Leistungen bzw. Ausgaben der Pflegeversicherung zurückfahren? Für den Anfang bietet sich der Pflegegrad 1 an. Der wird schon (seit längerem) ins Visier genommen

Dass die Pflegeversicherung massive Finanzprobleme hat, ist mittlerweile sicher überall angekommen. Die Ausgabensteigerungen laufen der Einnahmenentwicklung davon und gleichzeitig wird überall berichtet, in welche schwindelerregende Höhen die von den Pflegebedürftigen zu leistenden „Eigenanteile“ bei stationärer Langzeitpflege gestiegen sind. Da ist es nicht überraschend, dass man sich auf die Suche begibt, wo im bestehenden System Ausgaben gesenkt werden können.

Anfang Juli 2025 wurde berichtet, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung einer Pflegereform ihre Arbeit aufgenommen hat (die letzte Arbeitsgruppe hatte erst im August 2024 ihren umfangreichen Abschlussbericht vorgelegt – vgl. hierzu ausführlich den Bericht der Bundesregierung Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung – Darstellung von Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen, BT-Drucksache 20/12600 vom 19.08.2024). »Um die Beiträge zu stabilisieren, sind auch Leistungskürzungen im Gespräch. Es dürfe keine Denkverbote geben, so die Botschaft.« Das schreibt Tim Szent-Ivanyi in seinem Beitrag Pflegeversicherte müssen sich auf Kürzung der Leistungen einstellen. Dass es „keine Denkverbote“ gibt, das stammt von der neuen Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) nach der konstituierenden Sitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform.

»In Zukunft werde es auch angesichts der wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen nicht mehr möglich sein, Defizite in der Pflegeversicherung durch immer weiter steigende Beiträge zu decken. Deshalb müsse man schauen, welche Leistungen zu hohen Kostensteigerungen führten und welche tatsächlich effizient seien.«

Und die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) sekundiert ihrer Bundeskollegin: „Wir müssen uns ehrlich machen, welche Leistungen wir brauchen, welche wir gern haben wollen und welche vielleicht auch verzichtbar sind.“

Verzicht ist das Stichwort

Wie wäre es mit dem Pflegegrad 1? So plädiert »die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) unter anderem dafür, dass Pflegebedürftige im ersten Jahr je nach Pflegegrad nur geringfügige Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Neben dieser Karenzzeit wird vorgeschlagen, den Pflegegrad 1 mit dem monatlichen „Entlastungsbetrag“ von 131 Euro komplett zu streichen.«

Von der Arbeitgeberseite erwartet der eine oder andere solche Vorschläge. Aber dann reiht sich sogar ein Vertreter aus dem Lager der gesetzlichen Krankenversicherung in die Reihen der Kürzungsbefürworter – und geht sogar noch einen Schritt weiter: Geldleistungen für die niedrigen Pflegegrade 1 und 2 kürzen oder streichen? Der Chef der BKK Nordwest, Dirk Janssen, rechnet vor, dass sich auf diese Weise elf Milliarden Euro einsparen ließen, so dieser Bericht: Wachsende Kritik an Geldleistung für Pflegegrade 1 und 2. Wenn man allerdings zur Kenntnis nimmt, wie er den Vorstoß zur Kürzung in den beiden unteren Pflegegraden begründet, dann muss man nicht besonders gut rechnen können, um anzuzweifeln, wie denn hier größere Einsparungen erwirtschaftet werden sollen: 

„Wäre es nicht besser, den Entlastungsbetrag von 131 Euro sowie bei Pflegegrad 2 die zusätzliche Geldleistung zu streichen und das gesparte Geld zur Stabilisierung des Pflegebeitrags und zur Verbesserung der Leistungen für schwer Pflegebedürftige einzusetzen?“, so argumentiert der Vorstand der BKK Nordwest. Ja was denn nun? Milliarden einsparen oder die Mittel für eine Verbesserung der Leistungen in den oberen Pflegegraden einsetzen? Zweimal kann man das Tortenstück nicht verteilen.

