Das Tarifeinheitsgesetz ante portas – Andrea Nahles (und die SPD) allein zu Haus? Vom doch gefährdeten Streikrecht und mehr statt weniger Streiks

In wenigen Tagen wird der Deutsche Bundestag über das „Tarifeinheitsgesetz“ entscheiden – und so, wie es derzeit aussieht, wird die übermächtige große Koalition das Gesetz verabschieden.
Der Deutsche Bundestag schreibt mit Blick auf den 22. Mai 2015 in seiner Vorabberichterstattung:

»Der Sitzungstag beginnt um 9 Uhr mit der einstündigen abschließenden Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tarifeinheit (18/4062). Ziel der Vorlage ist es laut Bundesregierung, „die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern“. Diese werde gefährdet, wenn in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften für eine Berufsgruppe Tarifabschlüsse durchsetzen wollten und es dabei zu „Kollisionen“ komme, die der Aufgabe der Ordnung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden könnten, so die Regierung. Dagegen wendet sich sowohl ein Antrag der Fraktion Die Linke (18/4184), die in dem Tarifeinheitsgesetz einen „Verfassungsbruch mit Ansage“ sieht, als auch ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (18/2875), die durch die geplante gesetzliche Tarifeinheit die Existenzberechtigung von Gewerkschaften infrage gestellt sieht. Beide Anträge werden ebenfalls abschließend beraten.«

Die Kritiker des Tarifeinheitsgesetzes haben immer wieder als einen ihrer zentralen Kritikpunkte darauf hingewiesen, dass durch dieses Gesetz das Streikrecht eingeschränkt wird, was die zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bislang stets verneint hat. Nun aber hat die Bundesregierung zum ersten Mal zugegeben, dass mit dem Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht eingeschränkt wird. Und dieser Punkt ist verfassungsrechtlich von größter Bedeutung. Zumindest berichtet das Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung in seinem Artikel Regierung schürt Zweifel am Tarifgesetz. Er bezieht sich auf eine Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Anette Kramme (SPD), auf eine Kleine Anfrage der Grünen.

Und hier der entscheidende Passus aus dem Artikel:

»Die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Beate Müller-Gemmeke hatte wissen wollen, ob die Arbeitsgerichte künftig auf der Grundlage des geplanten Gesetzes einen Streik als „unverhältnismäßig“ untersagen können. Denn der Kern des Gesetzes wird sein, dass im Falle rivalisierender Gewerkschaften in einem Betrieb nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten soll, die dort die meisten Mitglieder hat. Als „unverhältnismäßig“ gilt in der Rechtsprechung ein Streik unter anderem dann, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist, das mit ihm gar nicht erreicht werden kann. Staatssekretärin Kramme antwortete den Grünen: Die Prüfung eines Streiks durch ein Gericht „kann ergeben“, dass dieser „unverhältnismäßig sein kann, soweit ein Tarifvertrag erzwungen werden soll, dessen Inhalte evident nicht zur Anwendung kommen“.«

Die Koalition will das Gesetz am kommenden Freitag im Bundestag verabschieden. Fast alle Berufsgewerkschaften haben eine Klage dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt. Und sie werden das mit guten Erfolgsaussichten machen können. Aber – bis es zu einer entsprechenden Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts kommen kann und wird, geht einige Zeit ins Land und für die eine oder andere Sparten- bzw. Berufsgewerkschaft kann das existenzbedrohende Folgen haben.

Der Marburger Bund hat dazu übrigens den folgenden Tweet abgesetzt:

»Nahles in der „Allgemeinen Zeitung“ (Mainz) zum ‪#‎Tarifeinheitsgesetz‬: „Die Mehrheit ist noch nicht sicher. Das liegt aber nicht an der SPD.“«

Wenn dem so sein sollte, dann sollte der eine oder andere Sozialdemokrat noch mal ganz fest in sich gehen. Ansonsten wird am Freitag, wenn im Bundestag die Abstimmung ansteht, ein weiterer Treppenwitz der Geschichte geschrieben werden: Eine sozialdemokratische Arbeitsministerin beschädigt das Streikrecht und diese Beschädigung wird sich nicht nur gegen die renitente Lokführergewerkschaft GDL richten, sondern die Gewerkschaften insgesamt treffen. Man kann sich schon vorstellen, beim wem dann am Ende der Woche die Sektkorken knallen werden. Traurig. Vielleicht aber auch nur Ausdruck der Tatsache, was passiert, wenn man kein festes Wertefundament (mehr) hat, von dem aus man Politik gestaltet.

