Jenseits von „Le Streik, c’est moi!“: Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die Frage nach ihrer „Gegnerunabhängigkeit“

Längst ist die nur noch als Eintagsfliegerei zu bezeichnende mediale Berichterstattung zu den nächsten aktuellen Baustellen weitergezogen, nachdem für einen dieser kurzen Momente lang sämtliche noch vorhandenen und funktionsfähigen Scheinwerfer auf die (vorerst) letzte Streikaktion der wilden Lokführer-Gewerkschaft GDL gerichtet waren – eine Spartengewerkschaft, die übrigens nicht unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) segelt, sondern Unterschlupf beim Deutschen Beamtenbund (dbb beamtenbund und tarifunion) gefunden hat.

Nun haben wir in den vergangenen Jahren schon einige Streikaktionen der Lokführer erlebt – aber bislang noch nie in diesem Umfang im Hinblick auf zusammenhängende Streiktage: Der ursprünglich auf sechs Tage angelegte Ausstand wurde am Montagmorgen, 29. Januar 2024, einen Tag früher als geplant, beendet. Die GDL und die Deutsche Bahn verhandeln seit Anfang November 2023. Mit jeweils zwei Warnstreiks im Spätherbst 2023 und zwei Streiks im neuen Jahr hat die Lokführergewerkschaft seither insgesamt vier Mal den Fern-, Regional- und Güterverkehr in weiten Teilen lahmgelegt.

Die Reaktionen auf die vorerst letzte Streikaktion der GDL im Januar 2024 waren nicht von Überraschungen geprägt, sondern bewegen sich in einem erwartbaren Rahmen: Zum einen wurde der Unmut der betroffenen Bahnkunden aufgegriffen und mit Blick auf den Güterverkehr wurden die Folgeschäden in der Wirtschaft thematisiert (so platzierte das arbeitgebernahe Institut der Wirtschaft am Vorabend des Streiks diese Botschaft zu den Auswirkungen des Streiks im Güterverkehr, die von vielen Medien aufgegriffen wurde: „Erfahrungswerte von früheren Streiks sprechen in diesem Fall für Schäden von bis zu 100 Millionen Euro – pro Tag.“ Wobei mit „in diesem Fall“ gemeint ist: „Richtig teuer wird es, wenn die Betriebe nicht produzieren, beispielsweise weil Rohstoffe fehlen.“ Außerdem wird darauf hingewiesen: „Wie hoch die Kosten für Deutschland sind, lässt sich aber kaum beziffern.“ Vgl. Thomas Puls: Der nächste Bahnstreik: Eine weitere Belastung für die Industrie, 09.01.2024). Und nicht lange auf sich warten ließ die Forderung nach einer Einschränkung des Streikrechts im Bereich der „kritischen Infrastruktur“, beispielsweise durch die Implementierung eines verpflichtenden Schlichtungsverfahrens in Tarifverhandlungen.

Und ebenfalls erwartbar war in diesem Fall der Griff in die Schublade Personalisierung, hier also alles rund um die Figur des kurz vor dem Abgang in den Ruhestand stehenden GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky. In nicht wenigen Medienberichten wurde die Botschaft formuliert, der Mann wolle sich mit seinem „Streik-Furor“ ein Denkmal setzen als ganz harter Hund. In einer Karikatur wurde er in Klamotten aus Zeiten Ludwig des XIV. gezeigt, überschrieben mit „Le Streik, c’est moi!“ (eine Abwandlung der Aussage „L’État, c’est moi!“ des französischen Königs Ludwig XIV., der auch als „Sonnengott“ in die Geschichte eingegangen ist). Das Bild ist klar: Ein Mann habe aus (niederen) persönlichen Motiven Millionen Bahnkunden in Streikhaft genommen.

Aber die angesprochene Personalisierung muss man auch auf der anderen Seite zur Kenntnis nehmen, dort das Bild des letzten noch richtigen Arbeiterführers vor Augen. Vgl. dazu als ein Beispiel den Beitrag Bester Mann von Minh Schredle: »Manche Medien halten den Gewerkschaftsboss für den Teufel in Menschengestalt – vielleicht weil er trotz übelster Verleumdungen nie eingeknickt ist. In Stuttgart demonstrierte Claus Weselsky, warum er ein Vorbild für den Arbeitskampf ist.« Der Beitrag kommt zu dem Schluss: »Allen Unterbezahlten und zu wenig Wertgeschätzten wäre ein Interessenvertreter wie Claus Weselsky zu wünschen.«

Wie dem auch sei – seit Montag, dem 5. Februar 2024, verhandeln sie wieder, die GDL und die Deutsche Bahn, bis zum 3. März 2024 sollen die Tarifgespräche laufen.