Der Entlastungsbetrag von 131 Euro im Monat im Pflegegrad 1 wird von unterschiedlichen Seiten in Frage gestellt. Am weitesten geht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), dass im März 2025 in einem Auftragsgutachten für den Bundesverband der privaten Anbieter sozialer Dienste (bpa), in dem vor allem die privatgewerblichen Anbieter ambulanter und stationärer Pflege organisiert sind, ganz erhebliche Eingriffe vorgeschlagen hat. Jochen Pimpertz und Ruth Maria Schüler argumentieren in der Auftragsstudie, man solle nicht auf zusätzliche Einnahmenquellen schauen, sondern stattdessen „Entlastungen auf der Ausgabenseite zu realisieren, die eine Versorgung mit pflegerischen Kernleistungen nicht gefährden“. Ausführlich gehen sie dabei auf das Pflegegeld ein, dass es erst ab Pflegegrad 2 gibt. Sie gehen also über eine Abschaffung des Entlastungsbetrags bei Pflegegrad 1 hinaus. Die Infragestellung des Pflegegelds geht bei den Autoren so:

Das Pflegegeld wird ab Pflegegrad 2 ausgezahlt, ohne sicherzustellen, ob der Empfänger es zweckgebunden für pflegebezogene Aufwendungen einsetzt. Selbst wenn er es zweckgebunden verwendet, ist nicht gewährleistet, dass die Pflege, die der Empfänger mit dem Geld erwirbt, den Qualitätsstandards einer professionellen Pflege entspricht. Außerdem sei völlig ungeklärt, ob der Haushalt eines Pflegebedürftigen nicht in der Lage ist, die Pflege aus eigener Tasche zu zahlen.
Was soll der Hinweis auf „Qualitätsstandards einer professionellen Pflege“? Es geht hier um Leistungen an Pflegebedürftige, die ausschließlich oder überwiegend von ihren Angehörigen gepflegt werden – übrigens die „billigste“ Versorgungsform für die Kostenträger, der man sich bislang gerne bedient hat. Aber die Fragen der beiden sind natürlich eher rhetorischer Natur. Man sucht nach scheinbar plausibel daherkommenden Argumenten, mit deren Hilfe man die Leistung an sich in Frage stellen kann. Sie verweisen dann auf eine andere Studie aus dem IW, die für den Bereich der stationären Langzeitpflege gezeigt habe, dass angeblich sieben von zehn Rentnerhaushalten im Jahr 2023 rechnerisch in der Lage gewesen seien, die Eigenanteile an den stationären Pflegekosten für eine Person bis zu fünf Jahre aus laufendem Alterseinkommen und zuvor gebildetem Vorsorgevermögen zu tragen. Vgl. dazu ausführlicher die Auftragsstudie für den Verband der Privaten Krankenversicherung: Jochen Pimpertz und Maximilian Stockhausen (2024): Vorsorge für den stationären Pflegefall. Wie lange reichen Vermögen und Einkommen deutscher Rentnerhaushalte?, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Oktober 2024.

Zurück zu Pimpertz/Schüler, die sich auf die referierten Befunde beziehen: »Übertragen auf den Pflegegeldbezug ist zu vermuten, dass sich vergleichbare Finanzierungspotenziale ergeben, sollte die Pflegegeldleistung zweckgebunden und abhängig von materiellen Unterstützungsbedarfen ausgezahlt werden.« Wer das alles im Original nachlesen möchte, der wird hier fündig: Jochen Pimpertz und Ruth Maria Schüler (2025): Anforderungen an ein zukunftsfähiges Pflegewesen. Die Pflegewirtschaft zwischen steigenden Pflegebedarfen und zunehmendem Arbeitskräftemangel. Gutachten im Auftrag des Bundesverbands der privaten Anbieter sozialer Dienste e. V. – bpa, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), März 2025.

Punktgenau zur öffentlichkeitswirksam inszenierten konstituierenden Sitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Anfang Juli 2025 hat dann der vom Verband der Privaten Krankenversicherung eingesetzte Experten-Rat „Pflegefinanzen“1 seine Stellungnahme zum Start der Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene zur Reform der Pflegeversicherung und zum Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD „Verantwortung für Deutschland“ vorgelegt (vgl. Experten-Rat „Pflegefinanzen“, 3. Juli 2025). Dort wird der Pflegegrad 1 als Ganzes infrage gestellt. Aus der Sicht der PKV-Experten liege hier „keine echte Pflegebedürftigkeit vor“, sondern eher eine „geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“. Der Expertenrat tritt daher für eine Aussetzung dieses Grads ein. 