Und es gibt noch weitere, nur auf den ersten Blick technisch daherkommende Aspekte zu berücksichtigen: Joachim Jahn berichtet in seinem Artikel „Untaugliche Tarifeinheit“ aus der Print-Ausgabe der FAZ vom 13.05.2015: »Arbeitsrichter erwarten mehr statt weniger Streiks.«

Wie das? Wurde dem interessierten Bürger nicht gerade das Gegenteil versprochen, beispielsweise durch die „Zähmung“ der renitenten Lokführer?

»Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit stößt bei jenen auf vernichtende Kritik, die es anwenden müssen – den Arbeitsrichtern. „Völlig illusorisch“ sei die Erwartung der Politik, dass Arbeitsgerichte dann im Eilverfahren Streiks verbieten könnten, sagte der Vorsitzende des Bundes der Arbeitsrichter, Joachim Vetter«, berichtet Jahn. Warum das?

Die Erwartung der Politik, dass Arbeitsgerichte im Eilverfahren Streiks verbieten könnten, habe die Koalition nicht in das Gesetz selbst hineingeschrieben, sondern in dessen Begründung versteckt. „Ausführungen in Gesetzesbegründungen haben aber keine Bindungswirkung für die Gerichte“, wird Vetter in dem Artikel zitiert.

Ein weiterer Grund für die ablehnende Einschätzung des Arbeitsrechtlers:

»Nicht praktikabel sei auch die Erwartung, dass Richter bei einem Antrag auf ein Streikverbot feststellen können, welches jeweils die größere Gewerkschaft sei. Denn darüber müssten Arbeitsrichter in Eilverfahren innerhalb von Stunden oder Tagen entscheiden. Doch dürften Arbeitgeber ihre Beschäftigten gar nicht nach ihrer Mitgliedschaft fragen.«

In welchen Umsetzungsabgründen wir mit dem neuen Gesetz geraten würden, kann man auch an dem folgenden Punkt erkennen – hinsichtlich der gerade nicht simplen Frage, was denn eigentlich ein „Betrieb“ sei:

»Zu zahlreichen Streitigkeiten wird es nach Vetters Einschätzung ferner darüber kommen, wann ein „Betrieb“ vorliegt. Dieser stellt nämlich dem Gesetz zufolge den Maßstab dafür da, welche Arbeitnehmerorganisation die Mehrheit oder Minderheit vertritt; er wird dort aber nicht definiert. Sollte man sich nach den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes richten, wäre überdies zu klären, was für „Betriebsteile“ und „gewillkürte Betriebe“ gelte.«

Es wird sogar die Vorhersage gewagt, dass am Ende mehr statt weniger Streiks zu erwarten sind:

»Der Richterverband fürchtet ohnehin, dass die Wirkung des Tarifeinheitsgesetzes nach hinten losgeht. Entgegen der Absicht von CDU/CSU und SPD werde es nämlich die Anreize zum Streik noch steigern, weil Spartengewerkschaften nun zur Durchsetzung eines eigenen Tarifvertrags erst recht um Mitglieder kämpfen müssten, um die notwendige Mehrheit in den Betrieben zu erlangen.«

Zahlreiche Akteure, darunter der Marburger Bund, die GDL und der Deutsche Beamtenbund haben zwischenzeitlich bereits angekündigt, dass sie gegen das Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klagen werden. Sie können sich auf diesem Weg bestätigt und gestärkt fühlen durch die folgenden Ausführungen des Arbeitsrechtlers Joachim Vetter:

»Das Tarifeinheitsgesetz hält er dagegen kaum für verfassungsmäßig. Die Verdrängung der Abkommen, die die jeweilige Minderheitsgewerkschaft abschließt, sei schon sehr problematisch. In jedem Fall unverhältnismäßig und nicht nachvollziehbar sei aber, dass diese sich dem Tarifvertrag der größeren Konkurrenz nur dann anschließen darf, wenn sie zuvor kollidierende Regelungen abgeschlossen hat.«

