Der Nachwuchs bleibt aus. Gleichzeitig: Schlechte Zeiten für Azubis. Was denn nun? (Scheinbare) Widersprüche in der dualen Berufsausbildung

So eine Meldung aus Hamburg werden viele nach der Berichterstattung der letzten Zeit erwarten: Lehrling gesucht. »Die Kammern sorgen sich, weil der Nachwuchs ausbleibt.« Das passt zu den Botschaften, die seit geraumer Zeit verbreitet werden: Aufgrund der demografischen Entwicklung gäbe es immer weniger (potenzielle) Auszubildende, gleichzeitig steigt die Zahl der Studienberechtigten und die der tatsächlich auch Studierenden kontinuierlich an, darunter auch viele, die früher eher eine duale Berufsausbildung gemacht hätten. Und dann wird seitens der Unternehmen immer wieder beklagt, dass viele der jungen Menschen gar nicht „ausbildungsreif“ seien.
Und dann wird man auf der anderen Seite mit so einem Artikel konfrontiert: Schlechte Zeiten für Azubis. Hat der Verfasser die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Und der Anfang des Berichts scheint die Widersprüche auf die Spitze zu treiben: «Mittlerweile gibt es mehr Lehrstellen als Bewerber. Die Lage hat sich dennoch für die Jugendlichen verschlechtert«. Das behauptet zumindest der DGB. Schauen wir einmal genauer hin.

Stefan Sauer beginnt seine Reise in die Tiefen oder Untiefen der Zahlenwelt mit der „offiziellen“ Darstellung der Lage:

»Oberflächlich betrachtet ist die Lage für Lehrstellenbewerber mittlerweile recht komfortabel. Die Zeiten, in denen die Zahl der Bewerber jene der freien Stellen bei weitem überstieg, scheinen lange vorbei. Ende August standen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) 103.000 jungen Leuten, die eine Lehrstelle suchten, 117.000 unbesetzte Plätze gegenüber. Eine ähnliche Tendenz wies die offizielle Statistik für 2013 Jahr aus. Am Ende blieben 33.000 Lehrstellen frei, während lediglich 21.000 unversorgte Bewerber in der Statistik geführt wurden.«

Soweit die entspannende Nachricht von der Ausbildungsfront. Doch der DGB kritisiert diese Darstellung als eine – vorsichtig ausgedrückt – nur eingeschränkte Abbildung der Wirklichkeit. Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass sehr viel mehr junge Menschen auf einen Ausbildungsplatz warten, als die amtlichen Statistiken glauben machen. Dazu hat der DGB eine eigene Aufarbeitung der Zahlen vorgelegt:

Matthias Anbuhl: Demographische Chance verpasst, Ausbildungsbereitschaft auf historischem Tief. Hintergrundpapier zur Lage auf dem Ausbilungsmarkt 2013, Berlin: DGB Bundesvorstand, Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit, 25.09.2014

Darin findet sich eine etwas andere Rechnung. Dazu muss man wissen, dass hier mit der vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) entwickelten Größe der „ausbildungsinteressierten“ Jugendlichen gearbeitet wird. Sie setzt sich zusammen aus der Zahl der neuen Ausbildungsverträge sowie der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zwar den Bewerberstatus erhalten haben, aber keinen Ausbildungsplatz finden konnten.

Diese Statistik zeige, so Anbuhl in seinem Papier, dass von den 816.541 jungen Menschen, die im Jahr 2013 ein ernsthaftes Interesse an einer Ausbildung hatten – und die als „ausbildungsreif“ deklariert wurden – lediglich 530.715 einen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben. Das sind nur 65 % der jungen Menschen. Im Jahr 2010 lag dieser Anteilswert noch bei 68,3 % – mithin lässt die Integrationskraft des dualen Ausbildungssystems ganz offensichtlich nach. Mehr als 280.000 haben keinen Ausbildungsplatz gefunden.

Das nun ist eine ganz andere Größenordnung als die im „offiziellen“ Zitat ausgewiesenen „lediglich 21.000 unversorgte Bewerber in der Statistik“. Die Aufklärung dieser Diskrepanz kann schnell erfolgen:  Die meisten derjenigen von den 280.000, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, werden in der Statistik deshalb nicht als „unversorgt“ geführt, weil sie beispielsweise in einer der vielen Maßnahmen des so genannten „Übergangssystems“ eingetreten sind.