Nach dieser Vorlage mit einem Generalangriff auf den Pflegegrad 1 kommt der PKV-Verband dann fast schon „versöhnlich“ daher: 

»Auch wir schlagen vor, den Leistungsumfang des Pflegegrades 1 zu überprüfen. „Wenn wir die Zukunft der Pflege sichern wollen, dann müssen wir die Versorgungslasten im demografischen Wandel durch Prävention reduzieren“, sagt Anne Kristina Vieweg, Geschäftsführerin Bereich Pflege im PKV-Verband. „Dazu gehört, dass die Leistungen im Pflegegrad 1 präventiv wirken sollten und sich zukünftig auf Beratungsangebote, Pflegekurse, Hilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen konzentrieren“«, heißt es in der Mitteilung Pflegereform: Der Pflegegrad 1 sollte konsequent auf Prävention ausgerichtet werden des PKV-Verbands, die am 28. Juli 2025 veröffentlicht wurde.

Und dann werden endlich mal konkrete Beträge genannt: »Würden die anderen Ansprüche, wie der Anspruch auf den Entlastungsbetrag, entfallen, wären Einsparungen von 1,2 Milliarden Euro jährlich möglich.«

Da leuchten sicher schon die Euro-Zeichen in den Augen der Sparkommissare, wenn da nicht wie beim dem BKK-Vertreter ähnlich eine andere Verwendung der Mittel nachgeschoben wird: Die Einsparungen »könnten stattdessen für die Stärkung präventiver Ansätze zur Vermeidung und Verzögerung von Pflegebedürftigkeit genutzt werden.«

Aber der Blutdruck der Ausgabensenker muss nicht steigen, dass sind primär Inaussichtstellungen, die man später dann wieder einkassieren oder zumindest anders als eine pauschale Geldleistung wie den Erstattungsbetrag auf dem (Nicht-)Umsetzungsweg erheblich eindampfen kann.

Der individuelle Entlastungsbetrag im Pflegegrad 1 habe sich zu einer Belastung des gesamten Pflegesystems entwickelt, so die private Versicherungswirtschaft. Deshalb müsse der weg.

Und dann findet man noch diesen Hinweis: »Aus einer Untersuchung von Medicproof, dem medizinischen Dienst der Privaten Krankenversicherung, geht unter anderem hervor: … Seine ursprünglichen Ziele wie Vorbeugung oder Verzögerung der Pflegebedürftigkeit erreicht der Pflegegrad 1 … nicht.« 

Viele Medien haben das abgeschrieben, eine aktuelle Studie habe ergeben, dass der Pflegegrad 1 seine ursprünglichen Ziele nicht erreicht. 

Aber so aktuell ist das alles gar nicht. Hier wurde über die „aktuelle“ Veröffentlichung von Medicproof – Pflegegrad 1 in der Begutachtung – Datenanalyse und Gutachterbefragung. Eine neue Gruppe Pflegebedürftiger, die zum starken Wachstum der Begutachtungen beiträgt -, die übrigens schon im vergangenen Jahr vorgelegt wurde, bereits ausführlich berichtet:

Und zwar am 6. Oktober 2024 in dem Beitrag Der angeblich „explosionsartige“ Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen und die Infragestellung von Pflegegrad 1. Dort findet man nehmen einer Darstellung der in 2024 publizierten Ergebnisse von Medicproof auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Zielen, aber auch den zu diskutierenden Defiziten, die mit dem Pflegegrad 1 verbunden sind. 

Fußnote

  1. Der sogenannte Experten-Rat „Pflegefinanzen“ hat im Jahr 2022 seine Arbeit aufgenommen. Das Gremium ist vom PKV-Verband initiiert worden. Mitglieder sind Prof. Dr. Jürgen Wasem, Prof. Dr. Christine Arentz, Prof. Dr. Thiess Büttner, Constantin Papaspyratos und Prof. Dr. Christian Rolfs. Die haben zwischenzeitlich mehrere Stellungnahmen und Berichte veröffentlicht.  ↩︎