Schon wieder eine „Reform“ – jetzt die „der“ Pflege. Von Beitragsmitteln und ihrer Verwendung, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Dauerschleife des täglich grüßenden Murmeltiers und anderen Merkwürdigkeiten

Bekanntlich zucken viele Menschen – und das nicht ohne Grund – zusammen, wenn sie in einem der vielen Felder der Sozialpolitik die Ankündigung einer „Reform“ zu hören bekommen. Denn damit war in den zurückliegenden Jahren – seien wir ehrlich – oftmals weniger Fortschritt und Verbesserung verbunden, sondern Einschränkungen und Abbau, zuweilen auch Exklusion.
Hinsichtlich der von der Großen Koalition angestrebten nächsten „Pflegereform“ – die korrekter (wieder einmal) primär als Reform der Pflegeversicherung bezeichnet werden muss – gibt es auf den ersten Blick mehrere sehr ambitionierte Zielsetzungen: Es soll mehr Geld für die Pflege organisiert , endlich ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Versorgungsrealität gehoben werden, es soll mehr Personal geben und einiges anderes mehr. Offensichtlich – so könnte man meinen – hat die Politik nun endlich die immer lauter werdenden Stimmen aus der Pflege selbst vernommen, die dringend konkrete Verbesserungen anmahnen und sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden  – ob mit breiten Zusammenschlüssen wie dem „Bündnis für gute Pflege„, in dem sich zahlreiche Wohlfahrts-, Sozial- und Pflegeverbände zusammengeschlossen haben oder dem Aktionsbündnis „Pflege am Boden„, die mit bundesweiten Flashmob-Aktionen um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen streiten.

Doch noch ist nichts in trockenen Tüchern bei der anstehenden Pflegereform und ob es sich wirklich um Verbesserungen handeln wird, darüber kann und muss man mit einer gehörigen Portion Skepsis streiten. Unterstützung für das Lager der Skeptiker kann man auch solchen Überschriften entnehmen: „Verschenktes Geld“ – Streit um Rücklagen für die Pflege, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag überschrieben oder wie wäre es damit: „Es wird nicht nur Gewinner geben“. Laumann über die Pflegereform, so hat Anno Fricke ein Interview mit Karl-Josef Laumann, seines Zeichens „Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege“ im Rang eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium, überschrieben.

Und in diesem Interview findet sich ein interessantes Zitat des Herrn Laumann: Seiner Meinung nach sollte bei der nun umzusetzenden Pflegereform ein Aspekt stärker beachtet werden: »… nämlich dass das Beitragsgeld ausschließlich für die Pflegebedürftigen da ist, und für diejenigen, die die Pflegearbeit leisten.«

Da kann man nur zustimmen. Aber schauen wir genauer hin, was denn mit dem Geld des Beitragszahlers eigentlich geplant ist. Das hat Rainer Woratschka so zusammengefasst:

»Bisher ist vorgesehen, den Pflegebeitrag für die geplante Reform Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen – und davon ein Drittel in die Rücklage fließen zu lassen. Das entspräche 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Mit der Reserve soll der vorhergesagte Ausgabenanstieg in den Jahren zwischen 2035 und 2055 abgefedert werden, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Die restlichen 2,4 Millionen Euro sollen in sofortige Leistungsverbesserungen fließen.
Für einen zweiten Reformschritt, den versprochenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, soll der Beitrag Anfang 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Vorgesehen ist etwa eine differenziertere Einstufung der Pflegebedürftigen, die Abschaffung der so genannten Minutenpflege und mehr direkte Zuwendung statt bloß körperbezogener Leistungen. Davon sollen vor allem Demenzkranke profitieren.«

Diesen Ausführungen kann man zwei zentrale Sollbruchstellen entnehmen: Zum einen die Frage der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und zum anderen die angesprochene Rücklage für die Zukunft, auch als „Vorsorgefonds“ tituliert.

Zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein neuer Pflegebedürfigkeitsbegriff kein neuer konzeptioneller Schritt ist, vielmehr pflastern Kommissionen und Gutachten seinen bisherigen Weg – und ein erkennbares Muster, das sich rückblickend so zusammenfassen lässt: schieben, verschieben, aufschieben:

Im Herbst 2006 wurde der erste Pflegebeirat ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, das Modellvorhaben mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zu begleiten. Der Bericht des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ wurde am 29. Januar 2009 an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.  Im Mai 2009 wurde durch den Beirat der Umsetzungsbericht fertiggestellt. »Zum 1. März 2012 wurde durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr erneut einen Expertenbeirat einberufen, der fachliche und administrative Fragen zur konkreten Umsetzung klären sollte. Am 27. Juni 2013 hat der Expertenbeirat den „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gesetzlich zu verankern, stehen bisher aus«, so der GKV-Spitzenverband.
Und was sagt Pflegebeauftragter Laumann im Frühjahr 2014?

»Man braucht Zeit, um den Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umzusetzen. Zunächst müssen wir untersuchen, ob es Gewinner und Verlierer gibt. Das müssen wir mit den MDK und einer Reihe von Menschen, die neu pflegebedürftig werden, quer durch alle Bundesländer untersuchen. Der neue Begriff bedeutet auch, dass mit den Einrichtungen Pflegesätze neu verhandelt werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Eines muss ganz klar sein: Wir müssen den neuen Begriff in dieser Wahlperiode komplett umsetzen, ganz eindeutig.«

Da von allen Seiten akzeptiert wird, dass die Umsetzung eines neuen Pflegebdürftigkeitsbegriffs mehr Geld kosten wird (wobei die konkrete Höhe durchaus umstritten ist, aber: Dass die anvisierten 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben nicht reichen, ist Konsens unter vielen Experten) und gleichzeitig in der dargestellten Finanzplanung eine Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung dieses Teils der Pflegereform erst für 2017 vorgesehen ist – also in dem Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird – können sich die Aufschiebe-Skeptiker bestätigt fühlen.

