Die sozialpolitischen Veteranen werden es vor Augen haben: alle Jahre wieder wird sie an die Oberfläche der politischen Debatten geholt – die „Bürgerversicherung“. Oder zumindest einige Komponenten davon. Den bisherigen Höhepunkt hatte die Diskussion über eine „Bürgerversicherung“ in den frühen 2000er Jahren, vor allem, als 2003 die SPD und insbesondere die Grünen die Bürgerversicherung erstmals offiziell als Reformmodell vorgeschlagen haben und „die andere Seite“ mit dem Kopfprämienmodell (das später dann als „Gesundheitsprämie“ semantisch aufgehübscht wurde) zu kontern versuchte. Dabei ging (und auch in den neueren Vorstößen geht) es vor allem um die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung, konkret um die die Ablösung des bisherigen dualen Systems von gesetzlicher und privater
Krankenversicherung. Das muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass seit 2006 Deutschland das einzige Land in der EU ist, das für einen definierten Teil der Bevölkerung die Vollversicherung in der privaten Krankenversicherung ermöglicht.
Nun hat man bei der Einführung der Pflegepflichtversicherung Anfang der 1990er Jahre das duale System im Krankenversicherungsbereich auch auf die neue Säule der Sozialversicherung übertragen und wir haben – für 90 Prozent der Bevölkerung – die (umlagefinanzierte) Soziale Pflegeversicherung bekommen, während die Privatversicherten in einer eigenständigen (teilkapitalgedeckten) Privaten Pflegepflichtversicherung integriert wurden.
Nun ist es nicht überraschend, dass die Diskussion über eine „Bürgerversicherung“ – zum einen die vollständige Einbeziehung aller Bürger in eine pflichtversicherte Absicherung sowie zum anderen immer auch die dabei mitlaufende Debatte über eine Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage (neben den Löhnen auch Kapital- und Mieteinkünfte) im Vergleich zur doppelten Begrenzung auf eine lohnbezogene Beitragsfinanzierung und die dann auch „nur“ bis zur Beitragsbemessungsgrenze – in den zurückliegenden Jahren immer wieder auch auf die Pflegeversicherung übertragen wurde.
Den Apologeten einer bürgerversicherungsförmigen Ausgestaltung geht es um einen „Doppel-Schlag“: Zum einen soll die Lastenverteilung neu geordnet werden, in dem über den Hebel „Alle zahlen in einen Topf“ gerade die „guten Risiken“, die sich bislang aufgrund des dualen Systems der Umverteilung im Sozialversicherungssystem entziehen konnten, stärker an der Finanzierung der Basis-Systems beteiligt werden (und die Beteiligung soll dann auch noch erweitert werden auf Einkünfte außerhalb der durch Beitragsbemessungsgrenzen restringierten lohnbezogenen Einkünfte), zum anderen sollen die seit Jahren ständig steigenden „Eigenanteile“ der Versicherten vor allem bei stationären Leistungsfällen begrenzt werden, was natürlich Mittel für eine Gegenfinanzierung erforderlich macht, die an anderer Stelle aufgebracht werden müssen.
Von der ursprünglichen Intention der Pflegeversicherung in den 1990er Jahren als eine „Vollversicherung“ (der Pflegekosten) hin zu einem durch Deckelung der Teilleistungen bedingten Realwertverlust mit Folgen
Das Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung hat (erneut) ein Gutachten beauftragt, das Wege aus dem „doppelten Finanzierungsproblem“ der Pflegeversicherung aufzuzeigen versucht – und verschiedene Szenarien durchrechnet. Das Bündnis umfasst den Paritätischen Gesamtverband, Gewerkschaften, weitere Sozialverbände bis hin zum Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), dem Bundesverband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB) oder dem BIVA-Pflegeschutzbund.