»Auf dem Ausbildungsmarkt ist eine paradoxe Situation zu beobachten: Während immer mehr Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden, steigt gleichzeitig die Zahl der unbesetzten Stellen.  Zudem zeigte Ausbildungsmarkt ein nach Regionen und Berufen sehr zersplitterte Bild« (Anbuhl 2014: 2).

Was erfahren wir zu den (möglichen) Ursachen für diese bedenkliche Entwicklung? Vor allem kleine und mittlere Unternehmen ziehen sich aus der Berufsausbildung zurück.  Die Quote der Ausbildungsbetriebe ist mit 21,3 % auf den tiefsten Stand seit 1999 angelangt.  Hinzu kommt natürlich, dass gerade Betriebe in bestimmten Branchen mit einem schlechten Image, häufig in Verbindung mit schlechten bzw. schwierigen Arbeitsbedingungen, Ihre Ausbildungsstellen nicht (mehr) besetzen können – außerdem haben wir hier teilweise Abbruchquoten von begonnenen Ausbildungsverhältnissen um die 50 %, wenn man beispielsweise an den Hotel- und Gaststättenbereich denkt.

Auch 2013 sind wieder 257.600 junge Menschen in eine der vielen Maßnahmen des Übergangs von der Schule in Ausbildung eingetreten.

Besonders bedenklich ist die Tatsache, dass Hauptschüler (weiterhin) schlechte Karten haben: Nur noch sieben Prozent der Betriebe bilden Hauptschulabsolventen aus.

Soweit der Bericht von der „einen“ Seite. Die andere wird in dem Artikel Lehrling gesucht von Gernot Knödler am Beispiel der Situation in Hamburg skizziert:

»Mit großen Ausbildungsmessen werben die Handwerks- und die Handelskammer in diesen Tagen um Nachwuchs. „4.000 Lehrstellen in 126 Ausbildungsberufen“ stellt die Handelskammer noch am heutigen Mittwoch auf der 19. Hanseatischen Lehrstellenbörse in Aussicht. Bei der Handwerkskammer rückten sich schon Anfang der Woche 140 Unternehmen bei ihrer 20. Lehrstellenbörse in ein möglichst interessantes Licht.«

Offensichtlich haben die Unternehmen Mühe, ihre Ausbildungsstellen zu besetzen, sonst würden sie nicht diesen Aufwand betreiben. Aber dennoch: »… der weitaus größte Teil der Hamburger Jugendlichen (tut sich) immer noch schwer, im ersten Jahr nach der Schule einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb zu finden.«

Seit ein paar Jahren ermittelt man in Hamburg genauer, wo die Jugendlichen eigentlich bleiben, wenn sie die grundlegende Schulbildung hinter sich gebracht haben. Hier die aktuellen Daten:

»Von den SchulabgängerInnen gingen … nur knapp 40 Prozent in eine Berufsausbildung. Ungefähr genauso viele erhielten laut dem Ausbildungsreport des Senats eine Ausbildungsvorbereitung in einer Produktionsschule, ein gutes Fünftel ging zur Bundeswehr, machte ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ging ins Ausland.«

Was tun? Der DGB, der mit den Zahlen gegen die offizielle Beruhigungsberichterstattung zu Felde zieht, wiederholt wieder einmal die Forderung nach einer Ausbildungsgarantie und verbindet das mit einem ergänzenden Instrument:

»Um jedem Jugendlichen, der sich um eine Lehrstelle bewirbt, ein Angebot unterbreiten zu können, schlägt der DGB vor, kleinen und mittleren Betrieben einen professionellen Ausbildungsberater zur Seite zu stellen, der sich zusätzlich um die Azubis kümmert. Mit diesem Modell könnten vor allem kleine Betriebe für die Ausbildung gewonnen werden.«