Zur Einführung eines (kapitalgedeckten) „Vorsorgefonds“ in der gesetzlichen Pflegeversicherung: Man muss sich in einem ersten Schritt einmal grundsätzlich klar machen, was die Große Koalition hier beabsichtigt: Innerhalb einer umlagefinanzierten Sozialversicherung soll aus Beitragsmitteln gespeist ein kapitalgedeckter Fonds angelegt werden.
Das hat es aus guten Gründen noch nie gegeben.

In dem Artikel von Woratschka wird der Bremer Wissenschaftler Heinz Rothgang zitiert, ein Experte auf dem Gebiet der Pflegefinanzierung, mit Blick auf die Zeitachse: Der Fonds sei „genau dann wieder leer, wenn die höchste Zahl an Pflegebedürftigen erreicht wird“.

Laut Koalitionsvertrag soll die nicht näher bezifferte Rücklage bis zu ihrer Verwendung von der Bundesbank verwaltet werden. Doch die bedankt sich. Angesichts des Auf und Ab beim GKV-Zuschuss traut die Bundesbank der Stetigkeit der öffentlichen Hand nicht, so die Zusammenfassung unter der Überschrift „Bundesbank hält wenig von Vorsorgefonds in Staatsregie“ in der Ärzte Zeitung.

Dazu schreibt die Bundesbank selbst in ihrem Monatsbericht März 2014:

»Ab 2015 soll … der Beitragssatz schrittweise um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Davon sollen 0,4 Prozentpunkte unmittelbar zur Finanzierung der laufenden Ausgaben eingesetzt werden und das den verbleibenden 0,1 Prozentpunkten entsprechende Beitragsaufkommen zunächst in eine (von der Bundesbank verwaltete) Rücklage geleitet werden. Das ausgedehnte Leistungsvolumen wird künftige Generationen noch stärker zusätzlich belasten, weil die schrumpfende Gruppe der für das Beitragsaufkommen besonders relevanten Erwerbstätigen die Pflegeleistungen für die wachsende Gruppe der Leistungsempfänger im Wesentlichen wird finanzieren müssen. Mit dem Aufbau einer Rücklage können die heutigen Beitragszahler zwar stärker und mit dem Abschmelzen zukünftige Beitragszahler weniger zusätzlich belastet werden. Nach dem Verzehr der Finanzreserven wird das höhere Ausgabenniveau dann aber durch laufend höhere Beiträge gedeckt werden müssen. Inwiefern die beabsichtigte Beitragsglättung tatsächlich erreicht wird, hängt von den weiteren Politikreaktionen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Erfahrung zeigt, dass Rücklagen bei den Sozialversicherungen offenbar Begehrlichkeiten entweder in Richtung höherer Leistungsausgaben oder auch zur Finanzierung von Projekten des Bundes wecken. Zweifel an der Nachhaltigkeit einer kollektiven Vermögensbildung unter staatlicher Kontrolle erscheinen umso eher angebracht, je unspezifischer die Verwendung der Rücklagen festgelegt wird« (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2014, S. 10).
Eine deutliche Kritik.

Betrachtet man also wie hier geschehen nur zwei sehr wichtige Komponenten der anstehenden „Pflegereform“, dann wird das Lager der Skeptiker eher gestärkt aus der aktuellen Bestandsaufnahme herausgehen. Wir lassen uns aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.

Einen Tod muss man sterben – oder aber eine Typologie guter versus schlechter Betriebspraktika entwickeln, normieren und kontrollieren. Beides ist unangenehm

Der Mindestlohn, der gesetzliche und flächendeckende mit einigen Ausnahmen, ist im Bundestag gelandet und kommt auch demnächst in das Gesetzblatt. Und in den vor uns liegenden Wochen werden wir mit immer mehr Geschichten über mögliche Auswirkungen in ganz vielen Einzelbereichen konfrontiert werden, die erwartbar alle für sich nachvollziehbar sind bzw. sein werden und die viel Potenzial haben, sich aufzuregen über (vermeintlich) problematische Konsequenzen des Mindestlohns. Das war und wird so sein bei Taxifahrern, (osteuropäischen) Erntehelfern und und und.

Dazu gehört auch die folgende Botschaft: „Mindestlohn bedroht Betriebspraktika„: »Die Bundesregierung feiert den Mindestlohn – doch für längere, freiwillige Betriebspraktika könnte er das Aus bedeuten. Denn auch Praktikanten, die länger als sechs Wochen im Unternehmen sind, müssen künftig im Regelfall 8,50 Euro pro Stunde erhalten.« Lediglich Schul- und Pflichtpraktika sind ausgenommen, ab 2015 gilt auch für freiwillige Betriebspraktika, die länger als sechs Wochen dauern, eine gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Einerseits schlussfolgert Yasmin El-Sharif: »Die Generation Praktikum ist Geschichte.« Andererseits »bedroht die Neuregelung längere, freiwillige Praktika, wie sie zum Beispiel viele Studierende in den Semesterferien absolvieren.«

In dem Artikel wird Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der privaten Hochschule Hertie School of Governance, zitiert: „Es gibt Unternehmen, die Praktika nur anbieten, weil sie nichts oder nur wenig kosten. Wir müssen damit rechnen, dass dort Plätze gestrichen werden.“ Und der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel behauptet: „Das Gesetz bedeutet das Aus der meisten sinnvollen Studentenpraktika“. Dass die Wirtschaftsverbände gegen eine Einschränkung kostenloser Praktika sind, das kann man sich denken. Aber selbst ein Wohlfahrtsverband wie die Caritas hat sich im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf kritisch zu Wort gemeldet:

»Kritisiert wird … die Regelung zu Praktika. Die im Referentenentwurf vorgeschlagenen Ausnahmen sind sinnvoll, gehen aber nicht weit genug. Ein Mindestlohn für Praktikanten kann dazu führen, dass Praktikumsplätze in bestimmten Bereichen wie z.B. Kunst und Kultur unter diesen Bedingungen nicht mehr angeboten werden. Der Deutsche Caritasverband schlägt deshalb vor, Praktika in den ersten drei Monaten vom Mindestlohn auszunehmen, da in dieser Phase davon ausgegangen werden kann, dass in dieser Zeit das Lernen und das „Schnuppern“ in ein Berufsfeld im Vordergrund steht. Für die Unternehmen, die Praktikumsplätze anbieten, entstehen in dieser Zeit Kosten, die nicht durch entsprechende Entlastungen durch den Einsatz von Praktikanten gedeckt sind.«

Wenn man solche Stimmen Revue passieren lässt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die vielen zarten Pflänzchen des intensiven Lernens im realen Leben der Arbeit mit dem neuen Mindestlohn erstickt werden. Wird die Welt jetzt weniger bunt sein?

