Was soll bzw. kann (nicht) durchgesetzt werden mit der „Durchsetzungsrichtlinie“? Die EU, das Lohngefälle und die Arbeitnehmerrechte

Bekanntlich dauern viele Prozesse und vor allem Entscheidungen auf der europäischen Ebene sehr lange. Zahlreiche Akteure müssen beteiligt werden, immer wieder ungeklärt sind teilweise die Zuständigkeiten bzw. die Mitbestimmungsmöglichkeiten der einzelnen Institutionen im europäischen Gefüge. Und allein schon die Koordination von so vielen Ländern, die Mitglied in der EU sind, stellt mehr als ein mathematisches Problem dar. Besonders schwierig wird es, wenn die Interessen der einzelnen Länder stark voneinander abweichen und es dann auch noch um Arbeitnehmerrechte gehen soll. Dann können sich die damit verbundenen Prozesse wie ein überaus hartnäckiges, an den Schuhsohlen klebendes Kaugummi erweisen. Deutlich machen kann man diesen Tatbestand am Beispiel der so genannten „Entsenderichtlinie“. Eigentlich eine gut gemeinte Sache. Es geht ganz korrekt um die „Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern“. Dazu muss man wissen, dass die Entsenderichtlinie ursprünglich geschaffen worden war, um ins Ausland „entsandte Arbeiter“ vor einer Verschlechterung zu schützen. Und nun verhandeln EU-Kommission, EU-Ministerrat und Europaparlament seit geraumer Zeit über eine so genannte „Durchsetzungsrichtlinie“, mit der – auch hier wieder steht am Anfang eine gute Absicht – auf die massive Kritik an Wirksamkeitsproblemen der Entsenderichtlinie reagiert werden soll.

Zur Bewertung dessen, was derzeit diskutiert wird, muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass es am Anfang darum ging, die besser geschützten bzw. abgesicherten Arbeitnehmer bei einer Tätigkeit im europäischen Ausland davor zu bewahren, schlechteren Bedingungen ausgesetzt zu werden. So konnten beispielsweise Franzosen damit im EU-Ausland arbeiten, ohne die großzügige französische Sozialversicherung zu verlieren. Bekanntlich ändern sich die Zeiten – und gerade die Franzosen müssen das seit einiger Zeit schmerzhaft erleben, wie das Stefan Brändle in seinem Artikel „Feldzug gegen Billigarbeit“ am Beispiel der Zahl der „Lowcost-Arbeiter“ aus anderen Ländern in Frankreich beschrieben hat. Baufirmen oder Großbauern in Frankreich haben im vergangenen Jahr etwa 350.000 Arbeiter vorwiegend aus Osteuropa geholt, wie Schätzungen der französischen Arbeitsverwaltung besagen. Osteuropäer werden angeheuert, kosten sie im Durchschnitt doch dreimal weniger – statt rund 20 bloß etwa sechs bis sieben Euro pro Stunde, Sozialabgaben eingerechnet. Wie es zu solchen Kostenunterschieden kommen kann? Brändle dazu:

»Ein Rumäne kostet seinen französischen Arbeitgeber deshalb deutlich weniger, weil die Sozialabgaben in seinem Land viel niedriger sind als in Frankreich. Er hat zwar laut Direktive Anspruch auf den im Land oder der Branche gültigen Mindestlohn. Den erhält er aber nur auf dem Papier: Meist werden davon diverse Ausgaben für Kost und Logis abgezogen – selbst wenn er auf dem Zeltplatz oder im Hühnerstall übernachtet.«

Europaweit soll eine Million Arbeiter aufgrund der EU-Richtlinie in Partnerstaaten „entsandt“ sein. Frankreich stellt damit ein Drittel dieser „Lowcost-Arbeiter“. In Deutschland sollen es laut Bundesregierung 180.000 sein – wahrscheinlich sind es aber viel mehr, denn die als Scheinselbständige hierher geschickten Wanderarbeiter werden nicht mitgezählt, da sie als „Selbständige“ offiziell nicht unter die Entsenderichtlinie fallen.

Eigentlich, so könnte man es formulieren, ist aber doch die Rettung bereits unterwegs, denn seit längerem wird im Angesicht der kritischen Befunde über die entsenden Richtlinie über eine Weiterentwicklung derselben diskutiert und die EU-Kommission hat bereits vor längerem einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Allerdings wurde bereits Anfang des vergangenen Jahres heftige Kritik an den Plänen der Kommission geübt: »Eine überarbeitete Fassung soll Abhilfe schaffen, doch das Gegenteil ist der Fall«, so Ruth Reichstein in ihrem Beitrag „Arbeitnehmerschutz ist zweitrangig„. Auf Druck der Gewerkschaften hatte die EU-Kommission 2012 eine neue Richtlinie vorgelegt – angeblich um die bestehende Gesetzgebung im Sinne der Arbeitnehmer zu verbessern. Und bereits damals wurden Gewerkschafter zitiert mit einer vernichtenden Kritik an der angeblich guten Absicht des Entwurfs, denn: „Die EU-Kommission schränkt die Kontrollmöglichkeiten der Behörden stark ein.“

Diese Diskussion wird aktuell wieder belebt, da derzeit die Verhandlungen über die so genannte „Durchsetzungsrichtlinie“ in den letzten Zügen liegen. Und an der Kritik hat sich nichts geändert, ganz im Gegenteil droht eine Verschlechterung der bestehenden Situation. Darauf weist Stefan Kaiser in seinem Beitrag „Wie Sklaven gehalten“ hin.  Deutlich machen kann man das an zwei Punkten, um die sich der aktuelle Streit dreht:

  • »So sehe der EU-Entwurf zwar eine „Generalunternehmerhaftung“ vor: Das federführende Unternehmen soll dafür verantwortlich sein, dass auch in beauftragten Betrieben die geltenden Mindeststandards und Schutzbestimmungen eingehalten werden. Allerdings soll diese Haftung auf die Ebene unmittelbar beauftragter Firmen beschränkt bleiben. Für nachgelagerte Subunternehmen, die meist auf Werkvertragsbasis Hungerlöhne zahlen, wäre der Generalunternehmer dann nicht mehr verantwortlich.« So fordert der DGB eine verbindliche Generalunternehmerhaftung für die gesamte Kette von Subunternehmen, wie sie in Deutschland zum Beispiel im Baugewerbe bereits existiert. Zu dieser an und für sich richtigen Forderung der Gewerkschaften sei allerdings kritisch angemerkt: Auch im Baugewerbe in Deutschland gibt es erhebliche Probleme im Bereich der Entsende-Arbeiter. Dazu ein Beispiel von Mihai Balan von der Frankfurter Anlaufstelle für Wanderarbeiter „Faire Mobilität“ in dem Artikel „Schutzlosere Wanderarbeiter“ von Eva Völpel: „Irgendwo in Osteuropa werden über eine Briefkastenfirma Arbeitnehmer zum Arbeiten nach Deutschland geschickt. Hier werden sie über Subunternehmer beispielsweise auf dem Bau beschäftigt. Auf dem Papier bekommen sie den Bau-Mindestlohn von mindestens 13,55 Euro. Aber es werden pauschal nur Gehälter von 1.000 oder 1.500 Euro ausbezahlt, die Leute arbeiten jedoch mehr Stunden. So werden Mindestlöhne unterlaufen.“
  • Aber selbst eine – wenn auch amputierte „Generalunternehmerhaftung“ würde vollends zur Makulatur werden, »sollte das Herkunftslandprinzip eingeführt werden, das einige osteuropäische Länder fordern. Damit erhielten Beschäftigte, die zum Beispiel von einer bulgarischen Firma nach Deutschland entsandt werden, auch bulgarische Löhne. So entstünde eine für deutsche Unternehmen unschlagbare Billiglohnkonkurrenz. Kein Wunder, dass nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Verbände des Handwerks, der Bauindustrie und des Baugewerbes gegen die Herkunftslandregelung Sturm laufen.«

Was wäre – eigentlich – zu tun?

