Wer in Deutschland besser verdient, lebt länger und hat eine bessere psychische und physische Gesundheit. Das klingt für viele fast schon trivial und ist aus zahlreichen Veröffentlichungen (eigentlich) auch schon seit langem bekannt. die hier angesprochenen teilweise erheblichen Unterschiede bei „der“ Lebenserwartung sind von großer Bedeutung angesichts der regelmäßig, gerade auch aktuell mal wieder vorgetragenen Forderung, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter mit „der“ Lebenserwartungsentwicklung nach oben angehoben werden sollte. Für alle. Was nur auf den ersten Blick ein schlüssiges Konzept darstellt. Ein differenzierter Blick hingegen verdeutlicht schnell, dass damit erhebliche Umverteilungseffekte zuungunsten derjenigen „unten“ verbunden wären (vgl. dazu die zahlreichen Beiträge in diesem Blog, beispielsweise Was und wie viel hast Du (nicht) und wo wohnst Du (nicht)? Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Bei der Lebenserwartung. Und dabei mit einem besonderen Blick auf die regionale Ebene vom 3. Mai 2024).
Genauer hinzuschauen lohnt sich auch mit Blick auf die Aussage, wer in Deutschland besser verdient, lebt länger und hat eine bessere psychische und physische Gesundheit, denn: Bei Frauen zeigt sich der Zusammenhang nur beim Haushaltseinkommen. Wie hoch ihr individuelles Einkommen ist, scheint keine Rolle zu spielen, bei Männern hingegen schon.
Diese Aussage kann man einer neuen Veröffentlichung aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) entnehmen:
➔ Johannes Geyer et al. (2024): Höheres Haushaltseinkommen geht bei Frauen und Männern mit höherer Lebenserwartung einher, in: DIW Wochenbericht, Nr. 25/2024
Besser gebildete Menschen oder Menschen mit höherem Einkommen haben eine bessere Gesundheit und eine höhere Lebenserwartung. Diese bekannte These ist der Ausgangspunkt der Untersuchung.
In dem Beitrag von Geyer et al. (2024) »werden anhand aktueller Daten frühere Studien zu diesem Thema aktualisiert und gezeigt, dass dieser Zusammenhang unter Männern besonders stark ausgeprägt ist. Da Frauen aufgrund von Sorgearbeit häufiger ihre Karriere unterbrechen oder in Teilzeit arbeiten, gibt es kein klares Muster zwischen ihrem individuellen Einkommen und ihrer Lebenserwartung. Dieser Wochenbericht berücksichtigt daher das Haushaltseinkommen. Er zeigt: Menschen mit höheren Haushaltseinkommen haben ein geringeres Sterberisiko im Alter von 55 und 76 Jahren. Dies gilt für Männer wie für Frauen. Auch das Risiko für eine psychische oder physische Erkrankung ist deutlich geringer, wenn das Haushaltseinkommen hoch ist.«
Diese Befunde sind sozialpolitisch hoch relevant, denn: »Wenn Menschen mit niedrigen Renten, diese kürzere Zeit beziehen, weil sie systematisch früher sterben, widerspricht dies dem Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung. Es legt zudem eher mehr als weniger Umverteilung in der Rente nahe. Argumente gegen eine Aufwertung geringer Rentenansprüche gelten nur, wenn eine durchschnittliche Lebenserwartung angenommen wird, was hier empirisch widerlegt wird. Auch eine Reform bei der Kranken- und Pflegeversicherung könnte gesundheitsbezogene Einkommensungleichheit adressieren.«

„Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung führt dazu, dass Menschen mit niedrigen Einkommen von ihrem Einkommen relativ viel in die Rente einzahlen, aber wenig rausbekommen. Bei den Reichen ist es umgekehrt. Wir haben bei der Rente sozusagen eine Umverteilung von unten nach oben.“ (Johannes Geyer)
Geyer et al. (2024) haben berechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für unterschiedliche Einkommensgruppen ist, im Alter von 55 bis 76 Jahren zu sterben. Diese Berechnungen basieren auf Daten der Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) am DIW Berlin für die Jahre 1984 bis 2021.
Bei dem Fünftel der Frauen mit den geringsten Haushaltseinkommen liegt das Sterberisiko bei etwa neun Prozent, beim Fünftel mit den höchsten Haushaltseinkommen nur bei sieben Prozent. Bei Männern sind es etwa 21 Prozent bei Geringverdienern und ca. elf Prozent bei den Besserverdienern.
Bei Männern zeigt sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und Sterberisiko auch beim individuellen Einkommen, nicht jedoch bei Frauen. Das lässt sich auflösen: Die Lebenserwartung wird maßgeblich vom Lebensstandard der Menschen beeinflusst, entscheidend ist hier der Hinweis auf den Lebensstandard.
»Frauen haben durchschnittlich geringere individuelle Einkommen, können dabei jedoch häufig auf die Ressourcen ihres Partners zurückgreifen. Für sie ist daher das Haushaltseinkommen das bessere Maß, um ihren Lebensstandard zu messen«, so Geyer.