Zuerst einmal muss eine Annäherung an die Größenordnung versucht werden, um die es geht, wenn man von Praktika spricht. Die Datenlage ist dürftig. Der Artikel zitiert das IAB mit der Zahl von etwa 600.000 Praktika, die jährlich angeboten werden. Im Jahr 2011 wurde eine – nicht repräsentative – Studie veröffentlicht (Boris Schmidt, Heidemarie Hecht: Generation Praktikum 2011. Praktika nach Studienabschluss: Zwischen Fairness und Ausbeutung, Berlin 2011), die der Frage nachgegangen ist, wie es mit Praktika nach dem Studienabschluss von Hochschulabsolventen aussieht. Zu einigen Ergebnissen der Studie, über die damals in einer Zusammenfassung berichtet wurde:

»Wer nach dem Abschluss als Praktikant arbeitet, tut das nach den Ergebnissen der Befragung im Durchschnitt über knapp fünf Monate. 55 Prozent der Praktika dauern bis zu drei Monate, weitere 32 Prozent drei bis sechs Monate. Immerhin neun Prozent der untersuchten Praktika dauern länger als neun Monate … 22 Prozent der befragten Praktikanten mit Abschluss erhielten nach ihrem Praktikum ein Angebot, in eine unbefristete oder befristete Tätigkeit übernommen zu werden – mehr als doppelt so viele hatten sich das bei Aufnahme des Praktikums erhofft.«

Und zur Bezahlung wurde berichtet:

»Rund 40 Prozent dieser Praktika sind nach der Studie unbezahlt. Bei den bezahlten betrug der durchschnittliche Bruttolohn lediglich 3,77 Euro pro Stunde oder rund 550 Euro pro Monat.«

Und ein letzter Punkt, der zugleich die Ambivalenz dessen anleuchtet, was unter dem Dach „Praktika“ subsumiert werden muss:

»68 Prozent der befragten Ex-Praktikanten erlebten die Praktika nach dem Abschluss als prekäre Beschäftigung, 56 Prozent bezeichnen sie gar als „moderne Form der Ausbeutung“. Doch auf der anderen Seite sind auch positive Einschätzungen verbreitet: 61 Prozent der befragten Ex-Praktikanten sprechen von einer „guten Möglichkeit, um den Berufseinstieg zu schaffen“. 80 Prozent heben „die Möglichkeit, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben“ hervor.«

Sollte die vorgesehene Regelung die Praktika im Mindestlohngesetz betreffend Realität werden und dann künftig die 8,50 Euro pro Stunde gelten, dann dürfte ein Praktikant je nach Wochenstunden bis zu 1.400 Euro im Monat kosten. Da ist es absehbar, dass viele Praktika nicht mehr angeboten werden, gerade im sozialen und künstlerischen Bereich, aber natürlich auch von denen Unternehmen nicht mehr, die aus der Beschäftigung von Praktikanten ein Geschäftsmodell gemacht haben, man denke hier beispielsweise nur an nicht kleine Teile der Werbeszene.

Apropos „Geschäftsmodell“: Man darf und muss an dieser Stelle gerade im Kontext der Mindestlohndebatte auf die an anderer Stelle immer wieder gerne herausgestellte „Kreativwirtschaft“ verweisen. Exemplarisch dazu der im November des vergangenen Jahres veröffentlichte Beitrag „Mindestlohn killt Kreativität“ von Moritz Malsch, der 2006 zusammen mit Tom Bresemann in Kreuzberg das freie Literaturhaus Lettrétage gegründet hat. Er ruft ganz bewusst bei der Frage der Praktika und den möglichen Auswirkungen einer Mindestlohnregelung die Kulturbranche als Teilbereich der „Kreativwirtschaft“ auf, »eine Branche, die bekanntlich besonders rücksichtslos mit ihren Praktikanten umspringt: Ganze Erwerbsbiografien setzen sich hier aus prekären Arbeitsverhältnissen zusammen, wobei sich Erwerb oft auf den Erwerb von Ruhm und Ehre, guten Kontakten und gelegentlichen Förderhäppchen beschränkt.« Und er konfrontiert uns mit einer holzschnittartigen, aber durchaus plausiblen Typisierung:

»Grob vereinfacht besteht die Kulturlandschaft aus zwei Teilen: den staatlich geförderten Institutionen (ein paar normal bezahlte Angestellte und viele unbezahlte Praktikanten) sowie der freien Szene (viele unterirdisch bezahlte Selbstständige und viele unbezahlte Praktikanten). Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass sie wohl auch in Zukunft ihre Praktikanten nicht bezahlen können – es sei denn, der Staat gibt Geld … In jedem Fall würde der Zugang zu Praktika im Kulturbereich so rationiert und gesteuert: Ein Praktikum wäre dann eine staatliche Wohltat.«

Wobei gerade für die vielen freien Träger kaum von einer staatlichen Subventionierung von mindestentlohnten Praktikantenstellen auszugehen ist – das bekommt der Staat bislang selbst in seinen eigenen Einrichtungen kaum hin.