Dazu habe ich bereits am 12.12.2013 in einem Blog-Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ ausgeführt:

»Eine … „richtige“ Lösung wäre die konsequente Umsetzung des Ziellandprinzips, also alle entsandten Arbeitnehmer bekommen die Mindeststandards des Ziellandes. Und man würde nicht darum herumkommen, nicht nur die Zahlung der Mindestlöhne, so es sie denn gibt, zu verlangen, sondern auch die erhebliche Kluft zwischen den Sozialabgaben setzt zahlreiche Dumping-Anreize, die man schließen müsste.«

Durchaus hoch relevant vor dem Hintergrund der nunmehr anlaufenden Debatte über die Einführung eines allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohns auch in Deutschland und der damit verbundenen Hoffnungen, den Lohndruck zu mildern, ist der Hinweis in dem zitierten Passus, dass nicht nur die Mindeststandards des Ziellandes für die Entsende-Arbeitnehmer gelten müssen, sondern dass die erhebliche Kluft zwischen den Sozialabgaben beispielsweise in Deutschland oder Frankreich und den osteuropäischen Entsende-Ländern beseitigt werden muss, ansonsten ist das Kostengefälle zwischen einem zu einheimischen Bedingungen zu bezahlenden Arbeitnehmer und den „Lowcost-Arbeitern“ aus den Billiglohnländern der EU weiterhin viel zu groß.

Aber auch dann dann bliebe noch genug zu tun, beispielsweise im Bereich der Kontrollen und einer möglichst abschreckenden Sanktionierung von Verstößen gegen die Bestimmungen.

Im vorliegenden Fall der „Durchsetzungsrichtlinie“ wäre sogar ein Scheitern der Verhandlungen nicht die schlechteste „Lösung“, vor dem Hintergrund, dass im Mai dieses Jahres ein neues Europaparlament gewählt wird und dann die Verhandlungen erneut von vorne beginnen müssten.

G9 statt G8: Kehrtwende auf einem Irrweg? Ein Sieg der „Entschleuniger“ über die Hybris der „Bildungszeitoptimierer“? Wenn es denn so einfach wäre

Seien wir ehrlich – es gibt Institutionen und Begriffe, die bei vielen Menschen eine zwischen resignativer Frustration und Aggression schwankende Grundstimmung auslösen. In Deutschland gehören dazu die „Kultusministerkonferenz“ und der Terminus „Schulreformen“. Beides steht zumindest aus der Perspektive vieler Eltern für leidvolle Erfahrungen, die man in einem komplexen föderalen System mit 16 teilweise erheblich voneinander divergierenden Schulsystemen machen kann bzw. muss. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass man ein intensives Studium betreiben muss, um die Vielfalt der Schularten und Schulformen sowie die unterschiedlichen Wege zu unterschiedlichen Abschlüssen auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können. Eines der Top-Themen, die zu wahren Hyperventilationen bei den Beteiligten führen konnte, war die Schulzeitverkürzung von dreizehn auf zwölf Jahre, um den heiligen Gral des deutschen Bildungssystems, also das Abitur, erreichen zu können  – von G9 auf G8, so heißen die entsprechenden Kürzel. Die haben sogar Eingang gefunden in die Wahlforschung, dort spricht man von den „G9-Mamas“ bzw. „G9-Papas“ als ziemlich wirkkräftige – und das kann bedeuten: wahlentscheidende – Kategorie für die Parteien. Doch nunmehr ist eine veritable Kehrtwendung zu beobachten: Immer mehr Bundesländer, die im vergangenen Jahrzehnt das achtjährige Gymnasium einführten, drehen diese umstrittene Reform zurück.

So kommen die aktuellen Schlagzeilen daher: „Spekulation über Kehrtwende bei G8“ wird aus Bayern gemeldet, wo Seehofers Regierung vor dem Hintergrund eines anlaufenden Volksbegehrens zur Wiedereinführung von G9 offenbar an einer Exit-Strategie arbeitet. Und aus dem Norden des Landes wird berichtet: „Niedersachsen schafft Turbo-Abi wieder ab„. Das Besondere hier: »Zum Schuljahr 2015/16 will Niedersachsen das Turbo-Abi kippen. Erstmals kehrt damit ein Bundesland flächendeckend zum neunjährigen Gymnasium zurück, das Abitur nach acht Jahren bleibt aber als Option erhalten. Andere Länder könnten dem Beispiel folgen.«

Nun könnte man zu dem Ergebnis gekommen, dass die hier erkennbare Rückentwicklung eine positive Sache ist, da die Politik endlich mal auf die offensichtliche und überwältigende Ablehnung eines ihrer Reformprojekte bei einem Teil der davon Betroffenen, hier vor allem bei den Eltern, reagiert und eine Entscheidung, die zu großem Unmut geführt hat, revidiert.  Hinzu kommen könnte eine klammheimliche Freude über die offensichtliche Niederlage der neoliberal fundierten „Bildungszeitoptimierer“ und damit letztendlich der Erfolg eines Widerstands gegen die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft. Vielen Eltern wird es an dieser Stelle herzlich egal sein, in welche ideologische oder soziologische Schublade ihrer Abneigung bis hin zu ihrem Protest gesteckt wird. Sie werden argumentieren, dass es ihren Kindern besser gehen wird, wenn sie nicht unter schulzeitverkürzten Bedingungen den heiligen Gral der bildungsnahen Schichten erreichen müssen.  Aber an dieser Stelle soll dennoch ein genauerer Blick auf das Thema geworfen werden.

Viele gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und vor allem Institutionen sind nur zu verstehen, wenn man sie historisch einordnet, denn auch die aktuellen Entwicklungen sind immer stark pfadabhängig. An dieser Stelle mögen einige kursorische Stichworte genügen: Die Existenz einer 13 Jahre andauernden Schulzeit bis zum Abitur ist keine alttestamentarische  Überlieferung, sondern entspringt einem typischen Kompromiss, wie wir ihn in der Bildungspolitik immer wieder  antreffen, und er datiert auf die Zeit der Weimarer Republik: »Die Sozialdemokraten der Weimarer Republik wollten Arbeiterkindern mehr Bildung ermöglichen – die Grundschulzeit wurde 1920 auf vier Jahre verlängert. Die Lehrer an den Gymnasien wollten aber ihre Wirkungszeit nicht beschnitten sehen, so verlängerte sich die Schulzeit für Abiturienten insgesamt auf 13 Jahre«, so  Jonas Leppin und Oliver Trenkamp in ihrem Artikel „Turbo-Abi in der Reifeprüfung„.

