Die „Streikwelle“ ist vorbei? Aus der Welt der Arbeitskämpfe „unten“ und „oben“ auf der Schattenseite der öffentlichen Erregung

Was waren das für Wochen, als in diesem Land hochgradig erregt und nach wenigen Tagen am Rand eines hysterischen Nervenzusammenbruchs angekommen über Streiks und eine „Streikwelle“ berichtet, diskutiert und vor allem gestritten wurde. Wieder einmal war es der „Arbeiterführer“ Weselsky mit „seinen“ Lokführern gewesen, der das Land eine Zeit lang in Beschlag genommen hat. Wie nach dem Lehrbuch der Polit-Reflexe wurde sofort mit Hingabe über eine Begrenzung, Einschränkung bis hin zu einem Verbot von Streikaktionen in Bereichen der „kritischen Infrastruktur“ geraunt und entsprechende Maßnahmen wurden von interessierter Seite – nicht selten unter dem Applaus des entnervten Publikums – eingefordert.

Das war vor einigen Wochen – und jetzt? Ruhe im Schacht. Die Lokführergewerkschaft GDL hat sich mit den Boni-versorgten Führungskräften des Deutsche Bahn-Konzerns geeinigt und selbst die Lufthansa hat mehrere Tarif-Baustellen unter ihrem Dach abgeräumt, so dass die vielen Menschen, die es möglichst kostengünstig in die Ferne zieht, keine Angst mehr haben müssen, dass die Kerosin-Vögel am Boden festgenagelt werden. Alles gut in Deutschland. Oder?

Nein, zahlreiche Arbeitskämpfe laufen gerade oder werden vorbereitet, darunter durchaus in Bereichen, die zum Kernbereich der „kritischen Infrastruktur“ gehören. Nur bekommen davon viele Menschen schlichtweg nichts mit und/oder es berührt sie nicht so sehr wie ausfallende Zugverbindungen (die es dann aber auch ohne die Weselsky-Truppe in Verweigerungshaltung geben wird).

Dazu zwei Beispiele aus dem sowieso schon schwer in den Seilen hängenden Bereich der Krankenhäuser, an deren Finanzierung und Existenz derzeit eine politische OP am offenen Herzen ohne Narkose vorbereitet wird. Zugleich zeigen die beiden Beispiele, dass Arbeitskämpfe sehr wohl „oben“ und „unten“ geführt werden (können/müssen).

Planbare und nicht dringende Eingriffe wurden verschoben, ein Notdienst eingerichtet: Insgesamt 2.700 Ärzte von drei Charité-Standorten in Berlin wurden zum Warnstreik aufgerufen – und Hunderte folgten dem Aufruf der Gewerkschaft, so dieser Bericht: Hunderte Charité-Ärzte streiken für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. „Sparité“ und „Sparen bis kein Arzt kommt“, war auf Plakaten der warnstreikenden Ärzte und Ärztinnen zu lesen, die von der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund zu einer eintägigen Warnstreikaktion am 25. April 2024 aufgerufen waren. Von Seiten des Arbeitgebers, also der Charité, wurde sofort diese Mitteilung herausgegeben, die zugleich auf ein zentrales Dilemma von Streikaktionen in diesem Arbeitsfeld verweist: »Die Versorgung der geplanten Behandlungen hat reibungslos und unkompliziert geklappt. Planbare und nicht dringende Eingriffe wurden verschoben. Zeitkritische Tumoroperationen, Transplantationen, Operationen von Kindern, die Versorgung von Patientinnen und Patienten nach Schlaganfall, Herzinfarkten und anderen Notfällen sollten durchgeführt werden.«

Und um was geht es der Ärzte-Gewerkschaft? »In den Tarifverhandlungen mit der Charité fordert der Marburger Bund unter anderem eine Lohnsteigerung um 12,5 Prozent, eine Anhebung der Nachtzuschläge und die Einführung eines neuen Zuschlages für Arbeit in Randzeiten. In bislang drei Verhandlungsrunden versuchte die Gewerkschaft eigenen Angaben zufolge eine Einigung mit der Charité zu erreichen.« Und was bietet die Gegenseite? »“Das vorgelegte Angebot, von jeweils 2,3 Prozent lineare Entgelterhöhung für 2024 und 2025 sowie eine theoretische Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf einheitlich 40 Stunden, ist völlig unzureichend“, kritisierte die Gewerkschaft.«

