausbildungsreife lässt sich nicht durch Rechtsanspruch aus der Welt definieren“. Mit diesen Worten wird Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, in dem Beitrag von Astheimer zitiert. In allen Branchen und Berufen gebe es unbesetzte Lehrstellen. Die tatsächliche Zahl liege sogar noch deutlich über den offiziellen, denn längst nicht jedes Unternehmen melde seine offenen Stellen.

Es ist wie so oft eine Spiegelbild der allgemeinen wirtschaftspolitischen Debatte: Die Gewerkschaften fokussieren ihre Kritik auf die Nachfrageseite des „Ausbildungsmarktes“, also die Unternehmen, denen man „Versagen“ bei der Aufgabe, genügend Ausbildung nachzufragen, vorwirft, während die Arbeitgeber auf der Angebotsseite des „Ausbildungsmarktes“ herumreiten, also die mangelnde „Ausbildungsreife“ oder ein spezifisches Wahlverhalten der potenziellen Azubis beklagen, das dann im Ergebnis zu nicht besetzten Ausbildungsstellen führen würde. Und wie so oft wird die Wahrheit in der Mitte dieser beiden großen Schneisen liegen.

Die Bewerber sind oft nicht dort, wo es die Stellen gibt. Dann reicht eben der Blick auf die Gesamtzahl an angebotenen und nachgefragten Ausbildungsstellen nicht aus, er führt eher auf die falsche Fährte. Die ostdeutschen Bundesländer haben das jahrelang schmerzhaft zu spüren bekommen. Natürlich gebe es eine (aber nur scheinbar) einfache Lösung dieses allgemeinen Mismatch-Problems: Die junge Leute müssen eben dahin, wo es ausreichend oder gar zu viele Ausbildungsplätze gibt. Wenn man das aus welchen Gründen auch immer nicht hinbekommt oder auch nicht hinbekommen möchte, dann muss man für einen Teil der jungen Menschen Alternativen schaffen – auch davon können die ostdeutschen Bundesländer ein Lied singen.
Die Experten des Bundesinstituts für Berufsbildung gehen differenziert an die Situation heran. Sie identifizieren unterschiedliche Problemtypen auf dem Ausbildungsmarkt, eine instruktive Übersicht findet sich in dieser aktuellen Veröffentlichung:

Joachim Gerd Ulrich, Stephanie Matthes, Simone Flemming, Ralf-Olaf Granath, Elisabeth M. Krekel: Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2013. Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fällt auf historischen Tiefstand. BIBB-Erhebung über neu abgeschlossene Ausbildungsverträge zum 30. September (vorläufige Fassung vom 12.12.2013), Bonn

Die dieser Publikation entnommene Abbildung (Ulrich et al. 2013: 12) verdeutlicht, dass das Besondere an dem „Passungsproblem“ ist, dass hier vielen erfolglosen Bewerbern zugleich viele offene Ausbildungsstellen gegenüberstehen. Regionale Mismatch-Situationen hingegen gehören oftmals zum „Versorgungsproblem“. Alle hier dargestellten Problembereiche des „Ausbildungsmarktes“ werden dann detailliert und mit aktuellen Daten bestückt analysiert.

60% aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge wurden im Bereich Industrie und Handel registriert. Im Handwerk – als zweitgrößtem Bereich – waren es 26,8%. Und hier sind leider die stärksten Rückgänge zu beobachten: Das Handwerk musste erneut einen deutlichen Rückgang bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen hinnehmen musste (bundesweit um -5.200 bzw. -3,5% auf nunmehr 142.100). Ein noch deutlicheres Minus war in diesem Jahr jedoch im Bereich Industrie und Handel zu verzeichnen, wo insgesamt nur noch 318.500 neue Ausbildungsverträge (-14.100 bzw. -4,2% im Vergleich zum Vorjahr) abgeschlossen wurden (Ulrich et al. 2013: 8).