In dem Hintergrundpapier des DGB werden folgende ergänzende Maßnahmen vorgeschlagen bzw. gefordert (vgl. Anbuhl 2014:4):
Die Gewerkschaften plädieren für eine neue Struktur des Übergangsbereichs von der Schule in die Ausbildung. Jugendliche, die nur aufgrund mangelnder Ausbildungsangebot keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, benötigen keine Warteschleifen. Sie sollten einen Rechtsanspruch auf eine Ausbildung erhalten. Der DGB empfiehlt an dieser Stelle das so genannte „Hamburger Modell“ als ein Beispiel für eine sinnvolle Neustrukturierung des Übergangssystems: Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden, absolvieren das erste Ausbildungsjahr in einer Berufsfachschule. Mit dem nächsten Ausbildungsjahr wechseln die Jugendlichen entweder in eine duale oder eine betriebsnahe Ausbildung unter Anerkennung der bisher absolvierten Ausbildungsinhalte. Diese zweite Säule ist möglichst in die Betriebe zu verlagern. Um das in der Realität auch erreichen zu können, plädiert der DGB für Modelle der „assistierenden Ausbildung“, die ausgeweitet werden müssen.  Hierbei wird die duale Ausbildung durch pädagogische Unterstützung für Auszubildende und Betriebe ergänzt, die zum Standardangebot gehört. Der DGB erkennt an, dass auch die Unternehmen Hilfe brauchen bei der Ausbildung von Jugendlichen, die man in der Vergangenheit, unter anderen “Markt“bedingungen nicht eingestellt hätte. Deshalb sollten ausbildungsbegleitende Hilfen zur Regelangeboten für die Betriebe ausgebaut werden. Für jeden Auszubildenden wird dabei ein individueller fördert Plan in Abstimmung mit dem Ausbildungsbetrieb erstellt, anhand dessen die Lernschritte und Lernerfolge verfolgt werden können. Das unterrichtende Personal setzt sich in der Regel aus erfahrenen Ausbildern und Lehrkräften zusammen. Die sozialpädagogischen Mitarbeiter unterstützen die Auszubildenden bei deren beruflichen und privaten Probleme und helfen bei Lernproblemen und Prüfungsangst. Den Betrieben und Jugendlichen wird bei der „assistierenden Ausbildung“ ein Bildungsträger zur Seite gestellt. Dieser Träger soll den Betrieben bei der Auswahl der Jugendlichen und bei der Ausbildung helfen. Zudem soll er den Jugendlichen bei Problemen in der Ausbildung unterstützen. Der DGB fordert abschließend, dieses Instrument mit ausbildungsbegleitenden Hilfen zu verknüpfen und als ein Regelinstrument in das SGB III aufzunehmen.

Soweit die Position der Gewerkschaften vor dem Hintergrund der – letztendlich nur scheinbaren – Paradoxie auf dem Ausbildungsmarkt (der übrigens kein richtiger Markt ist, weil er nicht so funktioniert), dass es immer mehr unbesetzte Lehrstellen und gleichzeitig eine erhebliche Anzahl an unversorgten Jugendlichen und jungen Menschen gibt. Bei aller Notwendigkeit, neue bzw. andere Wege zu gehen und die Zahl der jungen Menschen, die in das duale Ausbildungssystem integriert werden, zu erhöhen, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass gerade hinsichtlich der Ausbildung die Vogelperspektive auf ganz Deutschland nicht wirklich hilfreich ist, denn die Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage variieren ganz erheblich auf der regionalen und beruflichen Ebene. Und seien wir ehrlich: Rein statistisch müssten unversorgte Jugendliche aus ländlichen oder anderen Regionen, in denen es ein Ausbildungsplatzmangel gibt, in Städten wie München oder Stuttgart umziehen, wo händeringend nach jungen Bewerbern gesucht wird. Aber das ist letztendlich in den meisten Fällen nur eine theoretische Option und auch wenn die Bereitschaft bestehen sollte, werden viele junge Menschen schlichtweg finanziell und mit Blick auf den notwendigen Wohnraum an der Umsetzung dieser Option scheitern müssen. Es wird keine einfachen Lösungen geben können.

Aber man sollte nichts unversucht lassen, um die Integrationskraft des Ausbildungssystems wieder zu stärken und auf Dauer zu festigen. Die Folgekosten einer Nicht-Ausbildung für die Betroffenen wie auch für die Volkswirtschaft sind evident und gewachsene, gut funktionierende Systeme wie die duale Berufsausbildung kann man schnell auflaufen lassen und zerstören. Eine Wiederbelebung wird es dann aber nicht mehr geben.