➔ Heinz Rothgang und Dominik Domhoff (2025): Beitragssatzeffekte einer Pflegebürgervollversicherung. Gutachten im Auftrag des Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung, Bremen, Januar 2025
Falls der eine oder andere an dieser Stelle das Gefühl hat, das gab es doch schon mal, so ein Gutachten, dann ist das keine Sinnestäuschung. Alle drei Komponenten einer Pflegebürgerversicherung, die auch im neuen Gutachten mit Berechnungen untersucht werden, sind bereits vor einigen Jahren von den beiden Autoren diskutiert worden:
➔ Heinz Rothgang und Dominik Domhoff (2017): Beitragssatzeffekte und Verteilungswirkungen der Einführung einer »Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung«. Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bremen, Mai 2017
Auch in ihrem neuen Gutachten verweisen Rothgang und Domhoff auf die historische Intention der Pflegeversicherung, wie sie dann 1995 eingeführt wurde:
»Die Forderung nach einer sozialstaatlichen Absicherung des Pflegerisikos wurde seit Mitte der 1970er Jahre damit begründet, dass es gelte, die pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu beenden … Dass Menschen auch nach einem durchschnittlichen Erwerbsleben durch auftretende Pflegebedürftigkeit regelmäßig in die Sozialhilfe abrutschen und zu Almosenempfängern werden, wurde als eines modernen Sozialstaats unwürdig kritisiert … Dem Dreiteilungsvorschlag der Arbeiterwohlfahrt (AWO) aus dem Jahr 1976 folgend, wurden die Heimkosten in drei Komponenten zerlegt: die pflegebedingten Kosten (die inzwischen auch eine Ausbildungsumlage enthalten), die Investitionskosten sowie die Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Die Pflegebedürftigen sollten dabei lediglich für die Kosten der Unterkunft und Verpflegung aufkommen, während die Investitionskosten von den Ländern und die pflegebedingten Kosten vollständig von der Pflegeversicherung übernommen werden sollten.« (Rothgang/Domhoff 2025: 2).
Was die Leistungen der Pflegeversicherung angeht: Anfangs funktionierte diese Aufteilung noch: 1996 waren für die Pflegestufen 1 und 2 alle pflegebedingten Kosten in der stationären Pflege abgedeckt.
Die ursprüngliche Intention entspricht dem, was heute als „Vollversicherung“ bezeichnet wird. »Insofern ist die Forderung nach eine Vollversicherung nur eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele der Pflegeversicherung.« Vor diesem Hintergrund ist die nach einer kurzen Phase der Zielerreichung durch die Deckelung der Leistungen der Pflegeversicherung und der fehlenden bzw. unvollständigen Dynamisierung der Leistungsbeträge angesichts der tatsächlichen Kostenentwicklung unvermeidlich eintretende zunehmende Belastung der Pflegebedürftigen (bzw. der Angehörigen und seit einigen Jahren wieder in steigendem Maße der Sozialhilfeträger, die über die „Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII als Ausfallbürge für die nicht zahlungsfähigen bedürftigen Heimbewohner fungieren müssen) mit den sogenannten „Eigenanteilen“ äußerst kritisch zu sehen.
Durch die Deckelung der Leistungen der Pflegeversicherung in Kombination mit der nicht praktizierten Dynamisierung ist es im Ergebnis zu einem erheblichen Realwertverlust der Leistungen gekommen, er vor allem in der stationären Pflege in Gestalt steigender „Eigenanteile“, also konzeptionell zumindest hinsichtlich der Pflegekosten nicht vorgesehener Zuzahlungen der Pflegebedürftigen.
Eine Kombination aus „(Wieder-)Vollversicherung“ und „Bürgerversicherung“
In dem Gutachten von Rothgang/Domhoff werden nicht nur die Aufwendungen und Effekte einer (Pflegekosten-)Vollversicherung berechnet, sondern auch Varianten, in denen zur Finanzierung alle Einkommen aller Bürger herangezogen werden.
➔ Auch im neuen Gutachten und in der medialen Diskussion wird immer von eine „Pflegevollversicherung“ gesprochen – man muss aber mit Blick auf die Wahrnehmung und Interpretation in der Bevölkerung darauf hinweisen, dass es sich um eine Vollversicherung hinsichtlich der pflegebedingten Kosten handeln würde, weiterhin müssen die Kosten der Unterkunft und Verpflegung sowie die Investitionskosten, für die es gesonderte Eigenanteile der Bewohner gibt, vollständig von den Pflegebedürftigen selbst gezahlt werden. Immer wieder muss man die Beobachtung machen, dass die Pflegeversicherung gleichgesetzt wird mit dem Vollleistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung, was aber hinsichtlich der Pflegebedürftigkeit – auch bei einer Pflegevollversicherung – nicht der Fall wäre.