  • Man sollte gerade im Zusammenhang mit der gegenwärtig so umstrittenen Schulzeitverkürzung im letzten Jahrzehnt darauf hinweisen, dass es bereits vorher eine Abkehr von der 13 Jahre umfassenden Schulzeit bis zum Abitur gegeben hatte: Mit Erlass vom 30. November 1936 wurde die höhere Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Diese Maßnahme der Nationalsozialisten stand im damaligen Kontext der Wiederaufrüstung, da die Offiziersanwärter durch die Schulzeitverkürzung schneller zur Verfügung standen.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann eine geteilte Entwicklung in Deutschland. Während in Westdeutschland das G9 restauriert wurde, bildete sich in der DDR ein anderes System heraus: für relativ wenige Schüler gab es die EOS mit einer zwölf jährigen Schulzeit und Samstagsunterricht, die zum Abitur führte. Daneben wurde eine einphasig ausgestaltete Berufsausbildung mit Abitur mit einer Laufzeit von drei Jahren installiert, im Anschluss an die zehnte Klasse der POS. 
  • Nach der Wiedervereinigung sind von den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zum G9 gewechselt, weniger aus innerer Überzeugung, sondern angesichts der Wochenstundenvorgabe der Kulturministerkonferenz (nach dieser Vorgabe muss es 265 Jahreswochenstunden geben, was bei G8 im Durchschnitt 33 statt ansonsten 30 Stunden Unterricht pro Woche bedeutet). Im Jahr 2000 sind die genannten Bundesländer dann wieder zu der 12jährigen Schulzeit zurückkehrt. In Sachsen und Thüringen übrigens wurde zu keinem Zeitpunkt die 12jährigen Schulzeit bis zum Abitur aufgegeben.

Vor diesem Hintergrund ist die Überschrift des Artikels von Barbara Kerbel „Mehr Zeit für Westschüler“ ein Volltreffer: Sie verweist darauf, dass in den ostdeutschen Bundesländern die Schüler, Eltern und die Lehrer offensichtlich gut zurechtkommen mit der zwölfjährigen Schulzeit. Streng genommen haben wir es offensichtlich mit einem „West-Problem“ zu tun. So auch die Wahrnehmung bei Barabra Kerbel, die darauf hinweist: »Vor allem die Eltern in den westdeutschen Flächenstaaten laufen Sturm gegen G8. Sie beklagen lange Schultage, ein kaum zu bewältigendes Lernpensum und immensen Leistungsdruck. Lehrer und einige Bildungsforscher kritisieren, die Reform sei überstürzt eingeführt, die Lehrpläne nicht entsprechend entrümpelt worden. Die Debatte ist aufgeheizt und emotional, von „gestohlener Kindheit“ ist bei vielen Eltern die Rede.«
Angesichts dieser massiven und weit verbreiteten Kritik an einem der Kernstücke der „Bildungsreformen“ muss diskutiert werden, wie es überhaupt zu der in Westdeutschland fast flächendeckenden Schulzeitverkürzung kommen konnte. »Das Saarland war das erste westdeutsche Land, das zum Schuljahr 2001/02 die Gymnasialzeit reformierte. Einzig Rheinland-Pfalz, wo das Gymnasium traditionell nur 12,5 Jahre dauert, ging einen Sonderweg und führte G8 nicht flächendeckend, sondern nur an einzelnen Ganztagsgymnasien ein«, so Kerbel.

Es ist an dieser Stelle nicht ohne eine gewisse Ironie, dass der Aspekt der „verlorenen Zeit“ für die jungen Menschen, der sich heute in der Formulierung von der „gestohlenen Kindheit“ Ausdruck verschafft, auch von einem der großen politischen Befürworter einer Verkürzung der Schulzeit verwendet wurde, allerdings ganz im Gegenteil von „verlorener Kindheit“ im Sinne einer „verlorenen Zeit“ im Schulsystem. In seiner „Berliner Rede“ von 1997 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog mit den folgenden Worten Stellung genommen:

»Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.« (Berliner Rede 1997 von Bundespräsident Roman Herzog, „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“, Hotel Adlon, Berlin, 26. April 1997)

Wir sehen in dieser Formulierung des damaligen Bundespräsidenten zum einen den Ausdruck des Zeitgeistes der Neunzigerjahre, der – wenn auch holzschnittartig – als ein neoliberaler Zeitgeist charakterisiert werden muss. Es waren die Hochjahre eines „naiven Ökonomismus“  mit seiner Verherrlichung der Beschleunigung und dem Leitbild einer Effizienzoptimierung, die auch vor den Schulen nicht Halt machen sollte. Vereinfacht gesagt stand hinter der Vorstellung des Bundespräsidenten das Modell einer permanenten Produktivitätssteigerung, von der man auch die Schüler nicht ausnehmen wollte. Auf der anderen Seite reflektierte seine damalige Kritik durchaus auch reale Abweichungen von der Situation in den meisten Bundesländern. Denn im internationalen Vergleich gab und gibt es mehrheitlich zwölfjährige Schulsysteme.

Meine kritische Anfrage an diejenigen, die mit der nun beobachtbaren Rückkehr zum alten 13 Jahre Schulzeit umfassenden System in den westdeutschen Bundesländern einen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der betroffenen jungen Menschen sowie ihre Eltern sehen, lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Ist es wirklich so, dass die Kinder und Jugendlichen mit einer längeren Schulzeit per se vor den Widrigkeiten einer immer schnelllebigeren, sich permanent beschleunigenden Gesellschaft geschützt werden, dass sie die Chance bekommen, mit der Zeit lernen zu können? Wenn man diese Frage spiegelt an der Realität in den meisten Schulen, dann muss man leider zu einer differenzierten Einschätzung kommen. Die von vielen Eltern wahrgenommene und deutlich kritisierte „Überlastung“ der Schüler resultiert zum einen aus dem Tatbestand, dass man die Schulzeit von 13 auf zwölf Jahre verkürzt hat, ohne substantielle Veränderung am Lehrplan und vor allem nicht am Volumen des Lernstoffs vorzunehmen. Zum anderen wurde die Beschleunigung und Verdichtung an vielen Schulen vollzogen, die nicht im Format einer Ganztagsschule gleichzeitig über deutlich mehr Zeitressourcen verfügen als die klassische Halbtagsschule.

Aber der aus meiner Sicht entscheidende Punkt ist ein anderer: Was wird in welcher zur Verfügung stehenden Zeit unterrichtet bzw. soll den jungen Menschen beigebracht werden?  Das ist die entscheidende Frage, die man stellen muss: hier hätte man sich gewünscht, dass vor einem einfachen zurückdrehen der Verhältnisse die Debatte nachgeholt wird, die man bei der Schulzeitverkürzung eigentlich hätte führen müssen. Um es deutlich zu sagen: Das Problem in vielen deutschen Schulen besteht doch darin, dass wir es mit einer quantitativ gesehen voluminösen Ausgestaltung des abzuarbeiten Lehrplan zu tun haben, gleichzeitig die eigentlich zur Verfügung stehenden Lernzeiten im Laufe eines Jahres aufgrund der vielen Unterbrechungen und der langen Ferienzeiten auf ein sehr überschaubares Maß zusammengeschrumpft sind, so dass die Schüler in sehr kurzer Zeit sehr viel lernen sollen/müssen und ansonsten konfrontiert sind mit durchaus sehr generös ausgestalteten Zeiten des Leerlaufs.  Dies kann und muss zu erheblichen Schwierigkeiten für diejenigen Schüler führen, die schlichtweg mehr Zeit brauchen, um bestimmte Dinge lernen und wiedergeben zu können. Gleichzeitig führt die enorme Verdichtung der eigentlichen Lernzeit in Verbindung mit vielen Inhalten, die abgearbeitet werden müssen, dazu, dass kaum etwas Substantielles gelernt wird, denn das bedeutet auch immer, dass man die Lerninhalte wiederholt und vor allem übt. Dass man sie transferiert auf Sachverhalte aus der Realität.

