»Sanktionen in der Grundsicherung, also die vorübergehende Absenkung der finanziellen Leistungen für Grundsicherungsbeziehende, sind ein kontrovers diskutiertes Instrument. Die Befunde einer IAB-Befragung zeigen, dass auf der einen Seite Sanktionen eine relativ breite gesellschaftliche Akzeptanz genießen. Auf der anderen Seite sollte das Existenzminimum nach fast einhelliger Auffassung der Befragten unangetastet bleiben«, so Matthias Collischon et al. in ihrem Beitrag Eine Mehrheit in der Bevölkerung befürwortet Sanktionen mit Augenmaß. Angesichts der wieder einmal eskalierenden und zu gesetzgeberischen Aktivitäten führenden Debatte über die Sanktionierung von erwerbsfähigen Leistungsbeziehern im Grundsicherungsstem ist das ein interessanter Aspekt aus der Forschung. Aber wie kommen die Wissenschaftler zu dieser Einschätzung der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung?
Es wird auf die kontroverse politische Debatte über das Für und Wider von Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) abgestellt, die im Vorfeld des Wechsels von Hartz IV zum „Bürgergeld“ im Kontext eines im Juli 2022 eingeführten Sanktionsmoratoriums, das bis zur Einführung des Bürgergelds zum 1. Januar 2023 in Kraft war, geführt wurde. Befürworter und Gegner von Leistungsminderungen standen sich gegenüber.
Auch in der Bevölkerung und unter den Leistungsempfängern selbst sind die Meinungen dazu „uneinheitlich“, so Collischon et al. (2023). »Dies zeigt eine webbasierte Umfrage, die im Herbst 2022 – also wenige Monate nach Einführung des Sanktionsmoratoriums – im Rahmen des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) durchgeführt wurde. Dabei wurden auch Fragen zu verschiedenen Aspekten von Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende gestellt. Die Befragung richtete sich sowohl an Personen in Haushalten, die zum Zeitpunkt der Befragung Arbeitslosengeld II (ALG II) bezogen haben, als auch an solche, die keine Leistungen bezogen haben. Dies ermöglicht ein differenziertes Bild zur Einstellung der Bevölkerung beim Thema Sanktionen.«
➔ Datenbasis und methodisches Vorgehen: Um die Einstellungen zu Sanktionen zu untersuchen, wurden Daten des Websurveys aus der Welle 16 des Panels Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS) ausgewertet. Dabei handelt sich um eine jährliche Panelbefragung der Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren. Für das Websurvey wurden alle Befragten der Haupterhebung eingeladen, einen kurzen Onlinefragebogen auszufüllen, der ihnen im Herbst nach der Haupterhebung im Jahr 2022 zugesandt wurde. Im Sommer 2022 wurden Fragen zu Sanktionen im Grundsicherungsbezug neu entwickelt. Konkret wurden die Befragten danach gefragt, ob sie grundsätzlich der Meinung sind, dass es möglich sein sollte, bei Pflichtverletzungen Leistungskürzungen zu verhängen und ob sie bestimmten, im Text beschriebenen Aussagen zu Sanktionen zustimmen oder nicht. Zudem wurden sie gefragt, ob ihnen das im Juli 2022 in Kraft getretene Sanktionsmoratorium bekannt ist. Die Daten, über die von Collischon et al. berichtet wird, stammen also aus dem Herbst 2022.
Die Mehrheit der Befragten befürwortet Kürzungen des ALG II bei Pflichtverletzungen:
»75 Prozent der Personen ohne aktuellen ALG-II-Bezug stimmen dieser Aussage zu, mehr als 11 Prozent stimmen nicht zu und gut 13 Prozent haben dazu keine Meinung. Unter denen, die ALG II beziehen, fällt die Zustimmung mit rund 43 Prozent zwar deutlich geringer aus. Dennoch befürwortet auch unter ihnen eine relative Mehrheit etwaige Kürzungen. Rund 29 Prozent lehnen diese ab, etwa 28 Prozent haben dazu keine Meinung.«
Allerdings gibt es Altersunterschiede hinsichtlich der Zustimmung bzw. Ablehnung von Leistungskürzungen seitens der Befragten:
➞ »Unter den Personen ohne ALG-II-Bezug stimmen bei den Älteren (über 50 Jahre) rund 82 Prozent zu. Bei den jüngeren Altersgruppen (bis zu 30 Jahre und 31 bis 50 Jahre) sind es weniger als 70 Prozent.«
➞ »Unter den ALG-II-Beziehenden hingegen ist die Zustimmung der bis zu 30-Jährigen mit 26 Prozent mehr als 20 Prozentpunkte niedriger als in den höheren Altersgruppen … Anders als für die beiden anderen Altersgruppen findet sich unter den bis zu 30-jährigen ALG-II-Beziehenden keine relative Mehrheit, die sich für die Möglichkeit von Pflichtverletzungen ausspricht.«
➔ »Dass 29 Prozent der ALG-II-Beziehenden laut Befragung die Kürzungen ablehnen, weicht stark von den Befunden einer 2022 publizierten Studie von Fabian Beckmann und anderen ab. Hierfür waren erwerbsfähige Leistungsberechtigte in acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen befragt worden. Dabei hatten sich über 50 Prozent der Leistungsberechtigten für einen Verzicht auf Sanktionen ausgesprochen. Die etwas abweichende Fragestellung („Fänden Sie den grundsätzlichen Verzicht auf Sanktionen gut oder schlecht?“) und andere Antwortmöglichkeiten, aber auch die Tatsache, dass hier Zahlen für Deutschland insgesamt erhoben wurden, könnten die unterschiedlichen Ergebnisse zumindest teilweise erklären.«
Interessant sind auch diese Antworten und die Unterschiede in den beiden Gruppen:
➞ „Wer Leistungen vom Staat erhält, sollte auch etwas dafür tun.” Etwas weniger als 89 Prozent der Befragten ohne und rund 77 Prozent der Befragten mit ALG-II-Bezug stimmen dieser Aussage zu.