»Das doppelte Finanzierungsproblem der Pflegeversicherung benötigt eine entsprechende doppelte Lösung: Eine effektive Begrenzung des Eigenanteils kann durch eine Vollversicherung gewährleistet werden wie sie vom Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung gefordert wird. Eine Vollversicherung erhöht aber – ceteris paribus – die Ausgaben der Pflegeversicherung, die auch ohne diesen Schritt bereits ein Finanzierungsproblem aufweist … Dem kann durch eine Bürgerversicherung entgegengewirkt werden, die eine Begrenzung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung bewirkt. Werden beide Reformelemente verknüpft, entsteht eine Pflegebürgervollversicherung.« (Rothgang/Domhoff 2025: 11).
Man muss genau lesen, was im Gutachten vorgeschlagen und mit Berechnungen versehen wird:
»Die Pflegebürgervollversicherung bezeichnet dabei den Ausbau der Sozialversicherung zu einer Vollversicherung für die pflegebedingten Kosten in Kombination mit einer Bürgerversicherung, die durch den Einbezug der gesamten Bevölkerung in die Sozialversicherung und die Verbeitragung aller Einkommensarten bis zu der Beitragsbemessungsgrenze, die bisher in der Rentenversicherung (West) gilt, gekennzeichnet ist. Dabei wird unterstellt, dass die Versicherungspflichtgrenze gemeinsam mit der Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird.«
Man sollte sich an dieser Stelle einmal verdeutlichen, was da vorgeschlagen wird. In der Abbildung sind die Beitragsbemessungsgrenzen (für die Kranken- und Pflegeversicherung und die höhere für die Renten- und Arbeitslosenversicherung; Stand 2025) sowie die Versicherungspflichtgrenze (die sich nicht direkt nach der Beitragsbemessungsgrenze für die GKV/sPV bemisst, sondern nach § 6 Abs. 6 SGB V berechnet wird und deren Überschreiten die Möglichkeit einer Absicherung in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung eröffnet) dargestellt:

Eine Beispielrechnung soll verdeutlichen, was die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der höheren Grenze in der Rentenversicherung ausmachen würde mit Blick auf den zu zahlenden Höchstbeitrag in der Pflegeversicherung (A):
Pflegeversicherung: Beispielrechnung zum Höchstbeitrag für einen Versicherten ohne Kinder, älter als 23 Jahre*: Der Beitragssatz in der sozialen Pflegeversicherung wurde zum 1. Januar 2025 auf 3,6 Prozent erhöht. Da der Pflegeversicherungsbeitrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte getragen wird, zahlen beide also ab 2025 jeweils 1,8 Prozent des Grundbetrags. Hinzu kommt allerdings der Beitragszuschlag in Höhe von 0,6 Prozent für Beschäftigte, die keine Kinder haben und 23 Jahre alt oder älter sind, insgesamt also 4,2 Prozent. Den Beitragszuschlag zahlen die Beschäftigten allein. Der oder die Beschäftigte zahlt also 2,4 Prozent (= 1,8 Prozent + Beitragszuschlag) von seinem Bruttolohn, der Arbeitgeber trägt 1,8 Prozent. ➔ Beitragssatz (kinderlose Versicherte): 4,2 Prozent x 5.512,50 Euro (Beitragsbemessungsgrenze 2025) = 231,50 Euro (Höchstbeitrag/Monat); davon trägt der oder die Beschäftigte 132,30 Euro pro Monat aus dem Bruttoentgelt, der Arbeitgeber 99,20 Euro. Wie würde das Ergebnis ausfallen, wenn die (niedrigere) Beitragsbemessungsgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung auf die (höhere) Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung angehoben werden würde? ➔ Beitragssatz (kinderlose Versicherte); 4,2 Prozent x 8.050 Euro (Beitragsbemessungsgrenze GRV/BA 2025) = 338,10 Euro (Höchstbeitrag/Monat), das wären 106,60 Euro pro Monat mehr als im derzeitigen System (+46 Prozent). *) Für Beschäftigte mit Kindern (bis 25 Jahre) beträgt der Anteil am Pflegeversicherungsbeitrag 2025 ➞ bei einem Kind: 1,8 Prozent (regulärer Beitragssatz, kein Abschlag, kein Zuschlag), ➞ bei 2 Kindern: 1,55 Prozent; ➞ bei 3 Kindern:1,3 Prozent, ➞ bei 4 Kindern: 1,05 Prozent; ➞ bei 5 oder mehr Kindern: 0,8 Prozent. Wenn alle Kinder 25 Jahre alt oder älter sind, gilt der reguläre Pflegeversicherungsbeitragssatz (wie für Eltern mit einem Kind) von 3,6 Prozent. Ein Beitragszuschlag fällt nicht an. |
Nun muss man berücksichtigen, dass sich diese Beispielrechnung „nur“ auf das zu verbeitragende Lohneinkommen bezieht. Die zweite Komponente in dem Modell (A) im Rothgang/Domhoff-Gutachten bezieht sich darüber hinausreichend auf das „alte“ Kernelement der Bürgerversicherungsdiskussion, nach der nicht nur das Einkommen aus einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit (bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze) herangezogen werden soll, sondern auch andere Einkünfte sofern vorhanden, also auch Kapital- und/oder Mieteinkünfte.