Interessant in diesem Zusammenhang auch ein Blog-Beitrag der ehemaligen stellvertretenden DGB-Bundesvorsitzenden Ursula Engelen-Kefer unter der Überschrift Streiks für die Dienstleistungsgesellschaft: Sie sieht wie andere auch eine direkte Verantwortung des derzeit durch den Bundestag getriebenen Gesetzentwurfs zur Tarifeinheit für die Eskalation der Konflikte bei der Deutschen Bahn:

»Warum sollte die Bahn ein kompromißfähiges Angebot vor allem bezüglich der Einbeziehung der Lokrangierführer vorlegen, wenn nach Verabschiedung des Gesetzes und dessen Geltung ab Juli diesen Jahres, die Streikfähigkeit der GdL gebrochen ist. Und warum sollten die GdL und ihr Vorsitzender jetzt einlenken, wenn sie nach Einführung des Tarifeinheitsgesetzes ihre tarifpolitischen Vorstellungen nicht mehr durchsetzen kann, weil ihr Streikrecht faktisch abgeschafft wurde? Warum sollte sich eine größere Gewerkschaft im Vorfeld mit der kleineren über tarifliche Regelungen einigen, wenn die kleinere auch einfach ausgeschaltet werden kann?«

Aber sie geht noch erheblich weiter. Sie sieht und begründet die Notwendigkeit einer spürbaren Aufwertung der personenbezogenen Dienstleistungen – ob bei Lokführern, Erzieherinnen oder anderen Berufsgruppen. Und de wir man ihnen nicht kampflos gewähren. »Hilfreich wäre, wenn die Bundesregierung diese notwendigen Umstrukturierungen im Gefälle von Löhnen und Arbeitsbedingungen fördern und nicht durch ein verfassungswidriges Streikverbot für Spartengewerkschaften und ihren Einsatz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den personenbezogenen Dienstleistungen einschränkt.«

Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften

»Bei der Rolle der Berufsgewerkschaften in der Tarifpolitik handelt es sich um ein heikles, sehr kontrovers und häufig auch emotional diskutiertes Thema. Für die einen sind die Berufs- und Spartengewerkschaften der neue Typus einer kämpferischen Gewerkschaft, die unbeeindruckt von den Restriktionen einer eingefressenen Sozialpartnerschaft für die originäre Interessenvertretung ihrer Mitglieder steht. Für die anderen sind sie hingegen eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit, die rücksichtslos und ohne Blick auf die Interessen der Gesamtbelegschaften die Einzelinteressen kleiner Belegschaftsgruppen vertreten.« So beginnt ein wirklich lesenswerter Artikel von Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit der Überschrift Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik.
Er beginnt seine Einordnung mit dem Hinweis auf fünf zentrale Entwicklungslinien in der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft: Erosion der Tarifbindung, Fragmentierung der Tariflandschaft, Pluralität der Gewerkschaftsverbände, Über- und Unterbietungskonkurrenz sowie eine gestiegene Bedeutung der Berufs- und Spartengewerkschaften.

Wenn man über Tarifpolitik – auch über die Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften – spricht, muss man sich bewusst sein, dass es um ein schrumpfendes Handlungsfeld geht, in dem nur noch 58 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst werden –  Ende der 1990er Jahre waren es noch mehr als 70 Prozent. »Nur noch in Ausnahmefällen gibt es den Idealtypus des branchenübergreifenden Flächentarifvertrages, der einheitlich Arbeits- und Einkommensbedingungen in den betreffenden Betrieben regelt.« Und diese Fragmentierung des Tarifsystems wird ergänzt durch Gewerkschaftspluralität, was seit einem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 auch Tarifpluralität bedeutet, jedenfalls noch, denn ein „Tarifeinheitsgesetz“ ist schon von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Neben den DGB-Gewerkschaften gibt es die Berufs- oder Spartengewerkschaften. Und die sind seit geraumer Zeit in das Visier der Politik geraten. Und die Debatte über sie hat in den Medien teilweise hysterische Züge angenommen, vor allem mit einem völlig verengten Blick auf die GDL (und besonders auf den Vorsitzenden dieser Truppe, also auf Claus Weselsky) sowie auf die Pilotengewerkschaft Cockpit, die regelmäßig die Lufthanseaten unter den Piloten in den Ausstand führen.

