Was und wie viel hast Du (nicht) und wo wohnst Du (nicht)? Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Bei der Lebenserwartung. Und dabei mit einem besonderen Blick auf die regionale Ebene

Ärmere Menschen sterben früher, teilweise Jahre früher als Menschen, die in wohlhabenden Verhältnissen leben können. Dass das so ist, wird seit langem nicht nur behauptet, sondern immer wieder auch mit Daten belegt. Und die Feststellung, dass es erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich gibt, ist sozialpolitisch von fundamentaler und zugleich höchst aktueller Bedeutung – man denke hier an das Narrativ, dass „wir“ alle älter werden und dann kann (und muss) man doch die Altersgrenze für den Rentenbezug ohne Abschläge für „uns“ alle über die derzeit schrittweise scharfgestellten 67 Jahre anheben. Also ein wenig länger arbeiten, weil „wir“ doch gleichzeitig auch länger leben.

In der Vergangenheit wurde in diesem Blog immer wieder versucht, den Finger auf die offene Wunde zu legen, dass eine differenzierte Betrachtung der Entwicklung „der“ Lebenserwartung zeigen kann, dass es eben nicht so einfach ist, wenn man sich die Streuung nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Personengruppen nach unterschiedlichen soziodemografischen Merkmalen anschaut. Wenn man das macht, dann kann man nur vor dem „wir“ leben länger und dann können „wir“ doch auch länger erwerbsarbeiten eindringlich warnen. Vgl. dazu mit Blick auf die derzeit mal wieder aktuell durchs Dorf getriebene Debatte über das gesetzliche Renteneintrittsalter beispielsweise den Beitrag „Wir“ werden (nicht alle) immer älter. Über den Zusammenhang von steigender Lebenserwartung, zunehmender Einkommensungleichheit schon vor der Rente und Altersarmut, der hier am 20. Juni 2019 veröffentlicht wurde.

Und nun tauchen solche Schlagzeilen auf: Arme sterben im Schnitt früher als Reiche – und die Kluft wächst oder Lebenserwartung in Deutschland: Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Der Grundtatbestand, also das erhebliche soziale Gefälle bei der Lebenserwartung, ist wie angedeutet seit langem bekannt. Gibt es dann etwas Neues, was über die Schlagzeilen transportiert werden soll, die sich alle auf eine neue Studie beziehen?

Da ist zum einen die Botschaft, dass die Kluft zwischen Unten und Oben in den vergangenen Jahren größer und nicht etwa kleiner geworden ist. Hinzu kommt, dass die Studie, auf die sich die Berichterstattung bezieht, die Lebenserwartungsunterschiede auf der räumlichen Ebene analysiert hat, generell und hinsichtlich der ärmeren und reicheren Menschen je nach Wohnlage und dann auch noch nicht nur zu einem Zeitpunkt, sondern in der Lage ist, die Entwicklung über einen längeren Zeitraum einzufangen.

Hier die Studie im Original:

➔  Fabian Tetzlaff et al. (2024): Age-specific and cause-specific mortality contributions to the socioeconomic gap in life expectancy in Germany, 2003–21: an ecological study, in: The Lancet Public Health, Vol. 9, 2024, Issue 5, e295-e305

Was haben die Wissenschaftler untersucht?

Menschen in sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen sterben international und für verschiedene Todesursachen früher, was zu einem erheblichen Unterschied in der Lebenserwartung zwischen sozioökonomischen Gruppen führt. In der Studie von Tetzlaff et a. (2024) wurde untersucht, wie sich die alters- und ursachenspezifischen Mortalitätsbeiträge zum sozioökonomischen Unterschied in der Lebenserwartung in Deutschland im Laufe der Zeit auf Gebietsebene verändert haben.

Die amtlichen deutschen Bevölkerungs- und Todesursachenstatistiken des Statistischen Bundesamtes für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2021 wurden mit Daten des regionalen Deprivationsindex auf Kreisebene verknüpft.

➔ Der German Index of Socioeconomic Deprivation (GISD) ist ein am Robert Koch-Institut entwickelter Index zur Erfassung regionaler sozioökonomischer Benachteiligung. Er wird verwendet, um regionale sozioökonomische Ungleichheiten in der Gesundheit sichtbar zu machen und Ansatzpunkte zur Erklärung regionaler Unterschiede in der Gesundheit aufzeigen zu können. Mit dem GISD wird es möglich, sozioökonomische Unterschiede in den Gesundheitschancen, Krankheits- und Sterberisiken in Deutschland auch dann zu untersuchen, wenn die betreffenden Gesundheitsdaten auf individueller Ebene keine Information zum sozioökonomischen Status enthalten. Für die Generierung des GISD werden Information der Bildungs-, Beschäftigungs- und Einkommenssituation in Kreisen und Gemeinden aus der Datenbank INKAR verwendet. Er wird auf der Ebene der Gemeinden generiert und wird für die Raumbezüge Gemeinden, Gemeindeverbände, Stadt- und Landkreise, Raumordnungsregionen, NUTS-2 und Postleitzahlbereiche bevölkerungsgewichtet aggregiert bereitgestellt. Die Gewichtung der Indikatoren wird über Hauptkomponentenanalysen innerhalb der Teildimensionen vorgenommen. Die aktuell verfügbaren Daten beziehen sich auf den Gebietsstand 31.12.2019 und enthalten Werte von 1998 bis 2019.