Aber Malsch bietet in seiner Einrichtung selbst unbezahlte Praktikantenstellen an und kann anscheinend aus zahlreichen Bewerbungen auswählen. Das möchte er nicht missen und verklärt die Lage, in dem er a) den Tatbestand der vielen Bewerbungen auf unbezahlte Stellen als „freie Entscheidung“ der Betroffenen deutet (sie hätten ja auch was anderes machen können) und b) das dann zusätzlich relativiert mit dem mittelschichtigen Hintergrund: »Das Schicksal ist selbstgewählt, und oft können die Akademikereltern nach vielen Jahren Gymnasial- und Studienzeit auch noch zwei Monate Berlinaufenthalt ohne Probleme finanzieren.«

Ziehen wir eine vorläufige Bilanz: Die derzeit vorgesehene Regelung wird dazu führen, dass sich Praktikantenarbeit erheblich verteuert – und zwar in „guten“ wie in „schlechten“ Einrichtungen. Aber was ist hier „gut“ und was „schlecht“?

Eine sehr aktuelles Beispiel für die wirklich miesen Ausbeutungsverhältnisse wurde diese Tage bekannt: »Mit der Hoffnung auf eine Lehrstelle machte eine 19-Jährige ein unbezahltes Schnupperpraktikum im Rewe-Supermarkt. Und noch eines. Und noch eines. Nach Monaten des kostenlosen Jobbens verklagte sie ihren Arbeitgeber auf den entgangenen Lohn. Und bekam nun vor dem Arbeitsgericht Bochum 17.281,50 Euro zugesproche«, so Helene Endres in ihrem Artikel „Rewe-Markt muss Praktikantin 17.000 Euro nachzahlen„. Ein krasser Fall (und das Unternehmen Rewe hat zwischenzeitlich Konsequenzen gezogen: „Rewe trennt sich von Ausbeuter-Chef„), aber man könnte über diesen Einzelfall hinaus viele Stunden berichten über die Erfahrungen anderer Praktikanten mit ihrer Instrumentalisierung in der betrieblichen Wertschöpfungskette.

Das ist die eine Seite der Medaille. Viele werden mit Blick auf diese eine Seite schlussfolgern, dass ein Mindestlohn nach sechs Wochen Praktikum richtig und sinnvoll ist, um diesen Geschäftsmodellen das Fundament zu nehmen, denn hier wirkt der Mindestlohn wie ein Prohibitivpreis mit der Folge, dass die schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern das Interesse verlieren werden an diesem Weg der billigen Arbeitskraftbeschaffung.

Aber wie immer hat auch diese Medaille eine zweite Seite, die man auch nicht negieren kann und darf. Der Kollateralschaden der neuen Regelung wird sein, das viele soziale, kulturelle Organisationen und Unternehmen keine Praktika mehr anbieten werden, weil sie die damit verbundenen Kosten gar nicht refinanziert bekommen oder an anderer Stelle herausziehen könnten. In der Konsequenz bedeutet das dann natürlich auch, dass viele junge Leute keinen Zugang mehr finden in diese Einrichtungen und damit möglicherweise einen schwierigeren Start hinlegen werden.

Aber was wäre die Alternative, wenn man diesen erwartbar starken Rückzug auf der Seite des Angebots an Praktika-Stellen vermeiden will? Man müsste „gute“ und „schlechte“ Praktikumsstellen identifizieren, normieren und prüfungsfähig definieren, um sie dann auf dieser Basis auch kontrollieren und Verstöße dagegen verfolgen zu können. Wie soll das gehen? Ein schon mathematisch hoffnungsloses Unterfangen, geschweige denn auch noch rechtssicher.

Einen Tod muss man sterben: Ganz offensichtlich haben wir es mit einem schweren nicht-auflösbaren Dilemma zu tun, denn auf der anderen Seite kann der Mindestlohnbefürworter auch nicht auf die Deckelung der lohnfreien Praktika und die Einbeziehung darüber hinausgehender Praktikumszeiten in die Gültigkeit des gesetzlichen Mindestlohnes verzichten, würde man doch ansonsten über diesen Weg für einen Teil der Unternehmen die Option einer mindestlohnfreien Beschaffung von billigster Arbeitskraft stabilisieren. Dem gegenüber steht das Argument, dass ein Unternehmen, das dem Praktikanten auch noch nach sechs Wochen zahlreiche Dinge vermitteln will und soll, was mit erheblichen Aufwand verbunden ist bzw. sein kann – und bei vielen Arbeiten wird man nicht in die Nähe einer Produktivität des Praktikanten kommen können, die dem – aus dieser Perspektive hohen – Mindestlohn nahekommt. Also wird man das Angebot verringern oder gar ganz einstellen (müssen).

Über den Wolken geht es weniger um grenzenlose Freiheit, als um Gehälter, Altersversorgung und Sparprogramme. Wie unten auf dem Boden. Zur Arbeitsniederlegung der Lufthansa-Piloten

Die Lufthansa steht vor historischem Streik, so hat die FAZ einen ihrer Artikel überschrieben, der sich mit der bevorstehenden dreitägigen Arbeitsniederlegung der Piloten der Lufthansa beschäftigt. Und schaut man nur auf die nackten Zahlen, dann kann man dieser Kategorisierung nicht widersprechen: 5.400 Piloten des Konzerns, zu dem auch Germanwings gehört, werden ab Mittwoch drei Tage lang den Betrieb des Unternehmens so gut wie komplett lahmlegen – fast 4.000 Flüge werden abgesagt und 425.000 Passagiere von dem Arbeitskampf betroffen sein. Nach Schätzungen belaufen sich die Kosten auf der Ergebnisseite des Unternehmens auf 25 Mio. Euro pro Streiktag, so dass bei Realisierung der angekündigten Arbeitsniederlegung erhebliche Schneisen in der Bilanz geschlagen werden – und auch nach dem Ende des Streiks wird es noch Tage dauern, bis sich der Flugverkehr wieder normalisiert, allein aus logistischen Gründen.