Nun kann man durchaus anmerken, dass die Ärzte vom Einkommen und Status zum oberen Teil der pyramidalen Struktur des Gesundheitswesens gehören (was aber nicht bedeutet, dass die Forderungen der Gewerkschaftsfunktionäre deshalb übertrieben sind). Aber in mindestens doppelter Hinsicht sieht es unten, ganz unten in der Pyramide noch mit Abstand schlimmer aus: Nicht nur, was die Einkommenshöhe angeht, sondern vor allem auch, weil hier in der Vergangenheit von vielen Arbeitgebern am heftigsten geholzt wurde in Form einer Absenkung früher selbstverständlicher Tarife, in dem man ganze Beschäftigtengruppen auslagert aus dem über lange Zeiträume gewachsenen und erkämpften Haus der „normalen“ Tarifbindung und die Betroffenen dem „Markt“ übergeben hat, auf dem es nun gerade für die hier relevanten Beschäftigtengruppen nur deutlich schlechtere Bedingungen gibt als das, was früher noch selbstverständlich war. Auch dazu gibt es ein aktuelles Beispiel:

»Sie reinigen Operationssäle, begleiten Patienten von Station zu Station oder bringen Medikamente. Ausgelagerte Servicekräfte im Niedriglohnsektor fordern für diese Arbeit mehr Geld. Gestreikt wird … in Regensburg, Würzburg und Erlangen«, so diese Meldung aus Bayern: Streik von ausgelagerten Servicekräften an Uni-Kliniken. Tauchen wir ein in die (mindestens) Zwei-Klassen-Gesellschaft:

»Die Beschäftigten der Krankenhaus-Dienstleistungsgesellschaft mbH (KDL) am Universitätsklinikum Regensburg (UKR) fühlen sich ungerecht behandelt und fordern mehr Geld für ihre Arbeit. Sie reinigen Operationssäle, begleiten Patienten von einer Station auf die andere oder bringen zum Beispiel Medikamente in die Behandlungszimmer. Sie sind aber deutlich schlechter gestellt als ihre Kollegen, die direkt am UKR angestellt sind.«

➔ Wir sprechen hier über einen Bereich, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird: »Die Mitarbeiter des Klinik Service an der Uniklinik Erlangen gehen für eine bessere Bezahlung auf die Straße. Unterdessen bekommen vier Beschäftigte fristlose Kündigungen, ohne ersichtlichen Grund. Die Gewerkschaft spricht von „Einschüchterung“,« so Henry Lai in seinem Artikel Uniklinik Erlangen: Service-Mitarbeiter fühlen sich ausgebeutet. Die Servicegesellschaft ist eine Tochtergesellschaft der Uniklinik Erlangen. 2005 wurde sie gegründet und kümmert sich nach Angaben der Homepage der Klinik um Gebäudereinigung, Versorgungstätigkeiten und Schädlingsbekämpfung. Aktuell werden die Mitarbeiter nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für Gebäudereiniger bezahlt. Die Situation in Erlangen sei besonders, so die Gewerkschaft, denn: Hier sei die Kanzlei „Schreiner und Partner“ engagiert worden, Spezialisten für Arbeitsrecht und laut Verdi „berüchtigt“ dafür, „Beschäftigten ihre Rechte vorzuenthalten“. Und Erlangen steht nicht alleine – und zugleich gibt es durchaus Lichtblicke, denn: An den Unikliniken in Würzburg und Regensburg streiken die Servicekräfte ebenfalls für eine Eingliederung in den Tarifvertrag der Länder. An der Uniklinik in Augsburg sind die Mitarbeiter im Service bereits eingegliedert und auch in Nürnberg ist kürzlich eine Einigung erfolgt.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) hat die Beschäftigten nun zu unbefristeten Streikaktionen aufgerufen. »Das Ziel ist eine Angleichung der Löhne an die des Tarifvertrags der Länder (TV-L), der für einen Großteil der Beschäftigten an der Uniklinik gilt.«

Zurück zu den bayerischen Uni-Kliniken mit outgesourcten Niedriglohnbeschäftigten:

Zur Universitätsklinik Regensburg und den Beschäftigten der Krankenhaus-Dienstleistungsgesellschaft mbH (KDL) erfahren wir: »Aktuell werden die rund 300 KDL-Angestellten in Anlehnung an den Rahmentarifvertrag des Gebäudereiniger-Handwerks bezahlt. Die Einkommensunterschiede betragen laut Verdi teils einige Hundert Euro. Sie seien vor allem bei Mitarbeitenden mit langer Dienstzeit hoch, denn ein Lohnanstieg nach Erfahrungsstufen wie im Tarifvertrag der Länder gebe es nicht.«

