Ungleichheit zwischen den Regionen: Die „Lebenserwartungslücke“ ist größer geworden

Im März 2025 fand der mittlerweile 30. Kongress Armut und Gesundheit an der Freien Universität Berlin statt. Der Kongress ist die Public Health-Veranstaltung in Deutschland. Auf dem diesjährigen Kongress unter der Überschrift „Gesundheit fördern, heißt Demokratie fördern“ wurden auch neue Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit aus dem Robert Koch-Institut (RKI) vorgestellt.

Dazu heißt es seitens des RKI: »Auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland hängen die Gesundheits- und Lebenschancen eng mit der sozialen Lage zusammen. Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status haben höhere Erkrankungsrisiken und versterben durchschnittlich früher als jene mit hohem sozioökonomischem Status. Die Datenlage zu dieser gesundheitlichen Ungleichheit hat sich über die letzten Jahrzehnte deutlich verbessert. Während es in den 1990er Jahren in Deutschland noch darum ging, die gesundheitliche Ungleichheit mit repräsentativen Daten nachzuweisen sowie in Art und Ausmaß zu beschreiben, stellen sich in der Gesundheits­bericht­erstattung heute stärker Fragen zu ihrer zeitlichen Entwicklung: Hat sich die gesundheitliche Ungleichheit über die letzten Jahrzehnte verringert oder weiter verstärkt?« Konkret wurde über die zeitliche Entwicklung der „Lebenserwartungslücke“ in Deutschland und das mit einem Fokus auf die Unterschiede zwischen den Regionen berichtet.

Im Rahmen des Kongresses wurde dieser Beitrag aus dem RKI präsentiert:

➔ Jens Hoebel et al. (2025): Die Lebenserwartungslücke: Sozioökonomische Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Deutschlands Regionen, in: Journal of Health Monitoring, 2025; 10(1): e13003

Zu dem Thema vgl. auch den Beitrag Was und wie viel hast Du (nicht) und wo wohnst Du (nicht)? Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Bei der Lebenserwartung. Und dabei mit einem besonderen Blick auf die regionale Ebene, der hier am 3. Mai 2024 veröffentlicht wurde. Und zu einem länderübergreifenden Vergleich der Entwicklung der Lebenserwartung mit für Deutschland beunruhigenden Befunden vgl. den Beitrag Geht „die“ Lebenserwartung zurück? Der Abstand der Lebenserwartung zwischen Deutschland und anderen Ländern in Westeuropa wird größer vom 17. Juni 2024.

In dem Beitrag werden Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Deutschlands wohlhabendsten und sozioökonomisch am stärksten deprivierten Regionen untersucht. Auch in einem wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik Deutschland haben Personen in sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen schlechtere Gesundheitschancen und höhere Krankheitsrisiken als Personen in sozioökonomisch bessergestellten Verhältnissen. Sozioökonomische Sterblichkeitsunterschiede innerhalb eines Landes lassen sich einerseits zwischen Personengruppen beobachten, z. B. zwischen Personen mit niedrigem
und hohem Einkommen. Anderseits lassen sie sich auch auf regionaler Ebene ausmachen, also zwischen den Bevölkerungen sozioökonomisch benachteiligter und wohlhabender Regionen eines Landes, so auch in Deutschland.

Für das Bundesgebiet zeigen Daten aus dem Jahr 2019, dass Frauen und Männer mit Wohnsitz im sozio-
ökonomisch am stärksten benachteiligten Fünftel der Regionen ein 33 % bzw. 43 % höheres Risiko haben, vorzeitig zu versterben, als Gleichaltrige im wohlhabendsten Fünftel der Regionen. Dies spiegelt sich in einer entsprechend kürzeren Lebenserwartung von Frauen und Männern in den benachteiligten Regionen wider.

Der zentrale Befund der Studie:

In der Periode 2020 bis 2022 lag die Lebenserwartung in Regionen mit der höchsten Deprivation für Frauen 4,3 Jahre und für Männer 7,2 Jahre niedriger als in Regionen mit der niedrigsten Deprivation. In der Periode 2003 bis 2005 betrug diese Lebenserwartungslücke noch 2,6 bzw. 5,7 Jahre. Die Ausweitung der Lebenserwartungslücke resultiert aus einer ungünstigeren Entwicklung der Lebenserwartung in den am stärksten deprivierten Regionen. Sie bestand bereits vor und verstärkte sich während der COVID-19-Pandemie.

Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen Befunde, nach denen sich die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat und die Gesundheits- und Lebenschancen zwischen den sozioökonomisch benachteiligten und wohlhabenden Regionen zunehmend auseinanderklaffen.

Was tun?