Insofern wäre erst dann von einem tatsächlichen Geländegewinn gegenüber der Ökonomisierung unserer Gesellschaft und damit auch unseres Bildungssystems auszugehen, wenn es uns gelingen würde, zum einen die Lerninhalte neu zu adjustieren und vor allem die Inhalte zu verdichten und neu auszurichten nach dem Motto „weniger ist mehr“. Meine Befürchtung ist, dass man mit einer reinen Schulzeitverlängerung in Umkehrung der bisherigen Entwicklung lediglich das Gefühl vermittelt, man hätte Probleme, die wir in unserem Schulsystem ganz offensichtlich haben, beseitigt. Letztendlich sind wir an dieser Stelle mit der gleichen Problematik konfrontiert, auf die Bildungsforscher hinweisen, wenn es um die Verkleinerung von Klassen geht, denn die rein quantitative Reduzierung der Klassengröße ist nach dem Stand der Bildungsforschung keine Garantie für bessere Lernleistungen, wenn die Lehrer genauso weitermachen wie vorher.  Anders formuliert – den jungen Menschen mehr Zeit in einem vielfältig ineffektivem System zu gewähren, ist unter dem Strich keine Verbesserung der Situation. Möglicherweise führt ein solcher „Pyrrhussieg“ über das G8 in Westdeutschland dazu, das man erneut einige Jahre verschenkt auf dem Weg der notwendigen Debatte über die Frage der Ausgestaltung des Unterrichts sowie der Inhalte.

Aber selbst wenn man nicht so weit gehen und Grundsatzfragen der Bildungspolitik aufrufen möchte: Jan Friedmann weist in seinem Kommentar „Den Preis zahlen nun Schüler und Lehrer“ zur neueren Entwicklung auf erwartbare „Kollateralschäden“ hin:

»Der Anspruch auf einigermaßen einheitliche, vergleichbare Gymnasialstrukturen in den Bundesländern ist auf Jahre passé. Die Schullandkarte der Bundesrepublik wird mehr denn je zum Flickenteppich … Rund 70.000 bis 80.000 Schülerinnen und Schüler wechseln jedes Jahr das Bundesland. Sie und ihre Familien müssen sich im Dschungel der föderalen Regeln zurechtfinden. Und selbst der Schulwechsel innerhalb eines Landes wird künftig aufwendiger, etwa wenn die einzelnen Schulen unterschiedliche Optionen anbieten.«

Nur müssen mit den Folgen dieser Entwicklung die einzelnen Familien irgendwie zurechtkommen. Meistens alleine.

Von überbelegten Schrottimmobilien und teuren Nächten im Obdachlosenheim. Aus den Untiefen von Zuwanderung und Wohnungsnot

Bekanntlich ist es immer einfacher, über das „große Ganze“ zu reden oder zu schreiben, als sich mit den Widrigkeiten dessen zu beschäftigen, was vor Ort passiert. Nehmen wir als Beispiel das Thema der Zuwanderung, insbesondere die von Menschen aus den Armenhäusern der Europäischen Union. Ein Thema, das es vor kurzem auf die Titelseiten der Zeitungen und in unzählige Fernsehbeiträge geschafft hat und mit einem hysterischen Unterton behandelt wurde und wird. Im Ergebnis stehen sich zwei Lager gegenüber – die einen sehen hunderttausende arme Schlucker vor dem Einmarsch in unser Hartz IV-System, die anderen tun so, als ob die Menschen, die zu uns kommen, alle wunderbar passen in diesen Zeiten des angeblichen „Fachkräftemangels“, es soll sogar mehr „Akademiker“ unter ihnen geben als in der einheimischen Bevölkerung. Nun gut. Aber wie sieht es vor Ort aus, wo die Realität aufschlägt, wo man beispielsweise in bestimmten Städten konfrontiert wird mit einer erheblichen Konzentration durchaus problematischer Folgen von Zuwanderung? Und dort, wo man eine solche Entwicklung „verhindern“ will? Schauen wir exemplarisch nach Nordrhein-Westfalen und Hannover.

Das Land Nordrhein-Westfalen will ein Wohngesetz schaffen, damit Behörden schärfer gegen Immobilienbesitzer vorgehen können – etwa gegen Überbelegung von maroden Wohnungen, berichtet  Wilfried Giebels in seinem Artikel „NRW plant ‚Wohnungspolizei‘ gegen überbelegte Schrottimmobilien„: »Das neue Wohngesetz sieht vor, dass Eigentümer bis zu 50.000 Euro Bußgeld zahlen müssen, wenn sie – wie in Duisburg – nichts gegen Überbelegungen maroder Wohnungen unternehmen. Im Verdachtsfall soll das Ordnungsamt künftig regelmäßig Wohnungen kontrollieren können – auch gegen den Willen der Vermieter.« Bei einer Anhörung im Landtag wurde sofort Kritik an diesem Ansatz vorgetragen – von der Eigentümerseite: Die Pläne seien realitätsfern und verfassungsrechtlich problematisch, warnte der Verband „Haus und Grund“, während der Deutsche Mieterbund den Einsatz einer „Wohnungspolizei“ gegen die Verwahrlosung und Überbelegung von Wohnungen befürwortet. Wenn denn kontrolliert werden soll, dann muss der Tatbestand der „Überbelegung“ einer Wohnung auch definiert werden. Hierzu können wir dem Artikel entnehmen: »Laut Gesetzentwurf müssen Wohnungen über mindestens neun Quadratmeter pro Kopf – für Kinder sechs Quadratmeter – verfügen. Wohnungsexperten halten diese Größenordnung dauerhaft für nicht angemessen.« Man könnte auf die Idee kommen, als Referenzmaßstab beispielsweise die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heranzuziehen, denn das höchste Gericht hat 2011 geurteilt: „Zu kleine Zellen verstoßen gegen die Menschenwürde„. Nach dieser Rechtsprechung müssen rechtskräftig verurteilte Straftäter sogar aus der Haft entlassen werden, wenn eine menschenwürdige Unterbringung nicht sichergestellt werden kann.

  • Auf der einen Seite ist es in einem Rechtsstaat unabdingbar, dass man genau definiert, ab wann ein Tatbestand vorliegt, der nicht mehr geduldet wird bzw. werden kann. Insofern – auch wenn man sich über die Quadratmeterzahl streiten kann – ist es für eine gesetzliche Regelung erforderlich, eine Konkretisierung von Überbelegung vorzunehmen. So richtig schwierig wird es dann aber in der Realität bei der Umsetzung einer solchen Regelung. Damit ist nicht nur die Kontrolle an sich gemeint, die schon sehr umstritten ist, sondern wie grenzt man den Normalfall der Belegung ab von einer lediglich vorübergehenden Überbelegung, die bei jedem von uns auftreten könnte, wenn wir beispielsweise für einen begrenzten Zeitraum Besuch haben? 