Mit Blick auf die Zukunft: Nicht nur die offensichtlich rückläufige Ausbildungszahlen am Anfang der Ausbildungsphase sollten vor dem Hintergrund des erheblichen Ersatzbedarfs in Handwerk und Industrie auf der Ebene der Facharbeiter sowie bei den kaufmännischen Berufen zu erheblicher Besorgnis Anlass geben. Wir steuern hier immer stärker auf massive Engpassprobleme zu. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass bekanntlich nicht alle, die eine Ausbildung anfangen, diese auch mit einem Abschluss beenden. Wir sind in Teilbereichen des dualen Systems mit erheblichen Anteilen an Ausbildungsabbrechern konfrontiert:

»Im Jahr 2011 wurden im Bundesgebiet fast 150.000 Ausbildungsverträge (24,4 %) vorzeitig gelöst … Dabei gibt es zwischen den verschiedenen Ausbildungsberufen sehr große Unterschiede. Die Spannweite reicht vom Beruf Verwaltungsfachangestellte/-r mit der geringsten Quote von 3,7 % zum/zur Restaurantfachmann/ -frau mit der höchsten Quote von 51,0 %.« So die Zahlen aus der Studie von Ursula Beicht und Günter Walden: Duale Berufsausbildung ohne Abschluss – Ursachen und weiterer bildungsbiografischer Verlauf. Analyse auf Basis der BIBB-Übergangsstudie 2011 (=BIBB-Report 21/13), Bonn 2013.

Das alles hat nicht nur was mit mangelnder „Ausbildungsreife“ der jungen Menschen zu tun, sondern auch mit einer mangelhaften „Ausbildungsreife“ so mancher Betriebe- Hierzu ausführlicher:

Matthias Anbuhl und Thomas Gießler: Hohe Abbrecherquoten, geringe Vergütung, schlechte Prüfungsergebnisse – Viele Betriebe sind nicht ausbildungsreif. DGB-Expertise zu den Schwierigkeiten der Betriebe bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen, Berlin 2012

Die neuen Zahlen geben uns bedenkliche Hinweise auf die Verhasstheit des dualen Ausbildungssystems – das insgesamt unter einem doppelten Druck steht: Zum einen „von oben“, da immer mehr junge Leute, die früher hier eingemündet sind, nunmehr an die überfüllten Hochschulen strömen, zum anderen aber auch „von unten“, weil gleichzeitig aufgrund der gestiegenen Anforderungen in vielen Ausbildungsberufen eine Öffnung hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen verbaut oder zumindest erheblich erschwert ist.

Ein schrumpfender „Ausbildungsmarkt“ (der kein wirklicher Markt ist) für viele Jugendliche in Zeiten des (angeblichen) Fachkräftemangels und nicht besetzbarer Ausbildungsplätze in vielen Betrieben?

Rekapituliert man die Diskussion über die  Ausbildungslandschaft in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit, dann muss man feststellen, dass die Debatte innerhalb weniger Jahre scheinbar von einem Extrem in das andere gekippt ist. Noch vor wenigen Jahren wurde händeringend um jeden weiteren, zusätzlichen Ausbildungsplatz für Jugendliche gekämpft. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, wie wichtig die Möglichkeit Berufsausbildung für Schulabgänger sein. Seit einiger Zeit hingegen dominiert in der Berichterstattung der Aspekt, dass es zunehmend für viele Betriebe schwierig bis unmöglich geworden sei, überhaupt noch einen Bewerber oder eine Bewerberin auf einen zu besetzenden Ausbildungsplatz zu bekommen.