➔ Zu den problematischen Effekten einer auf den ersten Blick doch nachvollziehbaren Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage durch eine Einbeziehung der Kapitaleinkünfte vor allem im Zusammenspiel mit weiter bestehenden Beitragsbemessungsgrenzen vgl. ausführlicher die inweise in dem Beitrag Sozialabgaben auf Kapitalerträge – ein Schnellschuss im Wahlkampf und erwartbare Abwehrreflexe. Zugleich der Hinweis auf ein ganz großes Fragezeichen bei der Finanzierung der Sozialversicherung, der hier am 1. Februar 2025 veröffentlicht wurde.
Rothgang/Domhoff (2025: 36) bilanzieren optimistisch:
»Die Vollversicherung führt zu Mehrausgaben der Pflegeversicherung, die aber bei gleichzeitiger Einführung der Bürgerversicherung praktisch ohne Beitragssatzsteigerung finanziert werden können. Wie die Berechnungen zeigen, sind die durch die Bürgerversicherung generierten Mehreinnahmen auch langfristig ausreichend, um die Vollversicherung in der … Variante 1* zu finanzieren. Werden für den ambulanten Bereich noch weitere Leistungen vorgesehen, resultiert allerdings ein relevanter Beitragssatzanstieg.«
*) Die Variante 1 im Rothgang/Domhoff-Gutachten beinhaltet als Kernelement eine Begrenzung der Eigenanteile in der Heimpflege, aber auch zusätzliche Leistungen in der häuslichen Pflege, die den bislang durchschnittlich aufgebrachten Eigenanteilen entsprechen und zudem noch einen weiteren Betrag enthalten, der genutzt werden kann, um notwendige Fallsteuerungen zu finanzieren.
Aber natürlich – siehe die Beispielrechnung – resultieren ganz erhebliche Mehrbelastungen der Beitragszahler, die mit ihrem Einkommen im oberen Bereich liegen, also knapp unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze.
Und die Autoren verweisen auch darauf, dass das nach außen gerne kommunizierte Rechenergebnis, man könne erheblich höhere Ausgaben der Pflegeversicherung, die bei einer Begrenzung der Eigenanteile notwendigerweise anfallen müssen, auf Seiten des Beitragssatzes im Griff behalten, nur dann eintreten kann, wenn gleichzeitig drei Bürgerversicherungskomponenten umgesetzt werden können (S. 36):
»Die einzelnen Stellschrauben der Bürgerversicherung, nämlich die Einbeziehung der bisher Privatversicherten in die Sozialversicherung, der Einbezug weiterer Einkommensarten und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze führen jeweils für sich genommen zu einer Reduktion des ausgabendeckenden Beitragssatzes, und zwar in Höhe von je 0,3 Beitragssatzpunkten (Einbeziehung der bislang Privatversicherten, Verbeitragung aller Einkommensarten) bzw. 0,2 Beitragssatzpunkten (Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze) … Der größte Effekt von 0,7 Beitragssatzpunkten wird aber erzielt, wenn die drei genannten Reformelemente gemeinsam umgesetzt werden.«
Wenn, ja wenn (und selbst dann könnte man die Rechenergebnisse noch kritisch diskutieren hinsichtlich der Annahmen, die den Rechnungen zugrundegelegt wurden, das aber soll hier gar nicht weiter verfolgt werden).