Neuer alter Tarifvertrag für die Leiharbeit – über sozialpartnerschaftlichen Pragmatismus und Mindest-Mindestlohnrhetorik

Nach mehrmonatigen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Verbänden der Leiharbeitsbranche ist die Katze aus dem Sack: „Leiharbeit: Löhne steigen, Abstand zwischen West und Ost sinkt„, so der DGB in seiner Pressemitteilung. Das hört sich ordentlich an. Und von Holger Piening, der stellvertretende Verhandlungsführer auf der Gegenseite, wird der Ausspruch berichtet: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, noch vor der Bundestagswahl ein tragfähiges Verhandlungsergebnis zu erzielen“. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verfällt gar in eine wahre Jubelarie, wenn sie von einem „überragenden“ Schritt in der Mindestlohndebatte spricht. Was ist denn hier passiert? Welchen Durchbruch können und dürfen wir feiern für eine Personengruppe, die seit einigen Jahren im Mittelpunkt einer intensiven Debatte über die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt steht und die zuletzt fast schon einen Symbol-Status für fragwürdige Ausformungen des deutschen „Jobwunders“ angenommen hat? Ist jetzt etwa endlich die alte Forderung nach „Equal Pay“, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit, in die Wirklichkeit gehoben worden?

Die Tabelle fasst die wichtigsten Ergebnisse des neuen Tarifabschlusses zusammen. Ab dem kommenden Jahr bekommen die Leiharbeiter in drei Schritten mehr Geld, die prozentualen Steigerungsraten liegen in Westdeutschland bei 3,8%, 3,5% und 2,3%. Die Euro-Beträge für die niedrigste Entgeltgruppe in der Leiharbeit markieren zugleich den Mindestlohn für Leiharbeiter – bzw. korrekter formuliert für den einen West- und den anderen Ost-Mindestlohn, wenn denn diese Beträge seitens des Bundesarbeitsministeriums für allgemeinverbindlich erklärt wird, woran aber kein großer Zweifel bestehen kann. Dazu hat sich die amtierende Ministerin sogleich zu Wort gemeldet und das Ergebnis der Tarifparteien auch noch gegen die Oppositionsparteien eingebaut in den gerade auslaufenden Wahlkampf:

»Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte an, sie wolle die neuen Mindestlöhne umgehend für allgemeinverbindlich erklären, „damit alle Beschäftigten der Branche ab 1. Januar 2014 von dem Aufschlag profitieren können“. Die Einigung habe „eine überragende Bedeutung für die Mindestlohndebatte in Deutschland“. Das Ergebnis zeige auch, dass die Tarifparteien keine Vorgaben der Politik brauchten, um auf vernünftige Lohnhöhen zu kommen, sagte von der Leyen. Sie verwies damit auf Forderungen von SPD, Linken und Grünen nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zwischen 8,50 und 10 Euro.«

„Von Anfang an war es für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit klar, dass keinem Ergebnis zugestimmt wird, das nicht die 8,50 Euro als unterste Entgeltgruppe festschreibt. Damit haben wir zugleich die Lohnuntergrenze für den Branchenmindestlohn in der Leiharbeit festgelegt.“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki. Das ist eine durchaus mutige Interpretation des nun vorliegenden Tarifergebnisses, denn schaut man sich die Werte für Ostdeutschland an, dann ist festzuhalten, dass dort  der auf der Forderungsebene für jetzt seitens der Gewerkschaften gleichsam in Stein gemeißelte Betrag von 8,50 Euro tatsächlich erreicht wird – allerdings erst im Juni 2016!
Zugleich ist die mit dem Tarifabschluss auf Jahre festgeschriebene Zementierung einer ungleichen Bezahlung der Leiharbeiter in West und Ost zumindest begründungsbedürftig.

Das wird Ärger geben innerhalb der Gewerkschaften, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Hinter diesem Punkt werden dann auch die anderen erzielten Verbesserungen im Regelwerk verblassen und verschwinden. So weist der DGB darauf hin: Mit dem Abschluss sei es auch gelungen, den Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten als Streikbrecher zu unterbinden. Und weiter: »Geändert wurden die missbrauchsanfälligen Entgeltgruppenbeschreibungen in den untersten Entgeltgruppen EG 1-4. Leiharbeitsbeschäftigte, die z.B. als VerkäuferInnen im Einzelhandel eingesetzt sind, können nun nicht mehr grundsätzlich in EG 1 eingruppiert werden. FacharbeiterInnen haben durch die neuen Beschreibungen die Möglichkeit, höher gruppiert zu werden.«

Aber zurück zu den Hinweisen auf den drohenden Ärger innerhalb des gewerkschaftlichen Lagers. Die Kritiker haben sich bereits zu Wort gemeldet: Der Gewerkschaftsbund würde durch die Verlängerung der Tarifverträge für Leiharbeiter weiter den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unterlaufen, so der Vorwurf von Daniel Behruzi in seinem Artikel „Dumping dank DGB„. Das ist starker Tobak. Wie begründet er seinen Vorwurf mit Blick auf den aktuellen Tarifabschluss?