Zeitweilig konnte man den Eindruck bekommen, dass auf der Basis der Medienberichterstattung zugespitzt formuliert Zeiten angebrochen sind, in denen junge Menschen bereits dann ein iPad geschenkt bekommen, wenn sie nur zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Stellvertretend für die tatsächlichen Ausformungen sei hier auf den Artikel „Suche Azubi, biete Auto“ hingewiesen, der Anfang September veröffentlicht wurde: »Kurz vor Beginn des Lehrjahrs sind in Deutschland noch Zehntausende Ausbildungsplätze frei. Die Lehrbetriebe locken mit Begrüßungsgeld, Smartphone oder einem eigenen Wagen.« Und tatsächlich konnte und kann man in zahlreichen Regionen beobachten, dass bestimmte Schulabgänger, die noch vor kurzem einfach aufgrund der Tatsache, dass sie „nur“ mit einem Hauptschulabschluss die Schule verlassen haben, nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs gekommen sind, nunmehr einen Ausbildungsplatz bekommen, schlichtweg, weil sich die Angebots-Nachfrage-Relationen am so genannten „Ausbildungsmarkt“ zu ihren Gunsten verschoben haben. Immer mehr Betriebe äußern sich in der lokalen Presse darüber, dass es ihnen nicht mehr gelingt, überhaupt ausbildungsinteressierte junge Menschen zu finden. Und nicht selten wird natürlich der Hinweis gegeben, dass es oftmals an der so genannten „Ausbildungsreife“ der jungen Menschen in erheblichem Umfang mangelt. Diese Entwicklung wird erweitert durch den ängstlichen Blick auf die vor uns liegenden Jahre, für die immer deutlicher ein Mangel an Fachkräften besonders im mittleren Qualifikationsbereich vorhergesagt wird, was auch damit zusammenhängt, dass in der Vergangenheit „zu wenig“ ausgebildet wurde, als es genügend junge Menschen gab, während jetzt die Zahl der potenziellen für eine Berufsausbildung zur Verfügung stehenden Jugendlichen aufgrund der demografischen Entwicklung abnimmt.

Andererseits haben aufmerksame und zugleich kritische Beobachter dessen, was im System der Berufsausbildung passiert, immer darauf hingewiesen, dass selbst im vergangenen Jahr, als bereits überwiegend nur über „Fachkräftemangel“ und immer weniger Auszubildende diskutiert wurde, gut 270.000 junge Menschen nicht den Übergang in eine normale Berufsausbildung haben finden können oder wollen. Sie sind im so genannten „Übergangssystem“ gelandet, beispielsweise in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.

Vor diesem Hintergrund muss man die folgende aktuelle Meldung lesen: „Tausende Jugendliche finden keinen Ausbildungsplatz„, so Spiegel Online: »Trotz der guten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sinkt die Zahl der Lehrstellen. Laut Arbeitsagentur haben in diesem Jahr 21.000 Jugendliche noch keine Ausbildung gefunden. Schlecht sieht es vor allem in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin aus.« Wie kann das sein?

Bevor es an die Beantwortung dieser und andere Fragen geht, ein kurzer, aber notwendiger Blick auf die Daten sowie auf die strukturellen Rahmenbedingungen im Ausbildungssystem. Hinsichtlich der Schulabgänger eines Jahres gibt es verschiedene Optionen: DieAbgänger, die eine Hochschulreife erworben haben, können ein Studium aufnehmen oder aber eine Berufsausbildung unterhalb des Hochschulniveaus absolvieren. Die Schulabgänger, die über einen Realschul- oder einen Hauptschulabschluss verfügen, haben ihrerseits die Möglichkeit, eine duale oder fachschulische Berufsausbildung aufzunehmen oder aber sie werden verwiesen an das bereits erwähnte „Übergangssystem“ mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Maßnahmen, zu denen auch das Nachholen eines Schulabschlusses bzw. die Erlangung eines nächsthöheren Schulabschlusses gehören kann. Von den Schulabgänger/innen des Jahres 2012 sind beispielsweise 30 % direkt in eine duale Berufsausbildung eingemündet.

Die Abbildung zur Ausbildungsmarktentwicklung von 2009 bis 2012 (Stichtag 30. September) ist dem Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) entnommen. 2012 wurden 584.547 Ausbildungsplätze angeboten, dem stand eine Ausbildungsnachfrage von 627.300 gegenüber. Tatsächlich abgeschlossen wurden 551.271 Ausbildungsverhältnisse. Am 30.09.2012 gab es 33.276 noch nicht besetzte Ausbildungsplätze, aber auch mehr als 76.000 noch nicht versorgte Bewerber/innen. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es sich hierbei um hoch aggregierten Daten für Deutschland insgesamt handelt. Eine besondere Problematik auf dem so genannten „Ausbildungsmarkt“ besteht darin, dass wir nur in einem sehr eingeschränkten Umfang von einem „Markt“ sprechen können. Man kann sich dies an zwei Beispielen verdeutlichen:

  • Zum einen ist die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen, aber vor allem auch das Angebot sehr stark lokal bzw. maximal regional fokussiert. Die jungen Menschen suchen in aller Regel vor Ort, da wo sie wohnen, einen Ausbildungsplatz und orientieren sich – neben ihren persönlichen Präferenzen – immer auch zwangsläufigerweise an den gegebenen Angebotsstrukturen, sie richten also ihre konkrete Nachfrage aus an dem vorhandenen Ausbildungsangebot, das natürlich von Region zu Region stark unterschiedlich bzw. dadurch gekennzeichnet ist, dass bestimmte Berufe (beispielsweise Friseure) überdurchschnittlich viele Ausbildungsplätze anbieten.
  • Zum anderen ist es natürlich auch so, dass der Ausbildungswunsch der jungen Menschen nicht selten konfligiert mit den Anforderungen bzw. den Erwartungen, die auf Seiten des Ausbildungsplatzangebots vorhanden sind. Die ganze Debatte rund um das überaus ambivalente Thema der so genannten „Ausbildungsreife“ lässt sich hier verorten. Das kann dann im Ergebnis auch dazu führen, dass angebotene Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können, da die Betriebe keine aus ihrer Sicht geeignete Bewerber/innen vorfinden.

Im Ergebnis führt das zu einem regionalen wie auch qualifikatorischen Missmatch zwischen Angebot und Nachfrage, so dass die Tatsache, dass auf der einen Seite Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, während junge Menschen andererseits parallel keinen Ausbildungsplatz finden, eine zwangsläufige Konsequenz und bis zu einem gewissen Grad auch nicht vermeidbar ist.

Die aktuellen Berichte über die Lage auf dem Ausbildungsmarkt beziehen sich auf vorläufige Daten der Bundesagentur für Arbeit – dabei ist zu beachten, dass eben nicht alle Ausbildungsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet werden und wenn im folgenden von nicht versorgten Bewerbern die Rede ist, dann muss man wissen, dass beispielsweise Jugendliche, die in das Übergangssystem eingemündet bzw. die als noch nicht ausbildungsfähig deklariert worden sind, in denen Zahlen gar nicht auftauchen.

Spiegel Online berichtet: »Während die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze … um 2,4 Prozent auf 504.500 sank, blieb die Zahl der Bewerber mit 561.200 nahezu konstant. Auf eine betriebliche Ausbildungsstelle kommen statistisch gesehen rund 1,2 Bewerber. Gleichzeitig waren noch 33.500 Stellen unbesetzt – etwa aus Mangel an geeigneten Interessenten. Regional ist die Lage sehr unterschiedlich. Schlechte Aussichten gebe es in Teilen von Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie in Berlin, während die Bedingungen für junge Menschen in Bayern, an der Ostseeküste und in Sachsen besonders gut seien.«

Und weiter heißt es in dem Artikel: »Die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen ist seit Jahren rückläufig. Im vergangenen Jahr stellten nur noch 21,7 Prozent der 2,1 Millionen Unternehmen in Deutschland Lehrlinge ein. Vor allem kleinere Betriebe ziehen sich aus der Ausbildung zurück.«
Sven Ascheimer thematisiert in seinem Artikel „Lehrstellen und Bewerber finden schwerer zusammen“ den Befund: »Tausende Bewerber finden keine Lehrstelle. Allerdings gibt es noch mehr unbesetzte Stellen.«

Astheimer berichtet in seinem Artikel auch von den gleichsam reflexhaften Reaktionen der wichtigsten Akteure im Feld der Berufsbildungspolitik – man könnte auch sagen, nichts Neues von dieser Seite:

»Aus Sicht der Arbeitnehmervertreter ist die Sache eindeutig. „Der Ausbildungsmarkt nimmt krisenhafte Züge an“, findet Elke Hannack, die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sie sieht vor allem kleine und mittlere Unternehmen aus der Ausbildung fliehen … Jeder Jugendliche mit einem Schulabschluss müsse zudem einen Rechtsanspruch auf eine Lehrstelle erhalten … Die Wirtschaft wies die Vorwürfe umgehend zurück. „Mangelnde Ausbildungsreife lässt sich nicht durch Rechtsanspruch aus der Welt definieren“, sagte Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.«

Wieder einmal wird bei diesen reflexhaften Reaktionen auf die neuen Zahlen vom Ausbildungsmarkt vergessen, woraus die wirklichen Herausforderungen vor allem des Berufsausbildungssystems in Deutschland bestehen: Zum einen gerät das gesamte System der dualem Berufsausbildung „von oben“ unter Druck. Damit soll ausgedrückt werden, dass durch den Anstieg des Anteils derjenigen, die eine Hochschulreife erwerben sowie durch den gesellschaftlichen, auf eine akademische Qualifikation fokussierte Diskussion, die Hochschule eine unglaubliche Sogwirkung auf die jungen Menschen ausübt, was aber eben auch zur Folge hat, dass viele, die früher eine duale Berufsausbildung gemacht hätten, heute direkt an die Hochschulen gehen und sich dem System der betrieblichen Ausbildung entziehen. Zum anderen aber kommt das System der dualen Berufsausbildung auch „von unten“ unter Druck. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Betriebe angesichts des Wegbrechens vieler potenzieller Auszubildender am oberen Rand nunmehr ausweichen müssten in den Bereich der so genannten „leistungsschwächeren Jugendlichen“, was einige Betriebe und das oft auch sehr vorbildhaft tun. Allerdings gibt es in der Realität für viele Unternehmen hier eindeutig Sperren nach unten, denn in den vergangenen Jahren sind viele Berufe auch und gerade kognitiv erheblich aufgewertet worden, was die Inhalte und die Komplexität derselben angeht. Hier stellt sich nicht selten das Problem, dass „leistungsschwächere“ Auszubildende, denen man nun eine Chance geben möchte (oder aufgrund der Marktverhältnisse geben muss), an den Anforderungen beispielsweise in den Berufsschulen scheitern. Unter diesem Doppeldruck von oben und unten droht das gewachsene – und von vielen Außenstehenden beobachtete und besonders gelobte und herausgestellte – deutsche System der dualen Berufsausbildung in eine existenziell bedrohliche Schieflache zu geraten.
Hinzu kommt die Problematik, dass aufgrund des massiven Bewerberüberhangs in den zurückliegenden Jahren zu wenig junge Menschen ausgebildet worden sind und diejenigen, die damals ohne eine Berufsausbildung geblieben sind, heute in einem Alter zwischen 20 und 30 Jahren ohne eine formale Berufsqualifikation im Arbeitsleben mit zahlreichen erheblichen Risikofaktoren zu kämpfen haben. Die eigentlich zu ziehende Konsequenz aus diesem Tatbestand wäre eine umfassende und gut ausgestattete Ausbildungsinitiative unter denjenigen, die heute zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, damit deren Qualifizierungspotenziale wenigstens ansatzweise zum Durchbruch gelangen können. Davon hört man derzeit in Berlin und anderswo leider nichts. Stattdessen wird Empfängern von Hartz IV -Leistungen in dieser Altersgruppe mit „warmen“ Gesprächen nahegelegt, doch eine Ausbildung zu machen – ein Ansatz, der natürlich schon aus strukturellen Gründen grosso modo zum Scheitern verurteilt ist, denn viele in dieser Altersgruppe können sich eine Ausbildung zu klassischen Bedingungen gar nicht leisten oder auch nicht vorstellen. Hier müssten die Formate der dualen Berufsausbildung an diese andere Altersgruppe entsprechend angepasst werden.
Vor diesem Hintergrund kann man den beteiligten und verantwortlichen Akteuren nur zurufen: Raus aus den Schützengräben und gemeinsam die weitere Existenz des gewachsenen deutschen Systems der dualen Berufsausbildung verteidigen, dass sich bereits auf einer schiefen Ebene mit einem gefährlichen Neigungswinkel befindet.