Wenige Tage vor dem nun anlaufenden großen Arbeitskampf – und das schafft einen notwendigerweise zu diskutierenden Kontrast – konnte man auf der anderen Seite solche Sätze lesen: »In der deutschen Luftfahrtbranche droht ein erheblicher Jobabbau. Im internationalen Vergleich sind die deutschen Fluggesellschaften und die deutschen Flughäfen bei der Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen Jahren stark zurückgefallen. Das ist das Ergebnis einer Studie unter Leitung des ehemaligen Wirtschaftsweisen Bert Rürup, die gemeinsam von den Gewerkschaften Ver.di, Vereinigung Cockpit, der Flugbegleiterorganistion UFO und dem Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) in Auftrag gegeben worden ist.« 

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Beschäftigung suchtkranker Menschen: Der Anderthalb-Liter-Job als soziales Experiment in Amsterdam – und vielleicht bald auch in Essen

Amsterdam mal wieder, wird der eine oder andere sagen. Die experimentieren bekanntlich gerne herum, vor allem, wenn es um Drogen geht. Vor zwei Jahren haben Stadtverwaltung und Streetworker gemeinsam ein Konzept entwickelt: 19 langjährige Trinker, die für anderthalb Liter Bier am Tag gemeinnützige Arbeit verrichten. Die Bezahlung kommt – wenn man es genauer betrachtet – in drei Aggregatzuständen daher, wie Tobias Müller in seinem Artikel „Die Ausgekotzten räumen auf“ berichtet:

»Fest: pro Schicht zehn Euro auf die Hand. Rauchbar: ein halbes Päckchen Tabak. Flüssig: zwei Dosen Pils vorher, zwei in der Pause, eine danach.«

Während sich einige – vor allem ausländische Berichterstatter – über diese Form eines primär naturalleistungsbasierten Beschäftigungsprojekts, das von der Sozialstiftung De Regenboog durchgeführt wird, aufregen und es für unmöglich halten, Alkoholiker auch noch mit ihrem Stoff zu versorgen, gehen die Niederländer selbst gelassen mit dem Projekt und dem dahinter stehenden Ansatz um.
Eine der Mitarbeiterinnen der Sozialstiftung De Regenboog ist Janet van der Nord, sie begleitet das Projekt:

»Früher hat Janet van der Noord als Managerin in gehobener Position bei amerikanischen Firmen gearbeitet, und niemand wusste davon, dass sie kokainabhängig war. Nach ihrem Entzug beschloss sie, anderen Suchtkranken zu helfen – „weil ich weiß, wie Sucht funktioniert“.
Es ist ihre Vorgeschichte, die Janet van der Noord eine ganz eigene Perspektive auf die Arbeit gibt. Einerseits lehrt sie die Erfahrung: „Nur völlige Abstinenz hilft, Sucht zu überwinden.“ Tief in ihrem Herzen wisse sie, dass man mit Abhängigkeit nicht glücklich sein kann. „Doch die Praxis“, sagt sie, „ist anders“. Sie erzählt von Grundbedürfnissen, dem Gefühl von Sicherheit, sozialer Zuwendung und Anerkennung. „Diese Menschen wurden von der Gesellschaft ausgekotzt. Da muss man erst Vertrauen aufbauen. Manche haben nicht einmal eine Wohnung, wenn sie hier anfangen.“ Alkoholfrei, wenn überhaupt, könnten die Männer erst später werden, sagt sie.«

Es handelt sich also um ein sehr niedrigschwelliges Projekt – und in den Niederlanden soll es verlängert werden. Es soll sogar ausgeweitet werden. Zunächst in den Stadtteil Amsterdam-Nord, aber auch andere niederländische Städte haben bereits Interesse bekundet, um ähnliche Projekte zu starten.

Doch der Gedanke aus Amsterdam hat Flügel bekommen und ist in der nordrhein-westfälischen Stadt Essen gelandet. Hier wollte (und will) man ein vergleichbares Projekt auflegen („Stadt Essen will Trinkerszene Dosenbier spendieren„, so ist ein Artikel aus dem Januar dieses Jahres überschrieben). Der Sozialdezernent Peter Renzel treibt die Idee dort voran – und er musste und muss viel Kritik einstecken, bevor man überhaupt mal begonnen hat mit eine praktischen Erprobung des Ansatzes. Als Zielgruppe für das Projekt, das im Frühsommer dieses Jahres starten soll, werden 250 alkoholkranke Menschen genannt. In der lokalen Presse – der WAZ – wird mit Blick auf die ersten Reaktionen berichtet:

»Mehr Spott und Kritik als Verständnis dafür, dass das Sozialamt der innerstädtischen Trinkerszene Bier spendieren möchte, hatten die meisten der vielen hundert Leserinnen und Leser, die unseren Artikel über die neue Strategie der Sozialarbeit in Briefen, im Internet und auf unserer Facebook-Seite kommentierten.«

Aber der Sozialdezernent erläutert einige konzeptionelle Eckpunkte: „Ohne Alkohol wären die Betroffenen wegen des enormen Suchtdrucks gar nicht in der Lage, Arbeit aufzunehmen und durchzuhalten“, sagt Renzel. Und weiter: „Sie trinken also kontrolliert niedrigprozentigen Alkohol statt unkontrolliert hochprozentigen“. Vor diesem Hintergrund ist das „Freibier“ für den Beigeordneten „keine Sackgasse, sondern der Einstieg in weitere Hilfen“. Seine Hoffnung: Mit der Alkoholvergabe könne die Suchthilfe das Vertrauen der Süchtigen gewinnen.

»Durch das kontrollierte Trinken und die zeitlichen Vorgaben erhalte der Alltag der Trinker Struktur, sie könnten „erste Kontrollmechanismen einüben“. Obendrein hofft der Verwaltungsvorstand auf „gesundheitsprophylaktische Effekte“: Die Teilnehmer sollen bestehende Angebote (Vitamin-B1-Vergabe, Verbesserung des Allgemeinzustands) besser nutzen.«

Aber auch die Betroffenen haben eine Meinung, über die Jörg Maibaum in seinem Artikel „Dreiviertel aus der Essener Trinker-Szene wollen arbeiten“ mit Blick auf das geplante umstrittene Beschäftigungsprojekt berichtet:

»Mehr als Dreiviertel der Szenegänger, die keinerlei Beschäftigung nachgehen, wünschen sich genau das und einen möglichst geregelten Tagesablauf. Tatsächlich hat nur jeder zehnte zumindest einen so genannten Ein-Euro-Job. 90 Prozent der Betroffenen, von denen die überwiegende Mehrheit älter als 36 Jahre ist, gehören der Rauschgiftszene an …«

Soweit einige Auszüge aus der überaus kontroversen Berichterstattung über das geplante Beschäftigungsprojekt.