Man muss an dieser Stelle den Anlass für den Gesetzesvorstoß der nordrhein-westfälischen Landesregierung in Erinnerung rufen: Die Gesetzespläne sind eine Folge der rechtlichen Hilflosigkeit der Kommunen, wenn Vermieter für überbelegte Schrottimmobilien hohe Pro-Kopf-Mieten kassieren. Wenn also mit der Wohnungsnot von Menschen so richtig Geschäft gemacht wird. Überbelegungen gibt es beispielsweise in Dortmund im Zusammenhang mit Zuwanderung aus Südosteuropa. Insofern begrüßt man dort den Gesetzes Vorstoß der Landesregierung, denn dadurch bekommt die Kommune überhaupt erst die Möglichkeit, im Sinne einer Auflösung der Überbelegung vorgehen zu können. Allerdings ist die Realität eben oftmals verzwickter als man das bei einer rechtlichen Regelung oft unterstellt. Die Stadt Dortmund z.B. »fürchtet … aufwändige Verwaltungsverfahren, wenn Teilräumungen von der Kommune veranlasst werden sollten. Die Kommunalen Spitzenverbände drängten deshalb darauf, dass Gemeinden „nach eigenem Ermessen entscheiden, ob und wie sie von den gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch machen“.« Das nun wieder kollidiert mit der generellen Gültigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung.  Man sieht, das Ganze ist wirklich keine einfache Angelegenheit und es lässt sich nicht so einfach regeln. Auf der anderen Seite benötigt man unbedingt die mit dem Gesetzesvorlagen verbundenen Möglichkeiten des Eingreifens, um unhaltbare Zustände in den Wohnvierteln bis hin zur Slumbildung verhindern zu können.

Man kann natürlich auch einen ganz anderen Weg einschlagen und – ob bewusst geplant oder sich faktisch ergebend – die Strategie verfolgen, zu verhindern, dass Menschen überhaupt in einem größeren Maßstab Fuß fassen können und in der Folge aufgrund ihrer extremen Armutslage sowie der schwierigen sozialrechtlichen Regelungen, was ihren Lebensunterhalt angeht, gezwungen sind, Unterschlupf zu finden bei Ihresgleichen, was dann wieder zu den in den Medien und von den Mitbewohnern im Stadtteil oftmals beklagten Zuständen führt.

Eine Möglichkeit, die hier angedeutete abschreckende Wirkung hervorzurufen, ist das derzeit im rot-grün regierten Hannover beobachtbare Vorgehen: »3,55 Euro pro Bett und Nacht: Das kostet es, in Hannover in eine Obdachlosenunterkunft zu gehen, wie das zurzeit beispielsweise rund 150 rumänische und bulgarische Zuwanderer tun. Darunter sind Sinti und Roma, zum Teil leben ganze Familien in Wohncontainern. 3,55 Euro pro Bett und Nacht, unabhängig von der finanziellen Situation der Betroffenen, egal ob erwachsen oder Kind. Eine Praxis, die zunehmend in die Kritik gerät.« diese Regelung muss man vor dem Hintergrund sehen, dass die allermeisten rumänischen oder bulgarischen Zuwanderer über gar keine Mittel verfügen und zugleich auch keinen Anspruch auf entsprechende Sozialleistungen haben. Einzig Kindergeld können Familien aus Bulgarien und Rumänien direkt beantragen.  In Hannover wird so richtig hingelangt durch die dort gegebene Gebührenregelung: Bei fünf Kindern etwa veranschlage die Stadt über 700 Euro im Monat. Das ist für die Betroffenen mehr als happig. Auch wenn die Stadt nach außen argumentiert, dass keiner auf die Straße gesetzt werde, wenn er die Gebühren nicht oder nur unvollständig bezahlen kann, aber man treibt die Ärmsten der Armen in die Verschuldung, denn die fälligen Gebühren werden nur vorläufig von der Stadt übernommen und den betroffenen Personen als rückzahlbare Darlehen in Rechnung gestellt. Sollten die Betroffenen dann eine – zumeist sehr niedrig entlohnte – Arbeit gefunden haben, dann holt sich die Stadt die Beträge wieder zurück.

Übrigens stoßen wir hier erneut auf einen typisches Muster in kommunalisierten Systemen: ein großes Durcheinander, je nachdem, in welcher Kommune man sich gerade aufhält, Gibt es ganz unterschiedliche Regelungen:

»Das niedersächsische Salzgitter beispielsweise stellt mittellosen Zuwanderern aus Osteuropa aber Berechtigungsscheine aus, mit denen sie vorübergehend kostenfrei in Sammelunterkünften wohnen können. In Bremen wiederum gilt die Faustregel, dass nur diejenigen zahlen müssen, die nachweislich mehr als Hartz IV zur Verfügung haben. Und in Hamburg wiederum fallen für Kinder immerhin niedrigere Gebühren an als für Erwachsene.«

Mit Blick auf Hannover sollte man aber fairerweise eben auch erwähnen, dass dort die Ausgaben im Bereich der Unterbringung von Wohnungslosen mittlerweile ein Volumen von über drei Millionen € pro Jahr erreicht haben. Und: Den deutlichsten Zuzug hat Hannover mit im Februar 2014 gemeldeten 3.677 Rumänen und Bulgaren. Und die Verteilung der Zuwanderung gerade aus den ärmeren Gegenden der Europäischen Union nach Deutschland folgt eben nicht dem Muster der Gleichverteilung über die  Regionen und Kommunen, sondern durch Kettenmigrationsmuster konzentriert sich das auf bestimmte Städte bzw. Stadtviertel. Hier ist der Handlungsbedarf und zugleich die strukturelle Überforderung der betroffenen Kommune offensichtlich.

  • Aber auch an dieser Stelle wird sehr schnell bei einem vertieften Nachdenken über die Problematik und mögliche Lösungsansätze klar, dass es sich um im wahrsten Sinne des Wortes vermintes Gelände handelt: Wenn man davon ausgehen muss, dass die Zuwanderung an sich nicht vor den Grenzen Deutschlands aufzuhalten ist, was gerade im Fall der Menschen aus anderen EU-Staaten, die zu uns kommen (wollen), der Fall ist aufgrund der Personenfreizügigkeit, man gleichzeitig durch die in diesem Beitrag angedeuteten Maßnahmen die Konzentration auf einige wenige Städte und dort Stadtteile zu verhindern in der Lage wäre, dann stellt sich natürlich die Anschlussfrage, wie man mit den Menschen, denen man beispielsweise eine legale Niederlassung verweigert, weiter umgeht. Konsequent zu Ende gedacht müssten dann die Zuwanderer zwangsgleichverteilt werden. Das würde natürlich gleich ganz neue rechtliche Fragen und Widerstände generieren, aber auch bei einer Umsetzung zahlreiche Fragezeichen aufwerfen.

Wieder einmal muss man zur Kenntnis nehmen, dass es keine einfachen Lösungen gibt – gerade nicht vor Ort, wo die Probleme aufschlagen und sich zuweilen massiv verdichten.

Die „Rente mit 63“ im Strudel des „Welttags der sozialen Gerechtigkeit“

Bekanntlich gibt es ja zum jedem Sinn und Unsinn einen „Tag des …“. Ich habe es noch nicht überprüfen können, aber wenn es noch keinen „Tag des Dixi-Klos“ gibt, dann könnte man den heutigen 20. Februar einfach mal zu einem solchen erklären. Dass das „Dixi-Klo“ auf alle Fälle von berufskundlicher Relevanz ist, kann man beispielsweise dieser Reportage entnehmen: „Das Geschäft mit dem Geschäft„, in dem Christoph Cadenbach von seinen Erfahrungen mit einem Putztrupp berichtet. Gerade an diesem Beispiel ließen sich viele handfeste Gerechtigkeitsfragen aufwerfen, beispielsweise nach einer „gerechten“ Bezahlung der Putzkräfte bis hin zum Umgang mit ihnen.
Am 20. Februar wäre der „Tag des Dixi-Klos“ prominent platziert, denn wie man der Presse entnehmen kann, haben wir heute sogar den „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“. Aber hallo. „Soziale Gerechtigkeit“ baut sich vor einem auf wie der Himalaya. Aber schauen wir einmal genauer und beispielhaft hin.