Wann auch immer es einen wie auch immer gearteten Kompromiss geben wird – möglicherweise wird die GDL in Zukunft das Problem bekommen, dass sie gar keine Tarifverträge mehr abschließen kann und dass auch die Wirksamkeit der Verträge, die bereits abgeschlossen wurden, in Frage gestellt werden muss. Wie das?

Das knappe Gut Lokführer weiter verknappen – und den Preis für sie nach oben treiben? Ein gewagtes Experiment

Inmitten des Tarifkonflikts mit der Gewerkschaft GDL hat die Deutsche Bahn rechtliche Schritte gegen die Lokführergewerkschaft eingeleitet. Die Bahn wolle gerichtlich klären lassen, ob die GDL überhaupt Tarifverträge abschließen darf, so ein Konzernsprecher. Eine entsprechende Feststellungsklage sei beim Hessischen Landesarbeitsgericht eingereicht worden.

»Hintergrund ist demnach, dass die Gewerkschaft eine Art Leiharbeitsfirma für Lokführer, die Genossenschaft Fair Train, gegründet und mit dieser einen Tarifvertrag abgeschlossen hat. Fair Train erhielt nach eigenen Angaben im vergangenen September von der zuständigen Behörde eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung und sucht seitdem nach Lokführern, um diese „im gesamten Bundesgebiet“ an „namhafte Kunden“ zu überlassen«, so diese Meldung: Deutsche Bahn klagt gegen GDL. »Für diese Lokführer trat Fair Train in Tarifverhandlungen mit der GDL und schloss im Oktober einen Tarifvertrag. Plan ist es, abgeworbene Lokführer künftig als Leiharbeiter bei der Bahn und anderen Bahnunternehmen zu beschäftigen.«

Blicken wir kurz zurück in das Jahr 2023: Die Gewerkschaft gründet eine Leiharbeiter-Genossenschaft

»Die GDL will den DB-Konzern mit einer Zeitarbeitsfirma unter Druck setzen: Eine Gewerkschafts-Tochter soll selbst Lokführer an Bahnunternehmen verleihen. Ein kühner Plan ohne Erfolgsgarantie«, so Detlev Landmesser in seinem am 6. Juni 2023 veröffentlichten Beitrag Warum die GDL künftig Lokführer ausleihen will. »Dafür hat sie bereits die Genossenschaft „Fair Train e.G.“ gegründet, die mittelfristig Lokführer zu besseren Bedingungen anstellen und diese dann an Bahn-Unternehmen verleihen soll.«

An der Fair Train e.G. können nur GDL-Mitglieder Genossenschaftsanteile erwerben. Die Gewerkschaft würde mit dieser „bahnbrechenden Idee für den Eisenbahnmarkt“ indirekt selbst zum Arbeitgeber werden. Das sei eine „Kampfansage“ an die Deutsche Bahn«, so wurde der GDL-Chef Weselsky zitiert. Er begründete den Plan vor allem damit, dass Eisenbahnberufe angesichts des Personal- und Fachkräftemangels zwingend attraktiver gemacht werden müssten. „Ziel der Genossenschaft ist es, fachlich qualifizierte Lokomotivführer zur Verfügung zu stellen und die daraus resultierenden Gewinne den Genossenschaftsmitgliedern selbst zufließen zu lassen, anstatt zuzuschauen, wie sich die Vorstände der DB AG die Taschen füllen“.