Dieses Beispiel zeigt einmal wieder, wo ein zentrales Problem in Deutschland zu verorten ist: Wir brauchen endlich mehr Freiräume und Freiheitsgrade für auch experimentelle Ansätze in der sozialen Arbeit. Man möchte den vielen Kritikern und Vor-Verurteilern immer wieder und vor allem immer lauter zurufen, bestimmte neue bzw. andere Wege als bislang einfach mal zuzulassen und auszuprobieren. Und wenn es nicht klappt, dann holt man das eben zurück und macht wieder einen Deckel rauf.

Diskriminierung: Wenn Tim statt Hakan genommen wird und der Ali nicht passt. Und Bundeswehr-Soldaten auch nicht. Aber wenn die Maschine den Menschen aussucht, dann schlägt die Gleichförmigkeit die Vielfalt

Das waren wieder Schlagzeilen im Einwanderungsland Deutschland: „Keiner will einen Ali im Team haben„, „Du, Hakan, wir nehmen den Tim“ oder „Türkischer Name schmälert Chance auf Ausbildungsplatz„, um nur einige zu zitieren. Was ist passiert? Aus dem Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sind die Ergebnisse einer neuen Untersuchung bekannt geworden: »Ein Korrespondenztest mit rund 3.600 Bewerbungen zeigt: Schüler mit einem türkischen Namen haben bei einer Bewerbung auf einen Ausbildungsplatz deutlich schlechtere Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden als Schüler mit einem deutschen Namen«, so der Sachverständigenrat in seiner Mitteilung „Jugendliche mit Migrationshintergrund haben auch bei gleicher Qualifikation schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz„. Und hat auch sogleich eine „Lösung“ parat: »Um Diskriminierung zu vermeiden empfiehlt der SVR-Forschungsbereich anonymisierte Bewerbungsverfahren und verstärkte interkulturelle Schulung auf betrieblicher Ebene.« Aber ist es so einfach?

Die Studie belege – so kann man es der Pressemitteilung des Sachverständigenrates entnehmen -, „dass ein diskriminierungsfreier Zugang zur Ausbildung im dualen System in Deutschland noch nicht gewährleistet ist“. Aber kann ein solcher überhaupt je gewährleistet werden? Mit dieser Frage soll nun keineswegs Diskriminierung an sich legitimiert werden, sondern es geht um eine grundlegend skeptische Sicht auf das Ziel eines“diskriminierungsfreien“ Zugangs zu Ausbildung wie auch generell zum Arbeitsmarkt. Dieses Ziel kommt zwar wohlfeil daher, aber die Realitäten von Auswahlentscheidungen beinhalten bewusste (die man vielleicht verändern kann) wie auch und vor allem unbewusste (die wesentlich schwerer zu adressieren sind) Diskriminierungen – und das nicht nur in der – übrigens erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlichen – durchweg negativen Konnotierung als „jemanden herabsetzen, benachteiligen, zurücksetzen“. Man darf an dieser Stelle darauf hinweisen: Das Wort Diskriminierung stammt von dem aus dem lateinischen Verb discriminare („trennen, absondern, abgrenzen, unterscheiden“) im Spätlateinischen abgeleiteten Verbalsubstantiv discriminatio („Scheidung, Absonderung.“) In jedem Auswahlverfahren haben wir es mit diskriminierenden Prozessen zu tun. Die lassen sich sachlogisch gar nicht vermeiden, es kann also „nur“ gehen um die Problematik „ungerechter“ Diskriminierungen bzw. um Selektionsprozesse, die zu falschen Ergebnissen führen, beispielsweise die Nicht-Nutzung eigentlich „besserer“ Bewerber/innen in einem Auswahlverfahren.

In der vorliegenden Studie wird auf einen ganz bestimmten diskriminierenden Faktor abgestellt: den Vorurteilen, die sich nicht an der einzelnen konkreten Person festmachen, sondern wo diese gleichsam in Sippenhaft ihrer Herkunft bzw. ihrer (scheinbaren) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe genommen wird.

  • Überall auf dem Arbeitsmarkt werden wir konfrontiert mit der Problematik von normativ aufgeladenen Stereotypen, die sich keinesfalls auf einen Bereich reduzieren lassen. Als Beispiel aus der aktuellen Diskussion sei an dieser Stelle auf den folgenden Artikel verwiesen: „Salutieren im Sandkasten. Vom Soldaten zum Erzieher“ von Almut Steinecke: »An der Bundeswehrfachschule werden Zeitsoldaten umgeschult. Pädagogen und Psychologen finden den Wechsel vom Kasernenhof zur Kita unangemessen.« Unabhängig von Detailfragen – die Kritiker der (wohlgemerkt: qualifizierten) Umschulung nehmen Menschen in eine Art Kollektivhaftung, da den bisherigen Soldaten der Bundeswehr generell die Eignung für die Arbeit in einer Kindertageseinrichtung oder einer Einrichtung der Jugendhilfe abgesprochen wird, da sie als „Soldaten“ nicht passungsfähig sozialisiert seien. Das ist bei genauerer Auseinandersetzung mit dem (an sich) so wichtigen Thema „Eignung“ für eine bestimmte Tätigkeit natürlich schlichtweg Unsinn, denn gerade im pädagogischen Bereich spielt neben einer entsprechend qualifizierten Ausbildung (an der im vorliegenden Fall nicht gespart wird) die individuelle persönliche Eignung eine zentrale Rolle. Und die kann man eben nur individuell beurteilen. Und es gibt kein logisches Argument, warum bisherige Soldaten per se nicht geeignet sein sollen, hingegen Abiturienten, die ein kindheitspädagogisches Bachelor-Studium absolviert haben, schon. Man müsste grundsätzlich bei beiden genau hinschauen und dann würde man nicht nur ungeeignete Ex-Soldaten identifizieren, sondern auch in einer Dauerschleife der nicht enden wollenden Adoleszenz hängen gebliebenen Abiturienten. Man kann es drehen und wenden wie man will: Auch hier haben wir es mit einem Diskriminierungsfall zu tun, mit dem kleinen, aber vom Ergebnis her nicht relevanten Unterschied, dass er von denen kommt, die es eigentlich „gut meinen“ mit dem Beruf. Vielleicht – das wäre aber ein ganz eigenes Thema – ist das sogar noch schlimmer als wenn es aus der anderen Ecke kommt.