Immer wieder – so Bispinck – wird im Zusammenhang mit den Sparten- und Berufsgewerkschaften vor „englischen Verhältnissen“ gewarnt, wonach die 600 Klein- und Kleinstgewerkschaften in Großbritannien den Industriestandort ruiniert haben. Aber das entlarvt er für Deutschland als das, was es ist – Unsinn. Denn:
»Es gibt hier nicht etwa 600, sondern nur sechs Berufsgewerkschaften, die man als streikfähige Gewerkschaften bezeichnen kann, als akzeptierte Tarifvertragsparteien mit eigenständigen Tarifverträgen. Diese Zahl ist seit langer Zeit stabil, selbst nach dem BAG-Urteil von 2010 hat sich daran nichts geändert.«

Von den sechs wichtigsten Berufsgewerkschaften sind die meisten auch keine Neugründungen, sondern haben Jahrzehnte – im Fall der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) – sogar mehr als ein Jahrhundert Geschichte hinter sich. Sie zeichnen sich aus durch einen hohen Organisationsgrad. Und wie sagt man so schön: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen, was zutreffend ist, wenn man sich die tarifpolitische Bedeutung der „kleinen“ Gewerkschaften vor Augen führt:

»Laut dem jährlichen Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) haben wir rund 47.000 sogenannte Ursprungstarifverträge. Änderungs- und Paralleltarifverträge sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Zusammengerechnet sind es aber nur 567 Ursprungstarifverträge, die Marburger Bund, GDL, Vereinigung Cockpit (VC), Deutscher Journalisten-Verband (DJV), UFO und der Verband der medizinischen Fachangestellten (VmF) abgeschlossen haben. Die meisten Tarifverträge wurden mit dem Marburger Bund abgeschlossen, gefolgt von der GDL. Sehr häufig handelt es sich dabei um Firmentarifverträge.«

Und wie ist es mit der gerade gegenwärtig heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt:

»Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können.«

Der entscheidende Punkt hierbei ist: Arbeitskämpfe in den Vertretungsbereichen der Berufsgewerkschaften erfahren häufig eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit. Bispinck dazu: »Wenn – wie in dieser Tarifrunde 2015 – 890.000 Beschäftigte in den Metallbetrieben warnstreiken, dann steht das in der Zeitung, es nimmt aber niemand wahr. Wenn tausende Beschäftigte  bei der Bahn, in den Krankenhäusern oder im Luftverkehr in den Streik treten, ist die unmittelbare Betroffenheit eine ganz andere.« Wir sind hier also konfrontiert mit einem Auseinanderfallen der subjektiven Wahrnehmung und der objektiven Daten.

Und Bispinck treibt die notwendige Differenzierung und damit verbunden auch Relativierung weiter, in dem er darauf hinweist, dass es im Kern um drei Bereiche geht:

»Das erste Konfliktfeld ist der Flughafen. Es gibt verschiedenste Berufsgruppen und mehrere zuständige Gewerkschaften. Piloten, Kabinenpersonal, Bodenpersonal, Fluglotsen, Sicherheitspersonal und das breite Spektrum von Dienstleistungsanbietern rund um das gesamte Flughafengeschäft. Die großen oder größeren Player sind hier ver.di, Cockpit, UFO und die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

Bei der Bahn ist das Feld übersichtlicher, was aber nicht heißt, dass es weniger konfliktträchtig wäre. Die beiden dort aktiven Gewerkschaften sind die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die GDL. Und wir haben mit der Deutschen Bahn AG einen Arbeitgeber, der versucht, in diesem Umfeld Tarifkollisionen in Tarifverträgen zu vermeiden.