Es bleibt wie immer die Frage, ob und wenn, dann was man machen könnte bzw. sollte. Dazu führen Hoebel et al, (2025) aus:

»Maßnahmen, die vornehmlich auf das individuelle Verhalten abzielen und z. B. auf Informationsangebote oder Anreize zu gesundheitsförderlichem Verhalten setzen, dürften allein nicht geeignet sein, gesundheitliche Ungleichheiten nachhaltig zu verringern. Denn solche Maßnahmen erzielen in sozial benachteiligten Gruppen in der Regel keine oder nur kurzfristige Wirkung … Auch Präventionsangebote des Gesundheitssystems wie Früherkennungsuntersuchungen oder Bonusprogramme der gesetzlichen Krankenkassen sprechen eher Angehörige sozial bessergestellter Gruppen an und werden von diesen stärker in Anspruch genommen … Damit laufen solche Maßnahmen Gefahr, gesundheitliche Ungleichheiten zu verstärken statt sie zu verringern.«

Insofern muss man die Interventionsebene wechseln:

»Als wirksamer für die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit haben sich Maßnahmen erwiesen, die auf strukturelle Veränderungen in der Lebenswelt sozioökonomisch benachteiligter Menschen abzielen … Gemeint sind Rahmenbedingungen und lokale Verhältnisse, in denen Menschen aufwachsen, arbeiten, wohnen und alt werden. Neben gesetzlichen Rahmenbedingungen wie Regelungen zum Arbeits-, Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz, können dies zum Beispiel Setting- und Community-basierte Interventionen der Gesundheitsförderung und Prävention vor Ort oder auch fiskal- und sozialpolitische Maßnahmen auf gesellschaftlicher Ebene sein.«

Als ein  empirisches Beispiel mit Bezug zu regionalen Gesundheitsungleichheiten in Deutschland werden von den Autoren Erhöhungen von Sozialleistungen infolge der deutschen Wiedervereinigung genannt. Denn diese waren insbesondere in den sozioökonomisch schlechter gestellten Regionen im Osten Deutschlands mit Anstiegen der Lebenserwartung verbunden. Als Beleg für diese Behauptung wird die Studie von Simpson et al. (2024) angeführt:
➔ Julija Simpson et al. (2024): Closing the life expectancy gap: An ecological study of the factors associated with smaller regional health inequalities in post-reunification Germany, in: Social Science & Medicine 362 (2024) 117436.
Simpson et al. haben Daten der amtlichen nationalen Statistik für den Zeitraum 1994-2020 für 15 Regionen in Ost- und Westdeutschland verwendet. Mithilfe von Fixed-Effects-Modellen mit einem Interaktionsterm für die Regionen im Osten hat man untersucht, ob Veränderungen innerhalb der Regionen bei den unterstellten Schlüsselfaktoren (Ausgaben für soziale Sicherheit, Verbesserungen im Gesundheitswesen, Veränderungen beim Alkoholkonsum und Lebenszufriedenheit) unterschiedliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung bei der Geburt und im Alter von 65 Jahren gehabt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erhöhung der Sozialversicherungsleistungen im Osten nach der Wiedervereinigung der wichtigste Faktor für die Verringerung der Ungleichheiten zwischen den beiden Teilen Deutschlands war: Für jede 10prozentige Erhöhung der Sozialversicherungsleistungen stieg die Lebenserwartung bei der Geburt in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland um zusätzliche 1,05 [0,68; 1,41] Monate für Männer und um 0,57 [0,18; 0,97] Monate für Frauen. Der Schutzeffekt der Sozialversicherungsleistungen wurde auch für Frauen im Alter von 65 Jahren (zusätzliche 0,38 [0,06; 0,70] Monate), aber nicht für Männer gefunden. Simpson et al. schlussfolgern: »Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Erhöhung der Sozialversicherungsausgaben ein wirksames politisches Instrument zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten in Regionen mit unterschiedlichem wirtschaftlichem Entwicklungsstand sein könnte.«

Interventionen, die wirksame Maßnahmen auf mehreren Ebenen miteinander kombinieren (Gesellschaft, Community, Individuum), können für die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit besonders vielversprechend sein. Aber: »Komplexe Mehrebeneninterventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit stehen in Deutschland bislang noch aus.«

Möglicherweise kann man aus anderen Ländern lernen: Im Vereinigten Königreich oder Norwegen wurden bereits nationale Aktionsprogramme zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit entwickelt und implementiert. »Für die englische Strategie zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen 1999 und 2010 ließen sich tatsächlich Verringerungen der Sterblichkeitsungleichheiten zwischen Englands deprivierten und wohlhabenden Regionen nachweisen.« Aber seitdem sind nun auch schon einige Jahre ins Land gezogen. 

Letztendlich werden wir auch hier wieder mit einem grundsätzlichen Dilemma der Gesundheitspolitik konfrontiert: Interventionen auf der Ebene der Individuen, vor allem, wenn sie Verhaltensänderungen adressieren, scheitern nicht selten an der Widerständigkeit der Einzelnen, eine dauerhafte Verhaltensänderung auch zu realisieren oder diese realisieren zu können. Auf der anderen Ebene hingegen, also bei der Intervention und Gestaltung der Verhältnisse, handelt es sich um oftmals unwahrscheinlich zu realisierende Voraussetzungen wie eine „umfassenden und politikfeldübergreifenden Handlungsstrategie“, die man entwickeln müsste. Auch Hoebel et al. (2025) formulieren Anforderungen, die sich leichter schreiben als realisieren lassen: »Zudem sollten nicht nur viele politische Ressorts beteiligt sein, sondern eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Zivilgesellschaft. Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen sollten ebenfalls aktiv beteiligt werden, um ihre Belange und Perspektiven einzubeziehen und wirksame Maßnahmen entwickeln zu können.«

Hoffentlich stirbt die Hoffnung zuletzt.