Aber wieder zurück zu der neuen Studie. »Lukas gegen Ahmet, Hakan gegen Tim: Wer wird den Ausbildungsplatz bekommen? Nein, keine neue Castingshow, sondern eine Studie, bei der es letztlich drei Verlierer gibt: Ahmet, Hakan – und die Gesellschaft«, so Frauke Lüpke-Narberhaus in ihrem Bericht über die Studie. Was genau ist ermittelt worden?

Für die Studie wurden jeweils zwei Bewerbungen von gleich gut qualifizierten männlichen Bewerbern mit einem türkischen und einem deutschen Namen für die Ausbildungsberufe Kfz-Mechatroniker und Bürokaufmann bundesweit an rund 1.800 Unternehmen verschickt. Die Auswertung der Rückläufe auf die fiktiven Bewerbungen zeigte: Um eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten, muss ein Kandidat mit einem deutschen Namen durchschnittlich fünf Bewerbungen schreiben, ein Bewerber mit einem türkischen Namen hingegen sieben. Im Ausbildungsberuf Kfz-Mechatroniker ist die Benachteiligung stärker ausgeprägt: Hier muss ein Bewerber mit einem türkischen Namen etwa 1,5-mal so viele Bewerbungen schreiben wie ein Kandidat mit einem deutschen Namen. Bei einer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz als Bürokaufmann sind es 1,3-mal so viele. „Diskriminierung tritt also nicht in allen Branchen gleichermaßen auf“, erläuterte Dr. Jan Schneider, Leiter des SVR-Forschungsbereichs und Autor der Studie. „Einen wichtigen Einfluss auf das Ausmaß der Ungleichbehandlung hat außerdem die Unternehmensgröße: Die Diskriminierungsrate ist bei kleinen Firmen mit weniger als sechs Mitarbeitern deutlich höher als bei mittleren und großen Unternehmen.“ (Quelle: http://www.svr-migration.de/content/?p=5401)

Quelle: http://www.svr-migration.de/content/?p=5401

Man könnte zumindest einen Teil der Befunde durchaus auch so interpretieren im Wissen um die vielen Vorurteile, die in vielen Köpfen herumschwirren, wenn man mit einem Namen konfrontiert wird, der beispielsweise auf eine türkisch-stämmige Herkunft deutet: Dass bei der Bewerbung auf eine Ausbildungsstelle für einen Bürokaufmann bei deutschem Namen im Schnitt sechs und bei einem türkischen Namen „nur“ eine mehr, also sieben Bewerbungen notwendig sind, erstaunt eher hinsichtlich des kleinen Unterschieds.

Die Forscher sind in ihrer Studie auf einen relativ klaren Zusammenhang gestoßen: »Je kleiner das Unternehmen, desto stärker die Diskriminierung: Das könnte daran liegen, vermuten die Forscher, dass größere Unternehmen ihre Bewerber nach einem stark formalisierten Verfahren auswählen, in das mehrere Mitarbeiter eingebunden sind. Dadurch ließe sich auch der Unterschied zwischen Kfz-Mechatronikern und Bürokaufmännern erklären: Die Kfz-Betriebe hatten im Durchschnitt weniger Mitarbeiter«, so die Zusammenfassung in dem Artikel von Frauke Lüpke-Narberhaus.
Die Wissenschaftler sind auch der Frage nach den – möglichen – Ursachen nachgegangen.

»Gründe für die Ungleichbehandlung gibt es viele. Die Bewerber mit türkischem Namen würden nicht gezielt ausgesiebt, glauben die Forscher, meist gäbe ein Bündel an Faktoren den Ausschlag: Unsicherheit, Vorurteile und Befürchtungen von der Sorte: Was werden die Kunden denken? Werden die Kollegen damit klarkommen?

Manchmal beruht die Ablehnung ganz einfach auf fehlender Erfahrung. Denn über zwei Drittel aller Ausbildungsbetriebe in Deutschland beschäftigen bisher keinen einzigen Azubi mit Migrationshintergrund – das gilt insbesondere für kleinen Betriebe und solche im Osten der Republik. Ganz anders sieht es bei großen Unternehmen aus, darum zeigen diese sich auch offener«, so Daniel Bax in seinem Artikel „Du, Hakan, wir nehmen den Tim„.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftler stark formalisierte Verfahren, wie man sie typischerweise in großen Unternehmen vorfindet, präferieren. Insofern überrascht ihr Lösungsvorschlag nicht: »Ein entscheidender Beitrag zur Verringerung von Diskriminierung in Bewerbungsverfahren ist die Anonymisierung von Bewerbungen. Doch fehlen insbesondere kleinen Unternehmen oft die personellen und finanziellen Ressourcen, anonymisierte Bewerbungsverfahren durchzuführen. Um den flächendeckenden Einsatz anonymisierter Bewerbungen voranzubringen, sollte eine kostengünstige EDV-Lösung entwickelt werden. Das wäre vor allem für kleine Unternehmen eine entscheidende Erleichterung.« Zum Themenfeld „anonymisierte Bewerbungen“ gibt es auf der Seite der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine eigene Seite mit weiterführenden Informationen. Dort findet man auch die 2012 veröffentlichten Ergebnisse einer Evaluierungsstudie über das Pilotprojekt „Anonymisierte Bewerbungsverfahren“: Für je 12 Monate haben Deutsche Post, Deutsche Telekom, L´Oréal, Mydays, Procter & Gamble, das Bundesfamilienministerium, die Bundesagentur für Arbeit in Nordrhein-Westfalen und die Stadtverwaltung von Celle neue Wege der Personalrekrutierung ausprobiert. Beim Pilotprojekt wurden über 8.500 Bewerbungen anonymisiert eingesehen, 246 Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplätze wurden erfolgreich besetzt. Die Studie kommt zu vielversprechenden Befunden, was den Abbau der ersten Hürde im normalen Bewerbungsverfahren angeht.