»Den Unternehmern bleibt damit … auf Jahre hinaus die Möglichkeit, reguläre Tarifverträge zu unterlaufen. Ohne eine Neuauflage des DGB-Vertrags wäre das laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nicht mehr möglich gewesen … Die Schlechterstellung von Leiharbeitern gegenüber den Stammbeschäftigten wird mit dem DGB-Kontrakt zementiert. Dabei sieht das AÜG eigentlich gleiche Bezahlung (Equal Pay) vor – wenn dem kein Tarifvertrag entgegensteht. Da die Vereinbarungen der »christlichen Gewerkschaften« von den Gerichten längst für illegal erklärt wurden, ist es nun allein der DGB-Tarif, der Equal Pay verhindert.«

Hier wird eine offene Wunde innerhalb des Gewerkschaftslagers angesprochen – denn in den vergangenen Monaten hatten sich nicht wenige Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre für einen Ausstieg aus dem Tarifvertrag ausgesprochen, um den „Equal Pay“-Mechanismus des Gesetzes auszulösen. So wurde im Mai dieses Jahres unter der Überschrift „Gewerkschafter gegen Leiharbeitstarifvertrag“ berichtet: »In einem Offenen Brief fordern Sekretäre, Basisaktivisten und ganze Betriebsratsgremien, die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften auf, den Tarifvertrag für die Leiharbeitsbranche einfach auslaufen zu lassen.« Der hier angesprochene Offene Brief „Equal Pay durchsetzen statt Lohndumping tarifieren – Nein zum DGB Tarifvertrag in der Zeitarbeit!“ datiert vom 11. April 2013. Darin findet man u.a. die folgenden Ausführungen:

»Wir sind gemeinsam mit zahlreichen Arbeitsrechtler/innen der Überzeugung, dass die Vorteile einer ersatzlosen Kündigung angesichts des Equal-Pay-Grundsatzes im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gegenüber möglichen und angeblichen Risiken deutlich überwiegen. Eine ersatzlose Kündigung des Tarifvertrags ermöglicht die Durchsetzung einer gleichen Bezahlung von Leiharbeiter/innen. Eine Neuauflage des Tarifvertrags hingegen zementiert Lohndumping durch die Leiharbeit und beschädigt unsere gewerkschaftliche Glaubwürdigkeit nachhaltig.«

Das hört sich im Lichte der nun bekannt gewordenen tarifvertraglichen Fortführung nach einer großen verlorenen Gelegenheit an. Das Hauptargument der Kritiker lautet ja, dass die Gewerkschaften nur einen tarifvertragslosen Zustand herbeiführen müssten, damit die im AÜG normierte Regelung des „Equal Pay“ greifen kann und muss. An dieser Stelle darf die Erinnerung erlaubt sein, dass die DGB-Gewerkschaften bei der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit im Gefolge der rot-grünen Agenda 2010-Politik ihren Tarifabschluss zur Leiharbeit damit gerechtfertigt haben, dass sie damals vor dem Problem standen, »dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren«, wie ich erst vor kurzem in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite angemerkt habe. Nachdem das Bundesarbeitsgericht diese ominösen „Tarife“ 2010 wegen der fehlenden Tariffähigkeit für unwirksam erklärte, haben die „christlichen Gewerkschaften“ das Tarifgeschäft aufgegeben.

Was kann gegen die kritische Argumentation, dass mit einer Fortführung der tarifvertraglichen Regelung eine einmalige Chance vertan wird, zu einer „Equal Pay“-Regelung zu kommen, ins Feld geführt werden? Unter der Überschrift „Tarifverträge Leiharbeit – überflüssig oder notwendig?“ findet man auf der Seite der IG Metall die folgenden drei Haupt-Argumente für einen Tarifvertrag:

»Tarifverträge schaffen Klarheit: Das Gesetz beschreibt nicht, wie Equal Pay im Betrieb funktionieren soll. Für Beschäftigte wäre nicht transparent, welche Ansprüche sie haben. Das können Arbeitgeber ausnutzen. Leiharbeitnehmer müssten unter Umständen bei jedem Einsatz ihre Ansprüche selbst ermitteln, geltend machen und notfalls vor Gericht einklagen. Im Tarifvertrag ist alles klar geregelt. Er schafft Rechtssicherheit.«

»Im Gesetz gilt das Equal-Pay-Gebot nicht für Zeiten, in denen Leihbeschäftigte nicht in Einsatzbetriebe entliehen sind. Anders als im Tarifvertrag ist dazu im Gesetz nichts geregelt.»