In dem Artikel „Im Himmel wie auf Erden“ von Bernhard Honnigfort findet man den folgenden Passus:

»Kürzlich erhielten alle 631 Bundestagsabgeordneten ein Päckchen. Eine christliche Initiative hatte sich die Mühe gemacht und Gerechtigkeitsbibeln verschickt. Darin sind alle Stellen bunt angestrichen, die sich Armut und Gerechtigkeit widmen. Mehr als 3000 Passagen sind das. Gerechtigkeit sei nun einmal das große Thema von Politik und Kirche, begründete Pfarrer Rolf Zwick aus Essen die Versandaktion und forderte die Abgeordneten auf, sich die biblischen Hinweise zu eigen zu machen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Die armen Abgeordneten. Als wenn es so einfach wäre. Jeder weiß doch: Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit Fußball. Alle reden mit, jeder ist Experte, weil er schon einmal Ungerechtigkeit am eigenen Leib erfuhr. Alle mahnen an, klagen ein, schreiben es sich auf die Fahne, fordern sie, wollen ausgleichen, wollen Lücken schließen, sie endlich herstellen, oben nehmen, unten geben, fordern und fördern. Die ganze Linkspartei lebt einzig und allein davon, Gerechtigkeitslücken aufzuspüren oder zu erfinden.«

Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, das Gerechtigkeit ein auf ewig unerreichbares Ziel darstellt. Insofern wären wir gefangen im ewigen Kreislauf der Identifizierung und Anklage von Ungerechtigkeiten. Dass die Tätigkeit eines Sozialpolitikers sehr viel zu tun hat mit der Figur des Sisyphos, das ist allen Eingeweihten klar. Aber wir haben ja genügend konkretes Anschauungsmaterial, um uns der Gerechtigkeitsfrage zuzuwenden. Greifen wir in den großen Pott und ziehen nur als Beispiel die „Rente mit 63“ heraus

Das Rentenpaket von Schwarz-Rot sei ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit, sagt die Gerechtigkeitsfachverkäuferin Andrea Nahles. Die Rente mit 63 sowie die Anhebung der so genannten Mütterrente summieren sich bis zum Jahr 2030 auf 160 Milliarden € Mehrausgaben (bisheriger Stand). Die sich angeblich aus der prall gefüllten Portokasse der gesetzlichen Rentenversicherung und damit aus Beitragsmitteln finanzieren lassen. Gerade an diesem Punkt nöhlen jetzt viele Kritiker herum. Das sei nicht gerecht, dass alleine die Beitragszahler die Zeche zu begleichen haben.

In der gleichen Ausgabe der Frankfurter Rundschau findet man zum Thema diesen Beitrag: „Rente mit 67 wird eingedampft„. Der Artikel berichtete von einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen:

»Jeder Vierte kann künftig vorzeitig abschlagsfrei in Rente gehen … Demnach höhlen die Koalitionspläne die Rente mit 67 deutlich stärker aus als zunächst angenommen.
Nach Erwartung des Bundesarbeitsministeriums profitieren zunächst 200.000 Personen. „Die Zahl der Begünstigten wächst langfristig entsprechend den Rentenzugängen der Folgejahre auf und dürfte etwa 25 Prozent der Zugänge in Altersrenten betragen“, schreibt der Staatssekretär für Arbeit, Jörg Asmussen (SPD) in der Antwort.«

In dem Artikel wird darauf hingewiesen, dass die langjährigen Versicherten, die von der Rente mit 63 profitieren werden, deutlich überdurchschnittliche Altersbezüge erhalten. Die Männer bekamen im Jahr 2012 im Mittel 1.411 Euro im Monat. Bei den Frauen waren es rund 1.085 Euro. Im Durchschnitt aller Senioren betrug die Altersrente bei Männern dagegen nur 899 Euro, bei Frauen 532 Euro.

Daran anschließend wird der grüne Sozialpolitiker Markus Kurth mit einer interessanten Aussage zitiert: Das Vorhaben sei ungerecht, „weil es die Leute begünstigt, deren Renten deutlich über dem Durchschnitt liegen“. Die Sozialpolitik müsse aber dort eingreifen, wo der Bedarf am größten sei.
Das ist doch mal ein ganz interessanter, aktueller und überaus konkreter Anknüpfungspunkt für die Frage nach der „sozialen Gerechtigkeit“.
Ganz offensichtlich wird hier eine „Ungerechtigkeit“ darin gesehen, dass Menschen, die eine „hohe“ Rente bekommen, die Option eröffnet werden soll, zu einem früheren Zeitpunkt als bislang möglich in die Rente zu gehen.

Allerdings kann man gerade mit Argumenten der „Gerechtigkeit“ argumentieren, dass diese Regelung durchaus „gerecht“ ist: Dann nämlich, wenn man sich die Konstruktionsprinzipien der bestehenden gesetzlichen Rentenversicherung vor Augen führt – ob man sie mag oder nicht, spielt hier für die Argumentation keine Rolle.

Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland – die nicht nur auf dem Prinzip der Umlagefinanzierung basiert, sondern auch auf dem der relativen Teilhabeäquvalenz – bildet die unterschiedlichen Einkommen während des Erwerbslebens nicht nur auf der Beitragsseite ab, sondern auch auf der Leistungsseite. Vereinfacht gesprochen: je höher die geleisteten Beiträge, desto höher der relative Rentenanspruch. Deswegen ist es erst einmal nicht ungerecht, wenn Arbeitnehmer, die über längere Zeiträume auch relativ gesehen höhere Beiträge eingezahlt haben als beispielsweise armer Schlucker im Rentenalter höhere Leistungen beziehen können. Insofern könnte man gerade aus der Perspektive einer relativen Gerechtigkeit argumentieren, dass Versicherungsmitglieder, die über 45 Jahre lang immer Beiträge gezahlt haben, a)  sowohl den Anspruch auf einen Ausstieg aus dem Erwerbsleben nach diesen 45 Beitragsjahren bekommen sollten wie auch b) selbstverständlich Anspruch haben auf die ihnen konkret zustehende Rentenhöhe, denn dafür wurden doch in den davor liegenden Jahren entsprechend (hohe) Beiträge in die Rentenversicherung abgeführt.
Insofern kann man durchaus die Position vertreten, dass die Rente mit 63 innerhalb der bestehenden Versicherungslogik keinesfalls eine ungerechte Maßnahme darstellt. Für dieses Fazit spricht auch, dass die beiden Hauptkritikpunkte an der vorgesehenen Rente mit 63 sich zum einen auf die Tatsache beziehen, dass damit die ursprünglich gegen viele Widerstände eingeführte Verlängerung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre konterkariert wird (wenn auch nur für wenige Jahrgänge, denn was in der aktuellen Diskussion oft übersehen wird, ist der Tatbestand, dass die Rente mit 63 schrittweise bis 2029 angehoben wird auf eine Rente mit 65, die wir heute schon für langjährig Versicherte haben), sowie die massive Kritik an der Tatsache, dass man offensichtlich unter „Beitragsjahre“ auch Jahre versteht, in denen der Tatbestand der Arbeitslosigkeit vorlag und nur anteilige oder in der jüngeren Zeit bei den Harz IV-Beziehern gar keine Rentenbeiträge abgeführt worden sind, mithin also das innerhalb des Versicherungssystems gegebene Gerechtigkeitsprinzip einer relativen Entsprechung von geleisteten Beiträgen und darauf basierenden Auszahlungen verletzt wird. Zu der überaus komplexen Geschichte der unterschiedlichen Anregung von Zeiten der Arbeitslosigkeit vgl. auch die instruktive Übersichtsdarstellung von Johannes Steffen: Zeiten der Arbeitslosigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung, Februar 2014.