Landmesser gab im Sommer 2023 diese erste Einschätzung ab: »Ob der kühne Plan aufgeht, bleibt derweil völlig offen. Entscheidend für den Erfolg des Modells wird sein, ob es der neuen Genossenschaft gelingt, genügend eigene Lokführer zu gewinnen. Diese müssten auf ihre relativ sicheren Jobs bei der DB und anderen Bahnen verzichten und bereit sein, sich auf das Wagnis eines neuartigen Geschäftsmodells einzulassen.«

Im vergangenen Jahr haben viele mit dem Kopf geschüttelt angesichts dieses ambitionierten Vorstoßes einer Gewerkschaft. Auch deshalb, weil die meisten das gewöhnliche Geschäftsmodell der Leiharbeit vor Augen hatten, auf das auch Landmesser hingewiesen hat: »Das Modell der Leiharbeit fußt nicht zuletzt darauf, dass Arbeitgeber den ihnen „überlassenen“ Beschäftigten oftmals geringere Löhne zahlen als ihrer Stammbelegschaft – und sie flexibel einsetzen können.«

➔ Dieses bekannte Grundmodell wurde parallel im vergangenen Jahr auch noch höchstrichterlich legitimiert: »Tarifverträge mit niedrigeren Löhnen in der Zeitarbeitsbranche widersprechen nicht geltendem EU-Recht. Das hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt entschieden. Geklagt hatte eine Leiharbeiterin, die den Grundsatz der Gleichstellung verletzt sah«, so diese Meldung vom 31.05.2023: Tarifverträge in der Leiharbeit sind wirksam. Der Europäische Gerichtshof hatte im Dezember 2022 entschieden, dass Leiharbeiter nur dann schlechter bezahlt werden dürfen, wenn diese Ungleichbehandlung im Tarifvertrag ausgeglichen wird – etwa durch zusätzliche Freizeit (vgl. dazu den Beitrag Die Leiharbeit mal wieder vor dem EuGH: Niedrigere Löhne per Tarifvertrag sind in Ordnung, dafür soll es aber an anderer Stelle einen Ausgleich geben müssen vom 18.12.2022). Der EuGH hatte den Sachverhalt wieder zurück an das BAG verwiesen. Und die haben mit Bezug auf den geforderten „Ausgleich“ festgestellt: »Ein solcher Ausgleich ist nach Ansicht der obersten deutschen Arbeitsrichter der gesetzliche Anspruch auf die Fortzahlung von Entgelt in entleihfreien Zeiten. Die Vergütung in einsatzfreien Zeiten sei staatlich festgesetzt, der Ausgleich müsse daher auch nicht durch den Tarifvertrag erfolgen.«

Der Ansatz mit einer eigenen Leiharbeiter-Gnossenschaft ist hingegen anders gelagert: Für die GDL ist eine Überlassung der Arbeitnehmer unter dem Tarifniveau der Genossenschaft, das per se bereits über dem der Bahn liegen soll, kaum denkbar: „Da wir auch als Genossenschaft profitabel wirtschaften müssen und uns natürlich an die von uns noch abzuschließenden und geschlossenen Tarifverträge halten müssen, ist eine Überlassung zu solchen Konditionen ausgeschlossen“, wird ein GDL-Gewerkschaftssprecher zitiert.

Der strategische Ansatzpunkt des Vorhabens ist durchaus nachvollziehbar: Bereits heute klagt nicht nur die Deutsche Bahn über einen Fachkräftemangel – auch und zunehmend die vielen mehr oder weniger im Vergleich kleinen privaten Eisenbahnunternehmen. Im Jahr 2022 gab es laut Bundesagentur für Arbeit 37.140 sozialversicherungspflichtig beschäftigte „Fahrzeugführer im Eisenbahnverkehr“ (bei einem Männeranteil von 95 Prozent kann man die männliche Form gut begründet alleine stehen lassen). 22 Prozent davon waren im Alter von 55 Jahren und älter, die werden also demnächst altersbedingt ausscheiden. In den vergangenen Jahren hat es einen Zuwachs an Lokführern gegeben und in den kommenden Jahren ist ein weiterer Zusatzbedarf zu erwarten, der neben dem Ersatzbedarf gedeckt werden muss. Was sich immer schwieriger darstellt. Und dieser mittlerweile eklatante vorhandene Mangel an Lokführern soll mit dem „Fair Train“-Konzept gleichsam potenziert werden: Auf der einen Seite sollen der Deutschen Bahn dort tätige Lokführer entzogen werden, in dem diese in die Genossenschaft wechseln, um die dann sofort wieder an den ehemaligen Arbeitgeber zu verleihen. Offensichtlich setzt man darauf, dass die Not des Mangels die DB dazu treiben wird, dieses für sie ungünstige Geschäft einzugehen.

