Bekanntes aus der Ungleichheitswelt: Arme müssen früher sterben – und mehr. Gesundheitliche und soziale Ungleichheit

Schon seit Jahrzehnten wird in der Fachdiskussion immer wieder darauf hingewiesen und mit Daten belegt, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und gesundheitlicher Ungleichheit gibt. Die damit verbundenen Fragen stehen im Mittelpunkt von Public Health- und medizinsoziologischen Ansätzen.

Markus M. Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat eine zusammenfassende Kurzstudie verfasst, mit dem Ziel, eine Beschreibung der gesundheitlichen Ungleichheit über den gesamten Lebensverlauf zu präsentieren. Er kann zeigen, dass gesundheitliche Ungleichheiten über den gesamten Lebensverlauf vorliegen und in bedeutender sozial differentieller Mortalität münden. Es wird auch der Frage nachgegangen, ob gesundheitliche Ungleichheiten über die Zeit abgenommen haben oder es zu einer weiteren Polarisierung gekommen ist.

Hier die Originalquelle für die Kurzstudie „Gesundheitliche Ungleichheit: Mehr als „Arme müssen früher sterben“?!“ von Markus M. Grabka:

➔ Markus M. Grabka (2024): Gesundheitliche Ungleichheit: Mehr als „Arme müssen früher sterben“?!, in: Die Linke Fraktionsvorsitzendenkonferenz (Hrsg.): Weil Du arm bist, musst Du früher sterben? Studie zur gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland und was jetzt zu tun ist, Potsdam, 2024, S. 8-20

Grabka greift gleich am Anfang eine abschließend nicht vollständig beantwortbare Grundfrage auf, mit dem man – verständlicherweise – immer konfrontiert wird, wenn der Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit behauptet und diskutiert wird: Sind schlechtere Gesundheitslagen beispielsweise von (einkommens)armen Menschen eine kausale Folge der (Einkommens)Armut, also bedingen die schlechteren Lebensbedingungen schlechtere gesundheitliche Lagen – oder ist nicht doch das individuelle Gesundheitsverhalten maßgebend für die Ausprägung dessen, was dann als Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit gemessen wird?

Diese immer mitschwingende bzw. offen vorgetragene Grundsatzfrage hat auch eine höchst problematische normative bzw. moralisierende Dimension – zum einen in Form der Behauptung, dass die Betroffenen letztendlich „selbst schuld“ sind an ihrer gesundheitlichen Lage, denn hätten sie sich nur entsprechend gesundheitsbewusst verhalten, dann würden sie auch nicht überdurchschnittlich betroffen sein von Krebs- oder Herz-/Kreislauferkrankungen. Zum anderen aber gibt es auch die ebenfalls unterkomplexe Behauptung, dass die Umstände bzw. hier: die schlechten Einkommensbedingungen für die gesundheitliche Ungleichheit verantwortlich sind, so dass man über eine „klassische“ materielle Umverteilungspolitik diese Ungleichheitsstruktur direkt adressieren und beseitigen könne.

Grabka bezieht sich auf ein Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit, das nach Andreas Mielck so schematisiert werden kann:

Das Modell veranschaulicht vier Diskussionsstränge: die Selektionsthese, die Kausationsthese, das Gesundheitsverhalten und Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung.

»Die Selektionsthese geht davon aus, dass sich der Gesundheitszustand auf die soziale Lage eines Menschen auswirkt … Vereinfacht gesprochen bedeutet dies, dass Krankheit zu Armut führt. Mit Eintritt einer Erkrankung oder Behinderung kann eine Person ihren Beruf nicht mehr ausüben, vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden und dadurch finanzielle Einbußen erleiden.
Im Gegensatz dazu geht die Kausationsthese davon aus, dass ein niedriger sozioökonomischer Status (zum Beispiel das Einkommen) die gesundheitliche Lage einer Person bedingt. Denn finanzielle Ressourcen beeinflussen den Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Wohn- und Arbeitsbedingungen, die Belastung durch Stress (beruflich und privat) und auch das Wissen über gesundheitsrelevantes Verhalten. Gesundheitliche Belastungen wie Stress ergeben sich in der Arbeitswelt zum Beispiel aufgrund von hohen Anforderungen, geringen Kontrollmöglichkeiten und beruflichen Gratifikationskrisen. Diese kommen bei einkommensschwachen Personengruppen häufiger vor. Im Ergebnis treten Erkrankungen bei Personen mit geringen materiellen Ressourcen früher beziehungsweise häufiger auf.
Unterschiede im Gesundheitsverhalten, zum Beispiel Rauchen, Ernährung, sportliche Inaktivität oder auch die Inanspruchnahme von Vorsorgeangeboten, beeinflussen die gesundheitliche Lage einer Person. Dabei kann beobachtet werden, dass unter anderem aufgrund von Sozialisation statusgruppenspezifisches Verhalten ausgebildet wird.
Das bedeutet, dass Personen aus bildungsfernen beziehungsweise einkommensschwachen Familien andere kulturelle Einflüsse erfahren als Personen aus bildungsaffinen beziehungsweise einkommensstarken Familien …
Als vierten Wirkmechanismus können Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung aufgezählt werden. Diese können sich sowohl durch Unterschiede im Zugang (Wartezeiten) und bei der Inanspruchnahme (finanzielle Zugangsbarrieren) als auch bei der Qualität (unter anderem Arzt-Patienten-Kommunikation, Verabreichung neuer Behandlungsmethoden) zeigen.« (Grabka 2024: 9; Hervorhebungen nicht im Original)

Es gibt mit Blick auf die Wirkungsstränge kein Entweder-Oder, sondern immer eine Mischung.

»Zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beim Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter zeigen sich Belege sowohl für die Selektions- als auch für die Kausationsthese. Im höheren Erwachsenenalter und insbesondere mit
dem Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand nimmt die Kausalität zu und wird zum dominierenden Faktor«, so Grabka.

Er behandelt dann gesundheitliche Ungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie im Erwachsenenalter und präsentiert dazu einige Befunde, die vor allem auf eine Stützung der Kausationsthese hinauslaufen.

Im Angesicht des früheren oder späteren Sterbens – wie auf der Titanic?

Grabka befasst sich dann ausführlich mit sozialdifferentiellen Unterschiede in der Mortalität. Er zitiert einführend das „Klassen-Beispiel“ anhand des Schiffsunglücks der Titanic im Jahr 1912:

»Von den 2.224 Menschen an Bord verstarben 1.514 (68 Prozent). Differenziert nach den auf dem damaligen Schiff vorhanden Klassen zeigen sich signifikante Unterschiede. Während in der ersten. Klasse „nur“ 38 Prozent der Passagiere zu Tode kamen, waren es in der zweiten Klasse 57 Prozent und in der dritten Klasse 74 Prozent.«

Unterschiede in der Mortalität nach sozialen Gruppen offenbaren sich aber auch ohne externe Ereignisse wie dem Schiffsunglück der Titanic. Zahlreiche Studien zeigen den stabilen Befund, dass das Sterberisiko in Abhängigkeit des Einkommens sehr ungleich ist. Und der Befund sozialer Unterschiede in der Lebenserwartung kann auch für Deutschland beschrieben werden. Grabka kommt zu dem Ergebnis, dass sich die bereits bestehenden Unterschiede in der ferneren Lebenserwartung zwischen Einkommensgruppen in den vergangenen 25 Jahren nochmals vergrößert haben.

Er thematisiert (angebliche oder tatsächliche) „erhebliche soziale Unterschiede im Zugang, der Inanspruchnahme und der Qualität von Versorgung zuungunsten niedriger Statusgruppen“.

Grabka (2024: 17) präsentiert uns das folgende Fazit:

»Danach gilt also nicht nur der bekannte Spruch „Wenn du arm bist, musst du früher sterben“, sondern bereits weit zuvor können gesundheitliche Nachteile für Personen mit geringen finanziellen Ressourcen beobachtet werden. Dies gilt sowohl für die physische und mentale Gesundheit als auch für das gesundheitsrelevante Verhalten sowie den Zugang, die Inanspruchnahme und die Qualität der Versorgung im Gesundheitssystem. Als zentralen Erklärungsfaktor für gesundheitliche Ungleichheit wird wiederholt in verschiedenen Studien die Kausation angeführt, wonach sich geringe materielle Ressourcen negativ auf die gesundheitliche Lage einer Person auswirken.«

Es handelt sich um die Zusammenfassung von ausgewählten Erkenntnissen aus der Ungleichheitsforschung, bei denen die Kausationsthese im Vordergrund steht (entweder als Ausgangspunkt oder als anzusteuernde Zielgröße), was der Autor aber auch offengelegt hat. Der Aspekt des Gesundheitsverhaltens wird nur mit einigen wenigen Zeilen abgehandelt, was möglicherweise auch mit den Auftraggebern der Kurzstudie und deren Verwertungsinteresse zu tun haben kann. So wird der flüchtige Hinweis auf das Gesundheitsverhalten als einer der Erklärungsansätze für gesundheitliche Ungleichheiten lediglich an einem Beispiel angesprochen, das zugleich als kontraproduktiv gebrandmarkt werden soll. Gemeint sind die „Bestrebungen einer stärkeren finanziellen Eigenbeteiligung, um Anreize für ein gesundheitsbewusstes Verhalten zu setzen“ und dann kommt als einzige Konkretisierung an dieser Stelle lediglich der Hinweis auf die „Erfahrungen mit der im Jahr 2004 eingeführten Praxisgebühr“, die als negativ für einkommensarme Menschen bilanziert werden. Vorher hat Grabka noch dafür plädiert, „möglichst frühzeitige Interventionen“ durchzuführen und die „Prävention“ zu stärken. Vieles davon läuft doch auf der Verhaltensebene ab.

Grabka weist selbst darauf hin, dass es Limitationen bei den Grundlagen dessen gibt, mit dem die Ungleichheit abgegrenzt wird: »Die vorliegenden Analysen haben einen Fokus auf gesundheitliche Ungleichheiten nach dem Einkommen gelegt. Neben dem laufenden Einkommen ist das private Vermögen die zentrale ökonomische Ressource. Deren Ungleichheit ist weitaus stärker ausgeprägt als die der Haushaltsnettoeinkommen … Daher verwundert es, dass es wenige Forschungsarbeiten zum Zusammenhang gesundheitlicher Ungleichheit und Vermögen gibt. Einer der wenigen Ausnahmen hierzu zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Vermögen stärker ausgeprägt ist als der von Einkommen und Gesundheit … Künftig sollte dieser Thematik eine größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.«

Ergänzend zur vielschichtigen Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und Gesundheit sei hier auf diesen Sammelband verwiesen, der bereits 2019 publiziert wurde und in dem man viele Aspekte, die von Grabka aufgegriffen werden, sowie der damit verbundenen Fragezeichen wiederfinden kann:

➔ Johannes Siegrist und Ursula M. Staudinger (Hrsg.) (2019): Gesundheitliche Ungleichheit im Lebensverlauf. Neue Forschungsergebnisse und ihre Bedeutung für die Prävention, Halle (Saale): Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, 2019