Man hat die Lebenserwartung nach Deprivationsquintil auf der Ebene der Stadt- und Landkreise berechnet und den Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem am stärksten und dem am wenigsten deprivierten Quintil (also den untersten und den obersten zwanzig Prozent) in altersspezifische und ursachenspezifische Mortalitätsbeiträge zerlegt.

Einige Ergebnisse der Studie

Während des Untersuchungszeitraums schwankte die Bevölkerungszahl zwischen 80 und 83 Millionen Menschen pro Jahr, wobei die Zahl der Sterbefälle in der gesamten deutschen Bevölkerung zwischen 818.000 und 1.024.000 lag. 

Zwischen dem 1. Januar 2003 und dem 31. Dezember 2019 vergrößerte sich der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem am stärksten und dem am wenigsten benachteiligten Quintil der Stadt-und Landkreise um 0,7 Jahre bei Frauen (von 1,1 auf 1,8 Jahre) und um 0,1 Jahre bei Männern (von 3,0 auf 3,1 Jahre). 

Danach, während der COVID-19-Pandemie, vergrößerte sich der Abstand noch schneller auf 2,2 Jahre bei den Frauen und 3,5 Jahre bei den Männern im Jahr 2021. 

Warum hat sich der Abstand der Lebenserwartung in den vergangenen 20 Jahren vergrößert?

Zwischen 2003 und 2021 trugen die Todesursachen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs am stärksten zu der Lücke in der Lebenserwartung bei, wobei der Beitrag der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei den über 70-Jährigen in diesem Zeitraum zurückging und der Beitrag der Todesfälle durch Krebs bei den 40- bis 74-Jährigen zunahm. Die COVID-19-Sterblichkeit bei Personen im Alter von 45 Jahren und älter trug am stärksten zum Anstieg der Lebenserwartungslücke nach dem Jahr 2019 bei.

Anders formuliert: Die Vergrößerung des Abstands der Lebenserwartung in den vergangenen Jahren geht laut Studie bis zum Jahr 2019 maßgeblich auf Entwicklungen der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs zurück, insbesondere Lungenkrebs. Demnach starben im Laufe der Zeit zwar insgesamt weniger Menschen an diesen Krankheiten, allerdings sank die Sterblichkeit bei Menschen aus benachteiligten Gebieten weniger stark als bei Menschen aus wohlhabenderen Gegenden. Nach 2019 spielte COVID-19 eine entscheidende Rolle, da die Sterblichkeit in sozial benachteiligten Regionen besonders hoch lag.

Wenn man das Fünftel der Stadt- und Landkreise in Deutschland, das sozioökonomisch am stärksten benachteiligt ist, mit dem Fünftel der Stadt- und Landkreise, dem es sozioökonomisch am besten geht, also die am wohlhabendsten sind, vergleicht, dann kommt man auf ausgeprägte Abstände bei der Lebenserwartung: Frauen im benachteiligten Fünftel der Region hatten ein etwa 33 Prozent erhöhtes Risiko, vorzeitig zu versterben als Frauen im wohlhabendsten Fünftel. Für Männern wird dieser Risikounterschied sogar mit 43 Prozent ausgewiesen.

➔  Welche Regionen gehören zu den „sozioökonomisch am stärksten benachteiligten“ Regionen? Diese Regionen finden sich überwiegend in den ländlichen Gebieten im Norden und Nordosten Deutschlands, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und in einigen Gebieten Brandenburgs, sowie in Küstennähe, in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. In Westdeutschland wird zudem das Ruhrgebiet und das Saarland hervorgehoben, also Regionen, die stark von wirtschaftlichem Strukturwandel betroffen waren und sind.

Tetzlaff et al. (2024) weisen darauf hin, dass es sich um die erste Studie aus Deutschland handelt, die die Entwicklung der sozioökonomischen Ungleichheiten in der Lebenserwartung auf Gebietsebene und den Beitrag der alters- und ursachenspezifischen Sterblichkeit zur Lebenserwartungslücke zwischen den Bewohnern der am wenigsten und der am stärksten benachteiligten Gebiete Deutschlands untersucht. Frühere Studien haben gezeigt, dass die sozioökonomischen Ungleichheiten bei der Lebenserwartung in Deutschland seit den 1990er Jahren erheblich zugenommen haben. Tetzlaff et al. zeigen darüber hinaus, welchen Anteil Alter und Todesursache an der zunehmenden Kluft zwischen den am stärksten und den am wenigsten benachteiligten Stadt- und Landkreisen bei der Gesamtsterblichkeit in Deutschland zwischen 2003 und 2021 gehabt haben.