Wenn linke Leiharbeitskritiker ein gewerkschaftliches Leiharbeitskollektiv in Pastellfarben malen

Die im vergangenen Jahr erfolgte Gründung der „Fair Train“-Genossenschaft hat bei vielen Kopfschütteln ausgelöst. Aber es gibt auch Zustimmung, die gerade in diesen Tagen des heftigen Arbeitskonflikts zwischen GDL und DB vorgetragen wird. So von einem bekannten Kritiker der Leiharbeit, dem Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler. In ihrem Beitrag Der Kampf um den Arbeitskampf zitiert Eva Roth Däubler mit den Worten, es sei »völlig eindeutig, dass die Genossenschaft die Tariffähigkeit der GDL und damit ihr Streikrecht nicht gefährdet«. Eine – wie wir noch sehen werden – erstaunlich optimistische Beurteilung der Problematik, die vor diesen Ausführungen von Eva Roth so zusammengefasst wurde:

»Die GDL hat die Genossenschaft Fair Train gegründet, die Lokführer als Zeitarbeiter an Bahnunternehmen ausleihen will. Die Deutsche Bahn geht nun davon aus, dass die Gewerkschaft durch die Genossenschaftsgründung ihre Tariffähigkeit verloren hat. Beim hessischen Landesarbeitsgericht hat sie im Januar deshalb eine Feststellungsklage eingereicht. »Wird die Auffassung der DB vom Gericht bestätigt, dann kann die GDL keine wirksamen Tarifverträge mehr schließen«, heißt es in einer DB-Mitteilung. Die GDL dürfe dann auch nicht mehr streiken, weil das legitime Streikziel, nämlich der Abschluss eines Tarifvertrags, nicht umsetzbar wäre. Die Bahn begründet ihre Position unter anderem damit, dass die Gewerkschaft nun gleichzeitig als Arbeitgeber auftrete.«

Wie kommt Däubler zu seiner Einschätzung? »Auch andere Gewerkschaften hätten Unternehmen gegründet, früher habe es den großen gemeinwirtschaftlichen Sektor gegeben und »kein Mensch sagte, dass sie deswegen nicht mehr tariffähig sind«, betont Däubler, der häufig Gewerkschaften juristisch berät. Auch sei die Genossenschaft so konstruiert, dass sie ihrerseits einen eigenen Willen bilde und deshalb nicht von der GDL abhängig sei. Sie könne also mit dieser auch Tarifverträge schließen.«

Und er scheint sogar begeistert zu sein von diesem Ansatz: »Generell sei die Genossenschafts-Idee sehr interessant. »Das ist ein Weg, wie die GDL bessere Arbeitsbedingungen für Lokführer erreichen kann.« Vor allem für jüngere Beschäftigte, die noch keine großen sozialen Absicherungen bei der Bahn haben, sei die Geno eine gute Alternative, so Däubler.«

Wie immer im Leben – so einfach ist es nicht. Argumente dafür, dass der GDL mit der „Fair Trans“-Genossenschaft die „Gegnerunabhängigkeit“ abhanden kommt

Die Entwicklung der Fair Train-Genossenschaft ist seit ihrer Gründung im Sommer 2023 durchaus dynamisch verlaufen. Am 20.09.2023 hat die Fair Train mitgeteilt: Agentur für Arbeit erteilt Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung. Und am gleichen Tag wurde dann diese Mitteilung nachgeschoben: Tarifverhandlungen mit der GDL gestartet. Das ging schnell, weil bereits im Vorfeld der offiziellen Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung Hand angelegt wurde: »In bisher vier Verhandlungsrunden wurden weitestgehend inhaltliche Einigungen erzielt … Direkt nach Unterzeichnung des Tarifvertrages werden wir über die inhaltlichen Aspekte detailliert informieren.« Nur kurze Zeit später, am 18.10.2023, konnte dann Vollzug gemeldet werden: Tarifverträge unterschrieben: »Die Fair Train e. G. hat den Haustarifvertrag und den Tarifvertrag über die gemeinsame Einrichtung der Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Gewährung von Sozialleistungen nach erfolgreichen Verhandlungen mit der GDL unterschrieben.« Und das neue Jahr beginnt mit dieser Werbung: Wir brauchen Dich in unserem Team!: »Fair Train e.G., die junge Genossenschaft der Lokomotivführer ist startklar! Wir suchen daher baldmöglichst im gesamten Bundesgebiet Triebfahrzeugführer (m/w/d) zur Überlassung an unsere namhaften Kunden in Deutschland.« Jetzt muss man erst einmal die zukünftigen Leiharbeitskräfte finden.