… aber kann man wirklich mit einer „Bürgerversicherung“ und ihren Umverteilungspotenzialen kalkulieren?
Der eine oder andere wird sich an dieser Stelle daran erinnern, dass die seit vielen Jahren immer wieder vorgetragene Forderung nach Einführung einer „Bürgerversicherung“ bislang stets gescheitert ist an der damit verbundenen Zerschlagung der (im europäischen Vergleich übrigens seit 2006 einmaligen) Dualität im deutschen Kranken- und Pflegeversicherungsmarkt. Dieser Einwand ist den Autoren natürlich bekannt. Dazu schreiben Sie selbst einschränkend (S. 36):
»Während die Umsetzung der Vollversicherung konzeptionell einfach ist, gestaltet sich die Einführung einer Bürgerversicherung schwieriger. Denkbar ist eine schrittweise Einführung, etwa indem zunächst ab einem Stichtag eine umfassende Versicherungspflicht in der Sozialversicherung für alle neuen Versicherten verfügt wird, so dass die private Pflegepflichtversicherung ab diesem Zeitpunkt keine neuen Kunden mehr gewinnen kann. Der fiskalische Effekt entfaltet sich dann aber nur sehr langsam und ist zunächst vernachlässigbar gering. Bei einer solchen Umsetzungsstrategie ist die Bürgerversicherung daher als Maßnahme zur Gegenfinanzierung der Mehrkosten durch die Vollversicherung nicht geeignet. Das gilt auch, wenn etwa nur ein Teil der derzeit Privatversicherten in die SPV überführt wird, während ein ähnlich großer Teil in der PPV verbleibt.«
Das liest sich doch mehr als ernüchternd. Vor diesem Hintergrund steuern die Autoren auf ihr eigentliches Anliegen zu, wie man die erforderliche Umverteilung aus der (weiterhin bestehen bleibenden) privaten Pflegeversicherung in die soziale Pflegeversicherung organisieren kann:
»Eine andere Form der Umsetzung wäre als erster Schritt die Etablierung eines umfassenden Finanzausgleichs auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite. Analog den Regelungen im Gesundheitsfonds könnten die Versicherten dabei einkommensabhängige Beiträge in den Ausgleichsfonds abführen, während ihr Versicherungsträger im Gegenzug nach Alter und Geschlecht differenzierte standardisierte Leistungsausgaben erhält. Um die unterschiedlichen Pflegeprävalenzen der Privatversicherten zu berücksichtigen, wäre in der nächsten Ausbaustufe die Berücksichtigung weiterer Morbiditätsdaten vorzusehen – wie sie auch bei der Umwandlung des (alten) Risikostrukturausgleichs in der GKV zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich bestimmt wurden.« (Rothgang/Domhoff 2025: 36 f.)
Hier sind wir also angekommen im Kernbereich des Rothgang/Domhoff-Gutachtens. Man sieht die grundsätzlichen Probleme einer „echten“ Bürgerversicherungsreform im Sinne ihrer Realisierungsunwahrscheinlichkeit, also sucht man den „Ausweg“ in einer Art „Bypass-Strategie“ im Sinne einer Umleitung der Finanzmittel aus dem privaten Sonder- in das allgemeine Sozialversicherungssystem über einen Mechanismus, der aus der GKV-internen Umverteilung zum Ausgleich ungleicher Risikobelastungsprofile der gesetzlichen Krankenkassen bekannt und seit Jahren geübte Praxis ist („morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“).