An dieser Stelle kann man zugleich die Tiefen und Untiefen des Gerechtigkeitsbegriffs erkennen, denn aus Sicht des einzelnen Betroffenen wäre die Nichtberücksichtigung von Zeiten der Arbeitslosigkeit bei der Bestimmung der 45 erforderlichen Beitragsjahre „ungerecht“, vor allem, wenn man daran denkt, dass nicht selten Zeiten der Arbeitslosigkeit konjunkturell oder gar strukturell bedingt waren, für die der einzelne Arbeitnehmer nichts kann, aber aus der Sicht des Versicherungssystems hingegen wäre beispielsweise die Anrechnung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 von Harz IV-Leistungen ebenfalls „ungerecht“, Denn wenn die Leistungen den in der Vergangenheit gezahlten Beiträgen entsprechen sollen, dann könnte man allerhöchstens eine anteilige Berücksichtigung von Zeiten nachvollziehen, in denen reduzierte Beiträge geleistet wurden. Die Politik steht nun vor dem offensichtlichen Dilemma, dass die grundsätzliche Herausnahme von Zeiten der Arbeitslosigkeit aus der Bestimmung der Beitragsjahre zahlreiche Arbeitnehmer um die neue Option bringen könnte, obgleich sie für die bei ihnen angefallenen Zeiten der Arbeitslosigkeit nichts können, man denke hier nur an viele ältere Arbeitnehmer in Ostdeutschland.

Wie schwierig die Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs in diesem Kontext ist, zeigt auch die folgende Überlegung: Allein schon die mit der Gesetzgebung verbundene Stichtagsregelung im Sinne des Inkrafttretens des neuen Gesetzes wird dazu führen, dass es auf der Ebene der einzelnen Betroffenen neue Gerechtigkeitslücken geben wird, denn diejenigen, die  bis dahin unter denen gegebenen rechtlichen Bedingungen in den vorzeitigen Rentenbezug eintreten (müssen), werden – wenn wir die Abschläge betrachten – erheblich schlechter gestellt, als diejenigen, die von der für den Sommer dieses Jahres geplanten Neuregelung profitieren können.

Nun haben sich schon viele bedeutende Menschen Gedanken gemacht, was denn „soziale Gerechtigkeit“ bedeuten könnte/müsste/sollte. Becker und Hauser haben beispielsweise 2009 ein ganzes Buch zu diesem Begriff veröffentlicht und diesen mit der Charakterisierung eines „magischen Vierecks“ versehen, was bedeutet, dass man die in der Abbildung dargestellten Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit nicht alle gleichzeitig wird erreichen können. Bezogen auf unser Beispiel mit der „Rente mit 63“ würde man zu dem Befund kommen, dass die Bedarfsgerechtigkeit gar nicht verletzt werden kann, ist sie auch nicht Gegenstand der Regelung. Das wäre dann der Fall, wenn man beispielsweise über eine „armutsfeste“ Ausgestaltung der Rentenleistung verhandeln würde. Hier geht es eher um so etwas wie „Leistungsgerechtigkeit“, die aber – wie die vorangegangenen Ausführungen haben aufzeigen können – auch nur partiell erfüllt werden kann.  Würde man Leistungsgerechtigkeit konsequent weiterdenken innerhalb des – wohl gemerkt bestehenden – Systems, dann bräuchten wir ein flexibles Renteneintrittsalter, dass sich durchaus orientiert an der Zahl der Beitrags Jahre und abgeleitet aus den gezahlten Beiträgen mit einer entsprechenden unterschiedlichen Höhe der Renten.

Wie schwierig die Gerechtigkeitsfragen an dieser Stelle sind, kann man ermessen, wenn man sich die Gruppe der Erwerbsminderungsrentner anschaut. Bei einer „harten“ Definition von Leistungsgerechtigkeit nach einer konventionellen Versicherungslogik können viele der Betroffenen nicht auf Renten kommen, die oberhalb der Grundsicherung liegen, die man ja auch bekommen würde, wenn man sein ganzes Leben lang nicht gearbeitet hat. Es gibt also gute Gründe aus Sicht der Bedarfsgerechtigkeit, die Renten der Erwerbsminderungsrentner aufzustocken und ihre individuellen Leistungen entsprechend zu gewichten. Das allerdings wäre in der Konsequenz wiederum eine teilweise Verletzung der Leistungsgerechtigkeit.

Es ist ein großes Ding mit der „sozialen Gerechtigkeit“. Aber so ein „Welttag“ ist ja auch schnell wieder vorbei.

20 Jahre alt. Irgendwie erwachsen, aber (manchmal) auch noch nicht wirklich. Mit der Pflegeversicherung verhält es sich ähnlich

Es soll an dieser Stelle keineswegs irgendwelchen Biologismen hinsichtlich komplexer sozialpolitischer Institutionen das Wort geredet werden – aber wenn man in einem Artikel mit der Überschrift „Ein Meilenstein der Sozialpolitik“ damit konfrontiert wird, dass neben der von vielen vorgetragenen Bilanzierung der Pflegeversicherung als ein „Erfolgsmodell“ knapp »20 Jahre nach den Beschlüssen von Bundestag und Bundesrat am 22. und 27. April 1994 zur Einführung der fünften Säule der Sozialversicherung … Praktiker und Politiker … in Berlin auf nicht überwundene Kinderkrankheiten der umlagefinanzierten Pflegeversicherung hingewiesen« haben, dann kommen einem schon sprachliche Analogien in den Sinn. Beispielsweise das Jugendstrafrecht, das eigentlich nicht für Erwachsene gelten sollte, aber menschennah wie dieser Bereich der Justiz ist hat man die Zwischen-Kategorie des „Heranwachsenden“ gefunden und ausdifferenziert, auf den sich Teile des eigentlich den jüngeren Menschen vorbehaltenen Instrumentariums der strafrechtlichen Verfolgung übertragen lassen, weil der Reifezustand eine entsprechende Rückstufung nahelegt. Es geht im Kern also um eine Reife- oder Entwicklungsverzögerung. Aber „nicht überwundene Kinderkrankheiten“ der Pflegeversicherung? Das geht deutlich weiter, es verweist gleichsam auf „pränatale Konstruktionsmängel“, die sich verfestigt haben in den Jahren nach der überaus schweren Geburt dieses letzten Zweigs der Sozialversicherung. Damit aber genug der biologistischen Sprachspiele. Eine Zwischenbilanzierung dessen, was wir heute haben, bietet sich an.

Neben den unbestreitbaren Fortschritten, die sich ergeben haben aus der Installierung der Pflegeversicherung, soll hier auf die kritischen Stimmen eingegangen werden, wie sie auf der bereits erwähnten, von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) organisierten Berliner Tagung vorgetragen wurden und von denen uns Anno Fricke in seinem Artikel berichtet:

»Der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, Jürgen Gohde, sieht großen Handlungsbedarf bei der Reform der Sozialen Pflegeversicherung. Es sei eine Katastrophe, dass wieder 439.000 Menschen in der Pflege auf Sozialhilfe angewiesen seien. Eine Ursache sei der Rückzug der Kommunen aus eigenen Pflegediensten und Einrichtungen, der mit der Einführung der Pflegeversicherung eingesetzt habe. Diese Entwicklung müsse umgekehrt werden.« Jürgen Gohde hatte mit anderen zusammen im August 2013 ebenfalls bei der Friedrich-Ebert-Stiftung das Positionspapier »Gute Pflege vor Ort. Das Recht auf eigenständiges Leben im Alter“ veröffentlicht und Reformvorschläge für eine Weiterentwicklung der Pflegelandschaft präsentiert. Zu der von Gohde angesprochenen „Katastrophe“ mit den 439.000 auf Sozialhilfe, konkreter: auf „Hilfe zur Pflege“ angewiesenen Menschen, vgl. auch meinen Blog-Beitrag „Das kostet (immer mehr) – aber wen? Die Pflegekosten und ihre Deckung“ vom 11.02.2014.