Was spricht nun dafür, dass die GDL mit der „Fair Train“-Genossenschaft möglicherweise den Bogen überspannt hat und am Ende mit heruntergezogenen Hosen das tarifpolitische Spielfeld verlassen könnte? Denn genau das wird nun im Verlauf der Feststellungsklage der DB vor der Arbeitsgerichtsbarkeit geprüft werden müssen.

Dazu dieser Beitrag:

➔ Richard Giesen (2024): Gegnerabhängige GDL, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Heft 1/2024, S. 25-28

Richard Giesen ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und geschäftsführender Direktor des dortigen Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR).
Giesen verwendet in seinem Beitrag den Namen „Fair train“, was aber nicht zutreffend ist. Es muss „Fair Train e.G.“ heißen.

Auch er geht kurz auf die möglichen Motive ein, die zur Gründung einer Leiharbeiter-Genossenschaft geführt haben, was ja begründungsbedürftig ist: »Leiharbeitsplätze sind oft schlecht bezahlt und unsicherer als diejenigen der Stammbelegschaft … Allerdings gibt es auch Konstellationen, in denen zumindest die Bezahlung der Leiharbeitnehmer höher ist, nämlich dann, wenn der Entleiher dringend Arbeitskräfte benötigt. In solchen Fällen wird der Verleiher höhere Preise aufrufen, und auch die Leiharbeitnehmer profitieren dann oft – zumindest kurzfristig – von durchaus ansehnlichen Vergütungen.« Viele werden an dieser Stelle sofort an einen anderen Mangelbereich denken – die Pflege und die dort praktizierte Leiharbeit (vgl. dazu bereits aus dem Jahr 2020 dieser Beitrag: Aus der mal nicht eindeutigen Welt der Leiharbeit. In der Pflege. Oder: Wenn ausnahmsweise Arbeitgeber vor Leiharbeitern geschützt werden sollen). Die Fair Train will ihre Leiharbeitnehmer bei den Lokführern insbesondere der DB rekrutieren: »Da bei der DB bekanntlich mehrere zehntausend Beschäftigte fehlen, soll sie unter dem Druck dieses – mit den Kündigungen noch weiter erhöhten – Arbeitskräftemangels die betreffenden Personen zu den von der Fair train diktierten Bedingungen entleihen.2 Dies soll es der Fair train als Verleiherin ermöglichen, erhöhte Entgelte zu zahlen und möglicherweise noch Unternehmererlöse zu erzielen.«

Jetzt wird es etwas komplizierter, denn als eine weitere Randbedingung in diesem Spiel muss eine Besonderheit berücksichtigt werden: die Folgen des Tarifeinheitsgesetzes von 2015.

➔ Das Tarifeinheitsgesetz (TEG): »Der Grundsatz der Tarifeinheit ist seit dem Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes (TEG) im Juli 2015 gesetzlich verankert. Das TEG regelt Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge. § 4a Abs. 2 S. 2 TVG sieht den Grundsatz der Tarifeinheit nach einem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip vor. Überschneiden sich die Geltungsbereiche von nicht inhaltsgleichen Tarifverträgen konkurrierender Gewerkschaften in zeitlicher, räumlicher, fachlicher und persönlicher Hinsicht, liegt eine auflösungsbedürftige Tarifkollision vor. Die Tarifkollision führt dazu, dass nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft Anwendung findet, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder zum Zeitpunkt des Abschlusses des kollidierenden Tarifvertrags hat. Kollidieren die Tarifverträge zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser maßgeblich. Der Betriebsbegriff, der für die Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse zugrunde zu legen ist, ist tarifrechtlich zu bestimmen. Zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse ist ein gerichtliches Beschlussverfahren auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags vorzunehmen«, so eine der zusammenfassenden Beschreibungen. Das Gesetz sagt ausdrücklich nicht, dass nur die Gewerkschaft, die die meisten Mitglieder vertritt, überhaupt mit dem Arbeitgeber verhandeln und streiken darf. Eva Roth hat in ihrem Beitrag Der Kampf um den Arbeitskampf darauf hingewiesen, dass die von der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) durchgesetzte Gesetzesänderung von 2015 gegen Berufsgewerkschaften wie die GDL gerichtet war. Damals ging es darum, den Einfluss und die Streikfähigkeit von kleineren Berufsgewerkschaften wie GDL, Marburger Bund und Cockpit zu beschneiden.