»Der Mindestlohn in der Leiharbeit basiert auf Tarifverträgen. Der Gesetzgeber hat den Tariflohn als Lohnuntergrenze in der Branche anerkannt. Daran müssen sich auch Verleihfirmen etwa mit Sitz in Polen halten. Ohne Tarifverträge könnten sie ihre Arbeitskräfte zu den niedrigeren polnischen Löhnen nach Deutschland schicken.«

An anderer Stelle hört man dann immer wieder auch noch den Hinweis, dass ja bei abgelaufenen Tarifverträgen eine Nachwirkung der Tarifverträge gelten würde und die betroffenen Arbeitnehmer dann unter den bestehenden schlechten Bedingungen weiter arbeiten müssen. Diese Nachwirkungsthese wird allerdings von den Kritikern mit Blick auf die gesetzliche Normierung des „Equal Pay“ bei fehlendem Tarifvertrag bestritten – eine Frage, deren letztendliche Beantwortung in den Händen von Arbeitsrechtlern liegen muss.

Auch wenn man ein Befürworter einer pragmatischen Vorgehensweise ist, dann muss zumindest die lange Laufzeit, die nun vereinbart wurde, verwundern. Hier wird tatsächlich auf Jahre hinweg ein tarifliche Eigenwelt für die Leiharbeit zementiert.

Eine der größten Gefahren für die Gewerkschaften wird sein, dass sie am Beispiel dieses neuen Tarifabschlusses vorgeführt werden hinsichtlich ihrer „Mindest-Mindestlohnrhetorik“, die seit längerem immer auf die 8,50 Euro fokussiert war und ist und nachdem dieser Betrag immerhin Beschlusslage der Gewerkschaften darstellt, auch gut abgesichert im Binnengefüge der Gewerkschaften. In der Praxis geht es aber offensichtlich sehr wohl, hiervon zumindest für einen langen Übergangszeitraum abzuweichen.

Dem einen oder der anderen könnte hier die These in den Kopf kommen, da waren ja sogar die Friseure, von denen nun wirklich nicht wenige Betriebe Probleme mit einem halbwegs akzeptablen Mindestlohn haben, schneller und mutiger. Allerdings kann man die auch in der Tabelle ausgewiesenen Beträge natürlich nicht eins zu eins vergleichen mit den angestrebten Mindestlohnsätzen bei den Friseuren, denn bei denen kommen dann zwar auch noch die Arbeitgeberkosten dazu, aber bei der Leiharbeit tritt als weitere Kostenkomponente der Betrag dazu, der an die Leiharbeitsfirma fließt. Deshalb muss der entleihende Betrieb ja auch kostenseitig einen Betrag kalkulieren, der im Schnitt mindestens das Doppelte dessen beträgt, was dem einzelnen Leiharbeiter am Ende der Nahrungskette zugestanden wird. Und nicht nur das: In einigen Branchen, allen voran der Metall- und Elektroindustrie, wurden ja auch tarifvertraglich „Branchenzuschläge“ vereinbart, die den Leiharbeiter nach längerer Beschäftigungsdauer in die Nähe der Vergütung der Stammbelegschaft in seinem bzw. ihren Tätigkeitsfeld führt („natürlich“ ohne die sonstigen Zusatzleistungen, die die Stammbelegschaft oftmals noch beziehen kann). Eine deutlich stärkere Anhebung der Vergütungssätze für die Leiharbeit hätte diese Beschäftigungsform kostenseitig dann sicher in einer zunehmenden Zahl von Fällen den betriebswirtschaftlichen Relevanzboden entzogen (was zugleich ein explizites Ziel ist eines Teils der Kritiker an der Leiharbeit generell). Und schon wären wir mittendrin in einer notwendigerweise höchst komplexen Tiefenanalyse der unterschiedlichen Aufgaben der Leiharbeit und der Beschäftigung von Leiharbeitern, auch und gerade mit Blick auf die Stammbelegschaften und deren Eigeninteressen. Das würde den Rahmen dieses Blog-Beitrags sprengen, aber darauf hinweisen sollte man schon.