Gohde spricht mit seiner Skandalisierung des mittlerweile erreichten Niveaus der „Hilfe zur Pflege“-Abhängigkeit von mehreren hunderttausend Pflegebedürftigen einen der Geburtstreiber an, die zu der Durchsetzung und Implementierung einer Pflegeversicherung geführt haben, denn: Von den gut eine Million Menschen, die damals pflegebedürftig waren, waren geschätzt zwei Drittel auf Hilfen des Staates angewiesen. Und genau das wollte man aus zweierlei Gründen beseitigen: Zum einen sollten die Menschen aus der Armut und Fürsorgeabhängigkeit durch Pflegebedürftigkeit herausgeholt werden und zum anderen – vermutlich weitaus bedeutsamer – sollten die Kommunen, die für die Finanzierung der „Hilfe zur Pflege“-Leistungen zuständig waren und sind, finanziell erheblich entlastet werden, wuchsen ihnen damals doch die kommunalen Sozialhilfeausgaben für die Pflege über den Kopf. Und anfangs ist das auch beeindruckend gelungen, allerdings gibt es seit einigen Jahren wieder steigende Empfängerzahlen und damit ansteigende Ausgaben.

Aber der ausgewiesene Pflege-Experte Jürgen Gohde erweitert seine kritischen Anmerkungen:

»Die in der Versicherung angelegte Rehabilitationsorientierung vor Beginn und während der Pflegebedürftigkeit sei bis heute nicht vollständig umgesetzt.
Unerledigt sei auch die Formulierung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.«

Höchst interessant ist auch die Tatsache, dass erneut „alte Schlachten“ aufgerufen werden, an die sich die älteren Semester hinsichtlich des langen Vorfelds der dann letztendlich als umlagefinanzierte Sozialversicherung ausgestalteten „Teilkaskoversicherung“ noch gut werden erinnern können: Soll wirklich das „klassische“ Modell einer umlagefinanzierten Sozialversicherung mit ihrer Abhängigkeit von den lohnbezogenen Beiträgen eingeführt werden oder nicht doch eher ein steuerfinanziertes Bundesleistungsgesetz? Und soll die Absicherung des Pflegerisikos als „Teil-“ oder nicht doch als „Vollkaskoversicherung“ erfolgen? Im Berlin dieser Tage liest sich das dann so:

»Diskutiert wird auch über die ökonomischen Auswirkungen der Pflegeversicherung. Ulla Schmidt (SPD), Gesundheitsministerin bis 2009, bezeichnete es als großen Fehler, dass die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folge. Der Anteil privat Pflegeversicherter sorge für eine Entmischung der Risiken. Auch Opposition und Gewerkschaften hegen Sympathien für eine Pflegevollversicherung.«

Bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht überraschend wurde das 2012 von der Dinetsleistungsgewerkschaft ver.di vorgestellte Modell einer Pflegevollversicherung erneut aufgerufen. Bereits im Vorfeld der Einführung der heutigen Teilkaskoversicherung wurde intensiv und sehr kontrovers diskutiert über die Frage, ob eine volle Abdeckung der Kosten nicht zu einem gewaltigen „Erbenschutzprogramm“ und damit einer Umverteilung zugunsten der reicheren Haushalte führen würde.

Wir reden hier über erhebliche Mittel, die über die Pflegeversicherung generiert und verteilt werden: 22 Milliarden Euro gibt die Pflegeversicherung zurzeit im Jahr aus. Annähernd 28 Milliarden sollen es gegen Ende der Legislaturperiode im Jahr 2017 sein, so Anno Fricke in seinem Kommentar „Nicht alles ist versicherbar„. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie denn die Versicherung ausgestaltet sein soll, also macht es wirklich Sinn, die Finanzierung einer Absicherung gegen das  Pflegerisiko wirklich an das sozialversicherungspflichtige Lohneinkommen und das dann begrenzt bis zur Beitragsbemessungsgrenze zu koppeln?

Apropos Ausgaben – wie in vielen anderen Feldern der Sozialpolitik wird auch die Pflege primär, zumeist ausschließlich aus einer „Kostenperspektive“ gesehen. Es ist notwendig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir es mit einem erheblichen und gerade hinsichtlich der Beschäftigungspotenziale auch grundsätzlich positiven Wirtschaftsfaktor zu tun haben.

Wer sich umfassend informieren möchte über die Entstehungsgeschichte der Pflegeversicherung wie aber auch über die aktuellen Diskussionslinien, was ihre Weiterentwicklung angeht, dem sei eine neue und wirklich lesenswerte Publikation empfohlen, die kurz vor der Berliner Tagung veröffentlicht worden ist:

Gerhard Nägele: 20 Jahre Verabschiedung der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Eine Bewertung aus sozialpolitischer Sicht. Gutachten im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Februar 2014.

In seinem Ausblick – Nach der Reform ist vor der Reform – weist Naegele auf einen wichtigen Aspekt hin, der zugleich verdeutlicht, wie groß die eigentliche Baustelle im Pflegebereich ist, wenn man den Blick nicht zu sehr verengt auf die Pflegeversicherung im engten Sinne:
»Es ist aber nicht allein die PflegeVG, die adressiert ist, wenn es um eine Verbesserung und Anpassung der Pflege an veränderte Rahmenbedingungen und Bevölkerungsstrukturen geht. Es ist neben der Gesundheits-, der Arbeitsmarkt- und der Bildungspolitik vor allem die Kommunalpolitik, die gefordert ist. Ihre pflegepolitische Revitalisierung ist zwingend geboten. Insgesamt aber ist es die Gesellschaft, die bereit sein muss, mehr Geld in die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Pflege zu investieren.»

Hierbei scheint mir vor allem die von ihm angemahnte „pflegepolitische Revitalisierung“ der Kommunalpolitik die angesichts der großen Herausforderungen aufgrund der demografischen Entwicklung und der mit ihr einhergehenden Versorgungsaufgaben der Knackpunkt zu sein, denn so notwendig und zentral diese ist, so unwahrscheinlich kommt sie derzeit daher angesichts der strukturellen Probleme, mit denen sich die kommunale Ebene konfrontiert sieht. Wenn die „Lösung“ oder sagen wir bescheidener die halbwegs anständige Bewältigung der Pflegeanforderungen vor Ort stattfinden und dort mit Leben gefüllt werden muss, dann wird es von entscheidender Bedeutung, ob es uns gelingt, a) die Kommunen dazu zu befähigen und b) zu verhindern, dass Ressourcen für andere Aufgaben „abgezweigt“ werden. Über eine „Kommunalisierung“ der Pflegeversicherung im Verbund mit einem „dritten Sozialraum“ neben den Profis und den Familien auf der Ebene der Quartiere oder Dörfer nachzudenken und zu befördern, das wird die eigentliche Aufgabe werden. Schade nur, dass das so anstrengend und kleinteilig ist, dass viele in der Politik das nicht sehr erotisch finden (werden).