➔ »Es gibt unterschiedliche Gründe, warum das Sterberisiko mit steigenden Haushaltseinkommen zurückgeht. Menschen mit höheren Einkommen haben in der Regel Berufe mit geringerer psychischer und physischer Belastung, können sich eher einen gesunden Lebensstil leisten und haben oft aufgrund von besserer Bildung und höherem Einkommen Zugang zu mehr und besserer medizinischer Vorsorge und Betreuung. Alle diese Faktoren hängen eng miteinander zusammen und sind empirisch nur schwer zu trennen.«
Sozialpolitische Implikationen: Die umlagefinanzierte Rente und die Umverteilung
»Die Ungleichheit in der Sterbewahrscheinlichkeit, die mit dem Einkommen deutlich korreliert, hat einige Implikationen für das umlagefinanzierte deutsche Rentensystem. Grundsätzlich gilt das Äquivalenzprinzip: Vereinfacht ausgedrückt besagt dieses Prinzip, dass die erwarteten Rentenleistungen in einem proportionalen Verhältnis zu den gezahlten Beiträgen stehen sollen. Versicherte, die mehr und länger einzahlen, bekommen auch eine höhere Rente. Die Unterschiede in der Lebenserwartung gehen mit Verteilungswirkungen im Rentensystem einher. Die Rentenversicherung sichert das Risiko eines langen Lebens ohne Einkommen ab. Menschen für die der Versicherungsfall eintritt, erhalten also mehr Leistungen aus dem System als Menschen, die früh versterben. Deswegen wird im Prinzip in der Rentenversicherung immer zwischen Menschen mit hohem und niedrigem Sterbealter umverteilt. Das ist kein Fehler, sondern genau der Sinn einer Versicherung gegen das Langlebigkeitsrisiko.«
Aber man muss genauer hinschauen:
»Problematisch ist, dass die Lebenserwartung so stark mit dem Einkommen – auf dem die Rente wesentlich basiert – zusammenhängt. Im Durchschnitt beziehen Menschen mit hohen Erwerbseinkommen länger Rente als Menschen mit geringen Erwerbseinkommen. Dadurch wird im Rentensystem von Versicherten mit geringen Einkommen zu Versicherten mit hohen Einkommen umverteilt. Dieser Zusammenhang ist bei Männern besonders stark, da die Unterschiede in den Erwerbseinkommen höher sind und Einkommen stark mit Bildung zusammenhängen. Auch bei Frauen gibt es diesen Zusammenhang. Dieser erfolgt jedoch nicht über ihre eigenen Rentenansprüche, da heutige Rentnerinnen unabhängig von ihrer Bildung oft ihre Erwerbskarriere, in der Regel für Kindererziehung, unterbrochen haben und auf die Einkommen ihrer Partner und damit auf das Haushaltseinkommen angewiesen sind. Frauen mit hohen Haushaltseinkommen haben aber in der Regel auch höhere Ansprüche an die Hinterbliebenenrente und profitieren darüber länger vom Rentensystem.«
Welche Relevanz könnte das für zukünftige Rentenreformen haben?
Nun könnte man schlussfolgern, dass die offensichtlich mit dem individuellen und dem Haushaltseinkommen korrelierte unterschiedliche Lebenserwartung und daraus resultierend unterschiedliche Rentenbezugsdauern (die dann auch noch diejenigen mit höheren Einkommen auch auf der Seite der Leistungshöhe privilegieren) durch eine entsprechende Abbildung im Rentensystem kompensiert oder wenigstens abgemildert werden sollte. Aber:
»Eine individuelle Risikoadjustierung nach dem Einkommen würde die Frage aufwerfen, welche weiteren individuellen Merkmale in die Berechnung einfließen sollten.«
Die hier angesprochene Skepsis ist berechtigt. Geyer et al. (2024: 400) schlussfolgern wenn auch einschränkend dennoch:
»Die Ergebnisse können … dazu dienen die Diskussion über die Einhaltung des Äquivalenzprinzips besser zu fundieren. Denn häufig wird mit dem Äquivalenzprinzip gegen Umverteilungsmaßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung argumentiert. Bezieht man die hier vorgestellten Zusammenhänge zwischen Einkommen und Lebenserwartung ein, relativieren sich diese Einwände. Argumente gegen die Aufwertung geringer Rentenanwartschaften, um Altersarmut zu bekämpfen oder Lebensleistungen anzuerkennen, sind somit wenig überzeugend.«
Fazit: Die „Studienergebnisse sprechen für eine Aufwertung von niedrigen Rentenansprüchen, wie das etwa bei der Grundrente passiert“, so wird Johannes Geyer auch zitiert.
Eine gezielte(re) Aufwertung niedriger Rentenansprüche wird immer wieder diskutiert im Kontext der zunehmenden Altersarmut und vor allem mit Blick auf die zahlreichen (demnächst) Ruheständler, die beispielsweise in Ostdeutschland jetzt und in den kommenden Jahren in den Rentenbezug wechseln und von denen viele fast ausschließlich auf Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sein werden, weil bei ihnen kaum oder keine Betriebsrenten oder nennenswerte Beträge aus einer privaten Altersvorsorge ergänzend berücksichtigt werden können. Da werden dann sehr niedrige Ansprüche auf gesetzliche Rentenversicherungsleistungen auf eine aufgrund mangelnder oder fehlender Zweit- und Dritteinkommensquellen höchst vulnerable Personengruppe stoßen.