Nun könnte man vielleicht argumentieren, dass Diskriminierung beispielsweise aufgrund der ethnischen Herkunft, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung an sich schon verboten sind, wir haben sogar seit dem 18. August 2006 das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG). Soweit die Theorie. Doch viele Unternehmen wissen, wie sie unerwünschte Kandidaten trotzdem praktisch aussortieren. Hierzu nur als ein Beispiel von vielen: „Unternehmen sieben nach Alter und Geschlecht„.

Nach den Schlussfolgerungen der neuen Studie könnten stärker formalisierte Verfahren tatsächlich einen Fortschritt dahingehend bringen, dass exkludierende Hürden abgebaut werden und damit die Zugangschancen für bestimmte bislang schon am Anfang diskriminierte Bewerber/innen verbessert werden können. Das verhindert immer noch nicht, dass sie dann im weiteren Gang des Verfahrens Opfer von Vorurteilen werden, es erhöht aber ihre Chancen, sich überhaupt präsentieren und einbringen zu können.

Aber – darauf sei abschließend hingewiesen – wie immer in der komplexen sozialen Realität gibt es zwei Seiten einer Entwicklung. Fortschritte durch eine stärkere Formalisierung und Fokussierung auf „nur“ die Qualifikationen kann positiv wirken, wird sie hingegen zu weit getrieben, eröffnen sich sogleich neue Problemfelder. Ein Beispiel hierfür ist der neue Trend des „Roboter Recruiting“, beispielsweise in dem Artikel „Wenn der Mensch von der Maschine eingestellt wird“ von Clare Devlin in der WirtschaftsWoche beschrieben: »Üblicherweise geht eine Bewerbung an den Personaler. Immer häufiger aber entscheidet der Computer mittels Statistik-Programm, wer genommen wird und wer nicht. Gleichförmigkeit statt Vielfalt ist die neue Devise.«
Aber zuerst der Blick auf die Versprechungen, die mit dieser Methode verkauft werden – und die scheinbar hervorragend passen als Antwort auf die bisherige Problematisierung von Diskriminierungen in Auswahlprozessen, wie sie auch in der neuen Studie entfaltet wurde. Als Beispiel wird das Unternehmen Xerox herangezogen, das Roboter Recruiting nutzt:

»Xerox nutzt eine Statistik-Software, mit der Lebensläufe analysiert und selektiert werden. Bewerber müssen ihre Unterlagen hierbei hochladen oder Online-Fragebögen ausfüllen. Der Vorteil für die Unternehmen: Es geht schneller und ist effizienter. Außerdem, so könnte man argumentieren, urteilt der Computer gerechter. Er selektiert Bewerber nicht anhand ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion aus. Der Computer diskriminiert nicht, er fokussiert sich alleine auf die gesuchten Eigenschaften für Bewerber. Die wurden vorher programmiert. Weder das optische Auftreten, noch andere Faktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit, Vorstrafen oder Brüche im Lebenslauf spielen eine Rolle beim Roboter Recruiting. Es ist nicht anfällig für Rollenklischees oder von Emotionen gelenkt, denn es gibt keinen ersten Eindruck.«

Xerox hat durch eine Statistik-Software ermittelt, welche Mitarbeiter besonders lange im Unternehmen arbeiten. Anschließend wurde untersucht, was die Personen gemeinsam haben. All diese Eigenschaften gelten als wichtig, also sollten diese auch die neuen Bewerber mitbringen.
Beim Roboter Recruiting zählen nur Zahlen, Daten und Fakten – und eben nicht der türkische Namen eines Bewerbers. Hört sich gut an. Erst einmal.

Aber wie immer gibt es sofort Reaktionen auf neue Systeme. »Im Internet kursieren zahlreiche Anleitungen, wie eine Bewerbung möglichst „roboterfreundlich“ gestaltet werden kann. Frei nach dem Motto: Bloß keine Phantasie, es lebe der Telegrammstil.«

Clare Devlin bringt das Dilemma dieser Personalauswahl auf den Punkt:

»Das große Problem dabei: Persönlichkeiten gehen verloren. Durch Gleichförmigkeit entsteht Sicherheit, aber keine Vielfalt, keine Abwechslung und keine Innovation.«

Und schlussendlich:

»… was ist, wenn der Kandidat zwar alle Kriterien erfüllt und trotzdem nicht ins Team passt? Wenn es auf menschlicher Ebene nicht stimmt? Dafür hat das Roboter Recruiting noch keine Lösung gefunden.«

Das wird das Roboter Recruiting auch nicht schaffen (können). Gerade bei Fragen wie der, ob jemand ins Team passt oder nicht, landet man wieder neben allen Rationalitäten auf der Gefühlsebene und damit bei ganz vielen kleinen und großen Vor-Urteilen. Die kann und muss man bearbeiten, aber wir sind Menschen und insofern wird man die Diskriminierungsprozesse nur abmildern, nicht aber beseitigen können. Auch wenn das schön wäre. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Personalverantwortliche – auch durch solche Studien wie die hier besprochenen – etwas sensibler werden im Umgang mit den Chancen und Potenzialen, die in Bewerbern stecken, die ansonsten in der Dunkelheit verbleiben müssen.