Nun wurde das Streikrecht durch des TEG nicht direkt beschnitten. Aber: »Der erhoffte Hebel: Eine Gewerkschaft wie die GDL darf künftig nur noch in Betrieben streiken, in denen sie eine Mehrheit hat. Denn in anderen Betrieben kann sie sowieso nichts ausrichten, weil ihre Tarifverträge dort nicht gelten. Ein Arbeitskampf würde daher als unzulässig qualifiziert. Bei der Deutschen Bahn (DB) gelten derzeit in 18 von 300 sogenannten Wahlbetrieben GDL-Tarifverträge, weil die Gewerkschaft nach Auffassung des Unternehmens dort mehr Mitglieder hat als die konkurrierende EVG. Wenn sie nur dort Beschäftigte zum Ausstand aufrufen dürfte, wie durch das Gesetz intendiert, wären bundesweite Streiks mit massiven Auswirkungen wie der aktuelle unmöglich.« Aber diese Hoffnung hat das Bundesverfassungsgericht 2017 zerstört: Gewerkschaften wie die GDL dürfen auch in Betrieben zum Streik aufrufen, in denen sie in der Minderheit sind (vgl. dazu den hier am 11.07.2017 veröffentlichten Beitrag Ein „weitgehend“ grundgesetzkonformes Tarifeinheitsgesetz. Aber geht das überhaupt – ziemlich schwanger, aber nicht ganz? Und wer muss das ausbaden?). Im Ergebnis »hat das Gesetz bei der Bahn dazu geführt, dass sich die Auseinandersetzungen verschärft haben«, so Wolfgang Däubler.

Die Deutsche Bahn als Sonderfall: Das TEG hat bei der DB das Gegenteil dessen bewirkt, was es bezweckt hat. »Ein Grund: Die Bahn hat darauf bestanden zu eruieren, wo die GDL und wo die EVG die Mehrheit hat und nur die jeweiligen Tarifverträge angewendet werden. Das führt dazu, dass viele GDL-Mitglieder in der Minderheit bleiben und deshalb die GDL-Tarife für sie nicht gelten – das schafft Empörung.«

➞ »Wobei es auch anders geht: In Kliniken vertritt der Marburger Bund Ärzte, Verdi vereinbart Tarifverträge für alle Beschäftigten. Beide haben abgemacht, dass sie sich nicht ins Gehege kommen. Konkret haben sie sich verpflichtet, nicht feststellen zu lassen, wer in welchem Betrieb die Mehrheit hat. In Tarifverträgen verpflichten sie auch die Arbeitgeber, dies zu unterlassen. So gelten für Marburger-Bund-Mitglieder die Tarifverträge ihrer Gewerkschaft, egal, in welchem Krankenhaus sie arbeiten.«

Wieder zurück zu der Argumentation von Richard Giesen, warum die Genossenschaftsgründung zu einer „gegnerabhängigen GDL“ geführt habe:

Mit Hilfe des Verleihs von (GDL-)Lokführern an ihren dann ehemaligen Arbeitgeber DB »können vor allem diejenigen DB-Beschäftigten, die Mitglied der GDL (und nicht der Mehrheitsgewerkschaft EVG) sind, ihre wirtschaftliche Lage – zumindest kurzfristig – verbessern. Ein DB-Arbeitnehmer, der Mitglied der GDL und nicht der EVG ist, erhält nämlich in denjenigen DB-Betrieben, in denen die GDL Minderheitsgewerkschaft ist, nicht die Leistungen nach dem GDL-Tarif (dieser ist nach § 4a II 2 TVG nicht anzuwenden) und auch nicht nach dem EVG-Tarif (dieser kommt mangels einschlägiger Tarifbindung des Arbeitnehmers nach § 3 I TVG nicht zur Anwendung). Sofern er aber als Leiharbeitnehmer der DB überlassen wird, gilt gem. § 8 I AÜG der Grundsatz des „Equal Pay“: Danach ist der Verleiher verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer während der Überlassung die beim Entleiher für einen vergleichbaren Arbeitnehmer geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen zu gewähren … Außerdem bleibt es bei allen Lokführern, die aus dem DB- Konzern ausgeschieden sind und dann innerhalb von sechs Monaten an Unternehmen des DB- Konzerns überlassen werden, nach § 8 III AÜG ausnahmslos beim „Equal Pay“.«

»Die Fair train wird deshalb als Verleiherin von der Entleiherin DB mindestens eine Entleihgebühr erhalten müssen, die ausreicht, um das „Equal Pay“ zu gewähren. Mit anderen Worten: Die Konstruktion der Kündigung durch den Arbeitnehmer bei der DB und seines späteren Einsatzes bei ihr als Leiharbeitnehmer führt dazu, ihm auch dann die EVG-Vergütung zu sichern, wenn er Mitglied der GDL ist.«

Das aber setzt voraus, dass bislang bei der DB beschäftigte Lokführer dort kündigen und in die Leiharbeits-Genossenschaft eintreten – was nicht ohne Risiko ist: »Sie treten in ein Leiharbeitsunternehmen ein, das außer den Genossenschaftsbeiträgen über keine Betriebsmittel verfügt. Deshalb droht ihnen im Fall des Zusammenbruchs des beschriebenen Geschäftsmodells die betriebsbedingte Kündigung.«

Warum fordert die GDL trotz dieses Risikos ihre Mitglieder auf, den beschriebenen Weg eines Wechsels zu Fair Train zu gehen? Giesen stellt hier folgende – mögliche – Erklärungsansätze zur Diskussion:

»Erstens hat die Fair train möglicherweise genügend Rücklagen, um auch über kürzere Durstphasen die Vergütung zu zahlen. Zweitens können sich die Fair train-Beschäftigten, wenn alle Stricke reißen und sie ihren Fair train-Arbeitsplatz verlieren, ja wieder auf ihre alten Arbeitsplätze bewerben. Und drittens vertraut die Fair train offenbar darauf, dass sich die DB aufgrund des bei GDL-Tarifverhandlungen aufkommenden Einigungsdrucks entscheiden wird, mit ihr zu kooperieren.«

Wobei doch eine solche (Zwangs-)Kooperation nicht Gegenstand von Tarifverhandlungen sein darf, wird der eine oder andere einwenden. Dazu Giesen: Es sei »für die GDL nichts neues, bei Tarifverhandlungen Forderungen zu erheben, von denen sie weiß, dass sie nicht tarifvertraglich regelbare Inhalte betreffen. So hat sie bei den Tarifverhandlungen im Jahr 2021 einen zweiteiligen Forderungskatalog vorgelegt, bei dem für Teil I „Arbeitskämpfe“ in Aussicht gestellt wurden, während Teil II „auf dem Verhandlungswege“ durchgesetzt werden sollte; es war klar, dass ein Nachgeben bei Teil II ebenfalls helfen konnte, den Arbeitskampf zu beenden.«

Aber man kann es drehen und wenden wie man will – auch die Leiharbeiter-Genossenschaft der GDL wird mit den klassischen unternehmerischen Risiken eines Leiharbeitsunternehmens konfrontiert sein.

Vor dem Hintergrund des Geschäftsmodells der Fair Train lassen sich einige Tarifforderungen der GDL im Konflikt mit der DB leicht nachvollziehen, so Giesen: Die GDL »verlangt die Einführung einer 35-Stunden-Woche; dies wird dazu führen, dass der somit gesteigerte Fachkräftemangel der DB die Nachfrage bei der Fair train garantiert. Und die GDL fordert zudem eine Verkürzung der arbeitnehmerseitigen Kündigungsfristen, um es den Beschäftigten zu ermöglichen, zügig zur Fair train wechseln zu können.«

Was spricht nun für eine mangelnde Gegnerunabhängigkeit und daraus resultierend eine fehlende Tariffähigkeit der GDL im Kern?