Im Vergleich zu anderen Ländern mit hohem Einkommen (z. B. Frankreich, die Schweiz und Spanien für Frauen; Japan, die Schweiz, Spanien und das Vereinigte Königreich für Männer) wurden für Deutschland ungünstigere Sterblichkeitstrends bei Personen im Alter von 50 bis 79 Jahren, aber auch in den älteren Altersgruppen festgestellt. Fast die Hälfte des Unterschieds zwischen diesen Ländern und Deutschland wird durch die Sterblichkeit von Personen im Alter von 50 Jahren und älter erklärt. Der Studie für Deutschland kann man entnehmen, dass die sozioökonomische Kluft in der Lebenserwartung zunehmend durch sozioökonomische Ungleichheiten bei vorzeitigen Todesfällen vor dem Alter von 75 Jahren bestimmt wird, was ebenfalls zur Erklärung der derzeit stagnierenden Trends in der Lebenserwartung in Deutschland beitragen könnte.

Der Blick auf die Todesursachen: Von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs-Erkrankungen

Der starke Rückgang der Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist einer der wichtigsten Faktoren für den Anstieg der Gesamtlebenserwartung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland. Allerdings wurden für die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen große regionale und sozioökonomische Unterschiede in Bezug auf das Gesamtausmaß und das Tempo des Rückgangs berichtet. Tetzlaff et al. haben festgestellt, dass die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zwar immer noch am stärksten zu den sozioökonomischen Unterschieden in der Lebenserwartung beiträgt, ihr Anteil aber im Laufe der Zeit erheblich zurückgegangen ist.

Krebs ist zu einer der wichtigsten Krankheitsgruppen geworden, die die Kluft in der Lebenserwartung vergrößern. Ähnlich wie frühere Studien finden auch Tetzlaff et al. einen Rückgang der Sterblichkeit bei fast allen Krebsarten fest; allerdings profitierten nicht alle Quintile der sozioökonomischen Benachteiligung auf Gebietsebene gleichermaßen von diesem Trend, was zu einer Vergrößerung der sozioökonomischen Kluft bei der Sterblichkeit führte.

➔ Die stärkste Zunahme der Ungleichheiten wurde bei vermeidbaren (z. B. Lungenkrebs) und behandelbaren (z. B. Dickdarm- und Enddarmkrebs) Krebsarten festgestellt. Diese Entwicklungen könnten teilweise mit den Veränderungen im Rauchverhalten in den letzten 20-30 Jahren zusammenhängen, die in sozioökonomisch benachteiligten Gruppen und Regionen in Deutschland ungünstiger waren als in sozioökonomisch begünstigten Regionen.

In der Diskussion der Ergebnisse der Studie weisen die Autoren darauf hin, dass höhere Krebsbehandlungsraten in sozial begünstigten Gebieten zum Teil auf höhere Screening-Raten in diesen Gebieten zurückzuführen sein könnten.

Und COVID-19 darf nicht fehlen

Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs hat sich COVID-19 in den Jahren 2020 und 2021 als neuer Hauptfaktor für die sozioökonomische Sterblichkeitslücke erwiesen. Die Ergebnisse von Tetzlaff et al. zeigen, das Corona die Ausweitung der sozioökonomischen Ungleichheiten in der Lebenserwartung in Deutschland verschärft hat, insbesondere durch eine erhöhte Sterblichkeit bei den über 45-Jährigen. Aber auch: Neuere Analysen deuten darauf hin, dass sich die Ungleichheiten in der Lebenserwartung zwischen den Bundesländern im Jahr 2022 wieder verringert haben.

Fazit

Tetzlaff et al. haben festgestellt, dass sich die Kluft in der Lebenserwartung zwischen den Bewohnern der am stärksten und der am wenigsten benachteiligten Quintile der Stadt- und Landkreise in Deutschland vergrößert hat. Die häufigsten Todesursachen waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, wobei der Anteil der Krebssterblichkeit im Laufe der Zeit zunahm und der Anteil der Herz-Kreislauf-Erkrankungen abnahm. Die Heterogenität der Todesursachen, die zu den sozioökonomischen Unterschieden in der Lebenserwartung beitragen, hat seit Anfang der 2000er Jahre zugenommen, da Ursachen wie COPD, Diabetes und fortschreitende neurogenerative Erkrankungen (Demenz und Alzheimer) zunehmend an Bedeutung gewinnen. Aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit und der gesundheitlichen Chancengleichheit wurden in der Studie Stadt- und Landkreise ermittelt, in denen der größte Bedarf an verbesserter Krankheitsprävention und -bekämpfung besteht, um die sozioökonomische Kluft bei der Lebenserwartung zu verringern, vor allem bei der Krebsprävention und -behandlung.