➔ Dieser Vorschlag ist nun auch nicht neu. Bereits seit Jahren wird er mit Blick auf die Pflegeversicherung immer wieder vorgetragen. Um nur ein Beispiel aus der entsprechenden Literatur zu zitieren, sei hier zum auf den Beitrag von Dietmar Haun (2024): Finanzausgleich in der Pflegeversicherung weiter sinnvoll, in: Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft, Heft 2/2024, hingewiesen: »Ein Finanzausgleich im dualen System der gesetzlichen Pflegeversicherung aufgrund ungleicher Risiken und Kosten der Pflegeversicherten steht seit Jahren zur Debatte. Nach Analysen der privaten Krankenversicherung (PKV) wäre ein Finanzausgleich oder eine Bürgerversicherung aufgrund der fortschreitenden Alterung des Versichertenbestandes der privaten Pflegeversicherung mittlerweile finanziell nachteilig für die soziale Pflegeversicherung. Die empirischen Analysen des Beitrags bestätigen einen höheren Versichertenanteil der vulnerablen Altersgruppen im privaten Sektor. Dieser hat allerdings keine Auswirkungen auf die ungleichen Ausgaben- und Risikoprofile. Wesentliche Ursache hierfür ist der Selektionsprozess beim Zugang zur PKV. Ein Finanzausgleich ist daher weiterhin empirisch begründet.« Diese Argumentation muss gelesen werden vor dem Hintergrund von Beiträgen, die argumentieren, dass ein Finanzausgleich zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung der sozialen Pflegeversicherung kaum Entlastung bringen würde und sich sogar zu ihren Ungunsten entwickeln könnte, vgl. dazu stellvertretend den Beitrag von Thomas Neusius (2019): Pflegeversicherung – Ausgleich mit Privatversicherung hilft nicht, in: Wirtschaftsdienst, Heft 6/2019, S. 421–424. Neusius stellt genau auf den Aspekt ab, den Haun zu widerlegen bzw. entschärfen versucht: »Da der Anteil der versicherten Personen im pflegerelevanten Alter bei der privaten Pflegeversicherung in 15 Jahren deutlich höher ausfallen dürfte als in der sozialen Pflegeversicherung, könnte es trotz der um knapp 29 % niedrigeren Leistungsausgaben zu einer Situation kommen, in der die Leistungsausgaben der privaten Pflegeversicherung pro Versichertem über denen der sozialen Pflegeversicherung liegen. Bei Risikoteilung von privater und sozialer Pflegeversicherung würde dies zu einem Finanzausgleich der sozialen an die private Pflegeversicherung führen.« (S. 424). Interessant ist die durchaus vorsichtig daherkommende Einschätzung von Autoren, die explizit Befürworter einer Bürgerversicherung auch für die Pflegeversicherung sind: »Ergebnis einer ausgewogeneren Lastenverteilung – ob nun durch die Einführung einer Pflegebürgerversicherung … oder einen Finanzausgleich zwischen SPV und PPV – wäre eine spürbare finanzielle Entlastung in der sozialen Pflegeversicherung. Die vorgestellte Simulation zeigt allerdings auch, dass selbst bei einer sofortigen Einführung einer Pflegebürgerversicherung – was verfassungsrechtlich keineswegs risikolos ist–der Entlastungseffekt begrenzt ist.Wie sich der Transfer mit der fortschreitenden Alterung auch in der PPV weiterentwickelt, ist – unter Berücksichtigung der bestehenden Strukturunterschiede und Selektionseffekte – noch nicht abzusehen. Nichtsdestoweniger könnten die zusätzlichen Mittel kurz- bis mittelfristig eine wichtige Finanzierungsquelle für eine verbesserte Bezahlung von Pflegekräften und die Einstellung neuen Personals darstellen.« (Stefan Greß et al. (2019): Zur Stärkung der Solidarität bei der Pflegefinanzierung, in: Klaus Jacobs et al. (Hrsg.): Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher?, Berlin, S. 253).
Interessant mit Blick auf die langjährige Geschichte eines von einigen geforderten Finanzausgleichs ist der Aspekt, dass es die Forderung nach dem nun erneut vorgetragenen Ausgleich zwischen den beiden Zweigen des Pflegepflichtversicherungssystems schon mal in die auf dem Papier höchsten Ebenen der Politik geschafft hat – dann aber nicht mehr angerührt, geschweige denn umgesetzt wurde. Bereits im Koaltionsvertrag der ersten „GroKo“ von CDU/CSU und SPD aus dem Jahr 2005 findet man diesen Passus:
»Im Gegensatz zur Krankenversicherung haben gesetzliche und private Pflegeversicherung einen einheitlichen Leistungsumfang. Die Kalkulationsgrundlagen für die Beiträge der Versicherten und die Risikostrukturen sind jedoch unterschiedlich. Beide Versicherungssysteme sollen auch in Zukunft die Pflegeversicherung anbieten. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt. Der Kapitalstock wird dafür nicht angegriffen.« (CDU, CSU und SPD: Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, Berlin, 11. November 2005, S. 107).
Das war 2005. Der Fortschritt ist zuweilen offensichtlich eine mittlerweile verstorbene Schnecke.