Schließlich das Konfliktfeld Krankenhaus. Neben ver.di ist hier vor allem der Marburger Bund ein aktiver tarifpolitischer Akteur. In der aktuellen Diskussion um die Berufsgewerkschaften steht dieser Bereich nicht im Zentrum, weil es in den vergangenen Jahren nur selten zu Tarifkonflikten mit Streiks mit dem Marburger Bund gekommen ist.«

Und wie ist es mit der Gefahr der „Überbietungskonkurrenz“? Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«

»Bleibt die Frage: Haben wir es bei den Berufsgewerkschaften mit einer klientelorientierten, gruppenegoistischen Tarifpolitik zu tun, während die DGB-Gewerkschaften ihrerseits eine solidarische Tarifpolitik betreiben, die Belegschaften insgesamt in den Blick nimmt …«
Auch hier ergibt der Vergleich mit den „Normal“- also DGB-Gewerkschaften keine Sonderrolle der Berufs- und Spartengewerkschaften:

»Hohe Tarifforderungen für einzelne Beschäftigtengruppen sind … kein „Privileg“ der Berufsgewerkschaften: Zwei Beispiele zeigen, dass auch DGB-Gewerkschaften entsprechende Forderungen in den Tarifverhandlungen stellen. Im Bewachungsgewerbe Nordrhein-Westfalen forderte ver.di 2013 30 Prozent mehr. In der aktuellen Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst werden im Schnitt zehn Prozent gefordert, bei genauerer Betrachtung für einzelne Berufsgruppen sogar ein Plus von bis zu 20 Prozent.«

Soweit die nüchterne Analyse von Bispinck.

Und ein weiterer Beitrag – mit einem besonderen Fokus auf das vor der Verabschiedung stehende Tarifeinheitsgesetz – soll hier nicht unerwähnt bleiben:

Mittlerweile fahren die Züge bei der Deutschen Bahn wieder bzw. sie versuchen es, wieder in Gang zu kommen. Die GDL verspricht den Kunden dieses Mobilitätsunternehmens eine „Pause“, in der sie nicht mit weiteren Streikaktionen rechnen müssen. Aber an der grundsätzlich verfahrenen Situation hat sich nichts geändert. Und während nicht wenige Medien ihr Heil zu suchen meinen in einer völlig unterirdischen Personalisierung des Konflikts mit einer Fokussierung auf einen angeblich völlig abgehoben bis durchgeplanten GDL-Chef Weselsky, gab es in den zurückliegenden Tagen durchaus erstaunlich viele differenzierte Kommentare in der Presse über die Hintergründe des scheinbaren Amoklaufs der Gewerkschaft GDL.

Das besten Beispiel für eine klare Sicht auf den eigentlichen Grundkonflikt, mit dem wir es nunmehr zu tun haben, liefert nicht irgendein linker Journalist, sondern Rainer Hank, der verantwortliche Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, gemeinhin bekannt für seine – wie gewisse Kreise sagen würden – ausgesprochen neoliberalen Positionen. Der hat heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag veröffentlicht, der hier nur empfohlen werden kann: Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist, so kompakt hat er seinen Artikel überschrieben. Und er feuert gleich im Untertitel die Kernaussage ab: »Versteht noch jemand, was bei der Bahn los ist? Ja. Es ist die große Koalition, die Weselsky in den Streik hineingetrieben hat.«
So ist das wohl leider. Greifen wir einige Argumente von Hank heraus:

»Weselsky ist nicht durchgeknallt. Er mag womöglich nicht gerade ein Charmeur sein. Aber er hat intuitiv erkannt, dass es in diesem Streit nicht nur um die Bahn geht, sondern um ein grundsätzliches Thema: Wie halten wir es mit den Freiheitsrechten von Minderheiten?« Und weiter: »Das sogenannte Tarifeinheitsgesetz aus dem Hause von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist nicht die mögliche Lösung des Konflikts, sondern in Wirklichkeit seine Ursache.«

Und dann verdichtet Hank das Grundproblem völlig zutreffend:

»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«

Genau in diese Richtung habe ich in mehreren Beiträgen im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ argumentiert.

Vgl. dazu Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt,

Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle 

sowie vor allem den Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Man kann nur weiterhin hoffen, dass der eine oder die andere noch rechtzeitig über das Tarifeinheitsgesetz nachdenkt, bevor es zur endgültigen Abstimmung im Bundestag kommt.

Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt

Alle Augen sind auf den nun im Güterverkehr angelaufenen und morgen auch den Personenverkehr erreichenden mehrtägigen Ausstand der Lokführergewerkschaft GDL gerichtet. Wie auch immer man dazu steht – ein Aspekt taucht immer wieder auf, wenn es um die Frage geht, warum die GDL diese enorme Eskalation der Arbeitskampfmaßnahme vorantreibt: Gemeint ist der Hinweis auf das „Tarifeinheitsgesetz“ der Bundesregierung, das diese derzeit durch den Bundestag schleust.  Bereits ab 1. Juli soll das Tarifeinheitsgesetz nach dem Willen der Koalitionäre in Kraft treten. Heute fand nun im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages eine Sachverständigenanhörung statt. Unter der Überschrift Kontroverse zur Tarifeinheit berichtet der Pressedienst des Parlaments darüber. Ergänzend auch die Stellungnahmen der Sachverständigen zum Entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes. Zur Diskussion stand außerdem ein Antrag der Fraktion Die Linke (18/4184) und ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (18/2875). Darin sprechen sich die Fraktionen gegen die geplante Gesetzesinitiative aus. Im Mittelpunkt stand aber das, was die Bundesregierung beabsichtigt:
»Der derzeit vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Tarifeinheit (18/4062) sollte noch nicht das letzte Wort zu diesem Thema sein. So lassen sich, vereinfacht gesagt, die Äußerungen der Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagmittag zusammenfassen.«

Klar für das Gesetz sprachen sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) aus. Bei der BDA verwundert das nicht, das Votum des DGB überrascht dann schon etwas, wenn man weiß, dass es innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Widerstände gibt, vor allem gegen die – seitens der Kritiker behauptete – faktische Einschränkung des Streikrechts.

Erhebliche Zweifel wurden auch von einigen geladenen Sachverständigen vorgetragen:

»Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, sprach sich zwar grundsätzlich für das Ziel aus, die Zersplitterung der Tariflandschaft gesetzlich verhindern zu wollen. Er äußerte jedoch in einigen Punkten deutliche Zweifel an den im Entwurf vorgeschlagenen Mitteln. So bezeichnete er einige „Sicherungsmittel“, die die Verfassungskonformität des Entwurfs gewährleisten sollen, als „absurd“. Ein einklagbares Recht der Minderheitsgewerkschaft, ihre Forderungen mündlich vortragen zu dürfen sei genauso funktionslos wie das Recht einer Gewerkschaft, den von ihr nicht mit beeinflussten Tarifvertrag einer Konkurrenzgewerkschaft nachzuzeichnen.«

»Am deutlichsten äußerten der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler und Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, ihre Kritik. So verwies Däubler darauf, dass die Arbeitgeberseite künftig durch legale Maßnahmen die Struktur der Arbeitnehmerseite so beeinflussen könne, dass die von ihr geschätzte Gewerkschaft die Mehrheit im Betrieb habe. Das greife aber in die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ein und lasse sich nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren, sagte Däubler. Außerdem sei es fraglich, wie festgestellt werden solle, welche Gewerkschaft die Mehrheitsgewerkschaft sei. Noch unklar sei, welche Arbeitnehmer als betriebszugehörig gezählt würden, was mit den „Karteileichen“ geschehe oder mit jenen, die sich weigerten, ihre Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft offenzulegen.«

Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum »kritisierte, dass das mehrheitlich bestehende gute Kooperationsklima zwischen den Tarifpartnern durch das geplante Gesetz gestört werde und die Gefahr bestehe, dass die Öffentlichkeit allgemein gegen das Streikrecht mobilisiert werden soll. „Das betrifft dann auch den DGB“, sagte Baum.«

Ebenfalls zu Wort gemeldet hat sich heute die ehemalige stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Ursula Engeren-Kefer in ihrem Blog unter der mehr als eindeutigen Überschrift Hände weg vom Streikrecht. Sie wägt die Vor- und Nachteile der Tarifeinheit ab, findet aber klare Worte beim Thema Streikrecht:

»In jedem Fall ist es jedoch eine unzulässige Einschränkung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf Vereinigungs- und Tarifvertragsfreiheit, wenn den Spartengewerkschaften per Gesetz das eigenständige Streikrecht genommen werden soll. Die vorgesehene Regelung in den Eckpunkten zu einem derartigen Gesetz, die bereits im Sommer vom BMAS vorgelegt worden waren, ist über das zuträgliche Maß hinausgegangen. Danach wären die Spartengewerkschaften zu der Einhaltung des Tariffriedens während der Laufzeit des Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft gezwungen und hätten deren Tarifergebnis übernehmen müssen.  Dies wäre dem faktischen „Tod“ derartiger Spartengewerkschaften gleichzusetzen. Warum soll ein Arbeitnehmer für die Mitgliedschaft in einer Spartengewerkschaft dann überhaupt Beiträge zahlen? Damit würde eine grundgesetzwidrige Einschränkung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und Tarifautonomie  erfolgen … Jede gesetzliche Einschränkung des Streikrechtes der Spartengewerkschaften verstößt  gegen § 9 des Grundgesetzes und die dem zugrundliegenden Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), 87 und 98. Gewerkschaften ohne Streikrecht haben keine Existenzberechtigung.«

Engelen-Kefer präsentiert aber auch einen Lösungsansatz jenseits des Weiter so:

»Die Bundesregierung ist daher gut beraten, wenn  sie von ihrem diesbezüglichen Vorhaben Abstand nimmt und den Gesetzentwurf  entsprechend abschwächt. Dabei könnte es durchaus berechtigt sind, von Mehrheits- und Spartengewerkschaft zu verlangen, sich regelmäßig über die Tarifpolitik abzustimmen. Ziel muss dabei sein, die Interessen der zu betreuenden Menschen sowie der zu erbringenden Dienstleistungen, der übrigen Mitarbeiter und der wirtschaftlichen sowie finanziellen Rahmenbedingungen zu beachten. Zum Beispiel könnten  für den Fall des Konfliktes geeignete Schiedsverfahren vorgesehen werden.«

Große Zweifel an dem Tarifeinheitsgesetz wurde hier schon an anderer Stelle formuliert, beispielsweise am 05.03.2015 in dem Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“.

Besonders relevant vor dem Hintergrund zum einen des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens, von dem man plausibel annehmen kann, dass es die parlamentarische Hürde nehmen wird, zum anderen aber auch der Wutwelle, die jetzt gegen die GDL und deren Mega-Streik aufgebaut und die sich in den kommenden Tagen entfalten wird (wobei hier nur angemerkt werden kann, dass es auch die GDL verteidigende Kommentierungen gibt, beispielsweise Bahnvorstand will Unterwerfung von Pascal Beucker, Ein Lob des Streiks von Andreas Oswald oder Danke, GDL von Tom Strohschneider), sind die Hinweise in dem Beitrag vom 20.04.2015: Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle: Der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ein Streikverbot für die kleineren Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes gefordert. Das geht aus einem Positionspapier hervor, das der Wirtschaftsflügel an den Vorsitzenden der Unionsfraktion Volker Kauder geschickt hat, kann man dem Beitrag entnehmen. Zudem fordern die Unionspolitiker, dass das Streikrecht im Bereich der „Daseins­vorsorge“ eingeschränkt wird, beim Luft- und Bahnverkehr zum Beispiel, aber ebenso im Erziehungswesen, der Energie- und Wasserversorgung und der medizinischen Versor­gung. Das Papier des Wirtschaftsflügels der Union ist erfrischend deutlich: „Der Ergänzungsvorschlag für die Daseinsvorsorge erfasst Streikfälle mit besonderer Breitenwirkung“. Die sollen in die Mangel genommen werden.

Dazu passt dann leider auch der Artikel Ziel: Kampf dem Arbeitskampf von Claudia Wrobel. Sie berichtet von einem „Hearing zum Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes“, zum dem der Deutsche Beamtenbund und Tarifunion (dbb) in Berlin geladen hatte. Die  Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU hatten keine Vertreter zu dem Symposium geschickt. Wrobel notiert am Ende ihres Artikels, dass viele an dem Symposium Teilnehmenden oft »bemerkten …, dass es der Bundesregierung vor allem darum gehe, die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) einzuschränken. Allerdings traue sie sich nicht, dies öffentlich zuzugeben.«

Man kann nur weiterhin hoffen, dass die Gewerkschaften und vor allem die Spitze des DGB erkennt, auf was für eine schiefe Bahn man sich hier hat setzen lassen.