Da wäre der Aspekt, dass auf Arbeitgeberseite und Gewerkschaftsseite dieselben Personen agieren. GDL-Mitglieder verhandeln mit GDL-Mitgliedern über ihre tariflichen Arbeitsbedingungen. Also statt der tariflich zwingenden Gegnerfreiheit hier Personenidentität. Dies könnte im Extremfall der gesamten Gewerkschaft GDL ihre tarifrechtliche Grundlage entziehen, so bereits Marc Werner in dem am 6. Juni 2023 veröffentlichten Interview „Mit­g­lieder sollen Arbeits­ver­hält­nisse kün­digen“. Für Giesen »ist klar, dass hinsichtlich der GDL vor allem die Gegnerfreiheit und die Unabhängigkeit infrage stehen. Er bezieht sich auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG): »Entscheidend ist, dass die Gegnerunabhängigkeit „nicht im formalen, sondern im materiellen Sinn zu verstehen“ ist. Sie fehlt, „wenn die Abhängigkeit vom sozialen Gegenspieler in der Struktur der Arbeitnehmervereinigung angelegt und verstetigt und die eigenständige Interessenwahrnehmung der Tarifvertragspartei durch personelle Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft gefährdet ist.“«

»Daraus, dass die GDL mit der Fair train Tarifverträge schließt, ergibt sich deutlich das Fehlen ihrer Gegnerunabhängigkeit. Die Fair train ist sowohl personell und finanziell als auch hinsichtlich der Ausrichtung ihrer Tarifverträge der GDL zuzuordnen und umgekehrt.«

➔ »Die personellen und organisatorischen Verflechtungen sind eindeutig: Einer der Gründer der Fair train ist der GDL-Vorsitzende; der Aufsichtsvorsitzende der Fair train ist zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender der GDL. Die Genossenschaft ist ausschließlich für GDL-Mitglieder offen. Nach Aussage des GDL-Vorsitzenden Claus Weselsky ist die Fair train „von der GDL gegründet“; Weselsky spricht wiederholt ausdrücklich „im Namen der Fair train eG“ … Zudem wird die Fair train in den Verlautbarungen der GDL als „unsere Genossenschaft“ angesprochen. Da die Verantwortlichen auf beiden Seiten identisch sind, konnte Claus Weselsky bereits vor Beginn der Tarifverhandlungen von Fair train und GDL ankündigen, wann diese erfolgreich zu einem Ende geführt werden würden.«

Auch die Tarifforderungen der GDL gegen die Fair Train zeugen von wechselseitiger Abhängigkeit. »Insbesondere vermeidet … (die Fair Train) die Vereinbarung der von der GDL bei der DB geforderten 35-Stunden-Woche. Das würde dem Konzept zuwiderlaufen, nach welchem bei der DB die Fachkräfte verknappt werden sollen.«

Giesen bilanziert: Aufgrund der Gründung des Leiharbeitsunternehmens Fair Train fehlt es der GDL an der Gegnerunabhängigkeit. »Beide Organisationen sind eng personell, finanziell und organisatorisch verflochten; ihr organisationspolitisches und wirtschaftliches Vorgehen ist streng orchestriert. Die hierin angelegten Verflechtungen sind struktureller Natur und auf Dauer angelegt.«

Insofern überrascht die Schlussfolgerung von Giesen nicht: »Mangels Tariffähigkeit ist die GDL demnach außerstande, wirksame Tarifverträge zu schließen und rechtmäßige Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen.« Diese Bewertung kommt nun genau so sicher daher wie die gegenteilige Einschätzung von Wolfgang Däubler.

Also werden wir den Gang des Themas durch den arbeitsgerichtlichen Instanzenzug abwarten müssen.

Vielleicht erübrigt sich das aber auch mangels Masse, also wenn die bislang bei der DB festangestellten Lokführer nicht bereit sind, ihrer GDL auch bei diesem Thema so zu folgen wie bei diversen Arbeitsniederlegungen. Viele Beschäftigte werden sicher keinen Lust haben, eine höchst risikobehaftete Abenteuerreise bei der eigenen Gewerkschaft zu buchen.