Das wird an einem Beispielfall konkretisiert: »Als Beispiel nennt Verdi eine Vollzeitkraft in der Intensivreinigung (Reinigungsarbeiten auf der Intensivstation) mit 24 Jahren Berufserfahrung. Nach dem Tarifvertrag des Gebäudereiniger-Handwerks bekommt sie als Basisvergütung dauerhaft monatlich rund 2.400 Euro brutto. Nach dem TV-L könnten es der Gewerkschaft zufolge je nach Eingruppierung bis zu 2.915 Euro sein. Durch die Erhöhung der Tabellenentgelte im Öffentlichen Dienst der Länder zum November 2024 und zum Februar 2025 würde die Lücke demnach noch größer.«

Und nicht überraschend: »Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld oder eine Inflationsausgleichsprämie gibt es für die KDL-Beschäftigten nach Aussagen von Verdi nicht – auch keine betriebliche Altersvorsorge. Teilweise seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf weitere Jobs angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.«

»Die KDL ist eine 51-prozentige Tochter des Universitätsklinikums, 49 Prozent an der Gesellschaft hält die Regensburger Unternehmensgruppe Götz. Die Angestellten – darunter viele Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund – arbeiten größtenteils in der Reinigung, im Hol- und Bringdienst für zum Beispiel Arzneien oder Blutkonserven, im Patientenbegleitdienst, in der Spülküche und im Speisentransport.«

Und was sagt die Uni-Klinik dazu?

Die KDL-Beschäftigten werden doch nach geltenden Tarifverträgen bezahlt und: »eine deutliche Lohnanhebung sei aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich.« Fertig und aus.

An fünf Tagen hatten bereits Warnstreikaktionen stattgefunden, ohne Erfolg. Nun also der nächste Schritt. In einer Urabstimmung sprach sich im April eine große Mehrheit der Beschäftigten für eine unbefristete Arbeitsniederlegung aus.

»Ein … Auslagerungsmodell mit Niedriglöhnen kommt nicht nur in Regensburg zum Tragen. Nach Gewerkschaftsangaben habe man auch an den Universitätskliniken Erlangen und Würzburg Tarifverhandlungen zu den ausgelagerten Service-GmbHs gefordert. So ruft die Gewerkschaft Verdi auch die Beschäftigten der UKW Service GmbH, einer Tochtergesellschaft des Uniklinikums Würzburg für Dienstleistungen wie Reinigung, Service und Patientendienste, ab Donnerstag für mehrere Tage zum Streik auf. Gleiches gilt für die Uniklinik in Erlangen. Hier sind die Beschäftigten der Klinik Service GmbH (KSG) aufgerufen, für fünf Tage in den Warnstreik zu treten. Zuvor hätten sich 81,1 Prozent bei einer Urabstimmung in der KSG für die Aufnahme eines sogenannten Erzwingungsstreiks ausgesprochen … Die Arbeitgeberseite verweigere weiterhin Tarifverhandlungen und habe das Ultimatum der in der Gewerkschaft Verdi organisierten Beschäftigten ungenützt verstreichen lassen.«

Das ist nur ein Auszug aus den aktuellen und vielgestaltigen Arbeitskämpfen. Nur finden die eben nicht statt auf einer derart in das Schweinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückten Bühne, wie das bei der überaus schlagkräftigen Lokführer-Truppe oder anderen Flaschenhals-Berufen mit einer enormen Betroffenheitswirkung in der breiten Bevölkerung der Fall ist.

Und wir sprechen hier über Bereiche, in denen es die Gewerkschaften sehr schwer haben, in ausreichender Größenordnung und dann auch entsprechend konfliktbereite Mitglieder aufzubieten, die bei den Arbeitgebern hinsichtlich einer Androhung bzw. Realisierung eines Arbeitskampfes Eindruck machen können. Man schaue zu den strukturellen Problemen und den daraus resultierenden Dilemmata beispielsweise auf den schon seit einer gefühlten Ewigkeit laufenden Tarifkonflikt im Einzelhandel oder möglicherweise die anstehenden Streiks bzw. Streikversuche in der Bauwirtschaft, nachdem die Arbeitgeber dort sich verweigert haben.