➞ „Wenn Sanktionen abgeschafft werden, werden mehr ALG-II-Beziehende ihre Pflichten gegenüber dem Jobcenter vernachlässigen.” Mehr als 81 Prozent der Befragten ohne ALG-II-Bezug stimmen dieser Aussage zu, aber nur rund 47 Prozent der ALG-II-Beziehenden. 53 Prozent der ALG-II-Beziehenden antworten ablehnend.
Und dann wird man mit diesem (scheinbaren) Widerspruch konfrontiert:
»Zugleich stimmen deutlich über 90 Prozent derjenigen, die kein ALG II beziehen, und fast alle ALG-II-Beziehenden der Aussage zu, dass das Existenzminimum unter allen Umständen gesichert werden sollte.«
Offensichtlich wird hier unterschieden zwischen dem offiziellen und einem anderen Existenzminimum, denn die SGB II-Leistungen sollen ja das sozio-kulturelle Existenzminimum sichern, das aber bei Leistungskürzungen eben nicht mehr gesichert wäre.
Wie sich Leistungsbezieher selbst und andere Leistungsbezieher sehen
Einige Fragen wurden nur denjenigen gestellt, die selbst Grundsicherungsleistungen beziehen:
»Der Aussage „Ich halte mich an die mit dem ALG-II-Bezug verbundenen Pflichten unabhängig davon, ob meine Leistungen gekürzt werden können“ stimmen knapp 84 Prozent der Befragten zu … (Zugleich) stimmen rund 47 Prozent der Aussage zu: „Wenn Sanktionen abgeschafft werden, werden mehr Arbeitslosengeld-II-Beziehende ihre Pflichten gegenüber dem Jobcenter vernachlässigen.”«
Auch die Integrationsfachkräfte äußern die Befürchtung, dass die Fühlbarkeit von Sanktionen und damit ihre Verhaltenswirksamkeit nachlassen könnte (vgl. dazu den Beitrag von Stefan Bernhard et al.: Auf dem Weg zum Bürgergeld: Die Sanktionspraxis nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und ‚in Zeiten von Corona‘, in: Sozialer Fortschritt, Heft 3/2023). Sowohl Leistungsbeziehende als auch Integrationsfachkräfte gehen folglich zum Teil davon aus, dass eine Abschaffung oder Entschärfung von Sanktionen häufigere Pflichtverstöße wahrscheinlich werden lassen.
»Der Aussage „Wenn mehr und mehr Arbeitslosengeld-II-Beziehende ihren Pflichten nicht mehr nachkommen, werde ich das auch nicht mehr machen“ stimmen 12 Prozent der befragten ALG-II-Beziehenden zu. Demnach dürfte nur ein kleiner Teil der Leistungsberechtigten bei einer Abschaffung – und vermutlich auch bei einer deutlichen Entschärfung – von Sanktionsregeln unmittelbar gegen Pflichten der Grundsicherung verstoßen. Ihr Anteil dürfte allerdings über die Zeit größer werden«, vermuten die Wissenschaftler des IAB. Sie weisen auch darauf hin: »Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass Antworten teils auf soziale Erwünschtheit zurückzuführen sind. Dies trifft auch auf weitere Fragen zu, insbesondere wenn diese hypothetisch sind.«
Was könnte ohne Sanktionen (nicht) besser werden
»Ohne Leistungskürzungen würden rund 53 Prozent der befragten ALG-II-Beziehenden den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Jobcenter nach eigener Einschätzung eher vertrauen … Zudem gehen etwa 70 Prozent der ALG-II-Beziehenden davon aus, dass die Jobcenter sie eher bevormunden können, wenn es Sanktionen gibt. Ferner antworten rund 73 Prozent der befragten ALG-II-Beziehenden, dass der Umgang mit dem Jobcenter weniger belastend ist, wenn es keine Sanktionen gibt. Insofern dürften abgemilderte Leistungskürzungen bei einer Mehrheit der Leistungsberechtigten dazu führen, dass sich ihr Verhältnis zur zuständigen Integrationsfachkraft und zum Jobcenter verbessert.«
Allerdings könnte eine Abschaffung von Sanktionen den Integrationsprozess und die Arbeit der Jobcenter erschweren:
»Rund 36 Prozent der ALG-II-Beziehenden geben an, dass sie mehr tun würden, um ihren ALG-II-Bezug zu beenden, wenn ihre Leistungen gekürzt werden können. Hier sind die Zustimmungsanteile bei den bis zu 30-Jährigen mit 53 Prozent deutlich höher als im Durchschnitt. Dies dürfte unter anderem daran liegen, dass jüngere Menschen leichter eine Arbeit und Ausbildung finden können als ältere. Eine verstärkte Arbeitsuche führt bei ihnen also eher ans Ziel. Zudem stimmen rund 29 Prozent der ALG-II-Beziehenden der Aussage zu: „Wenn es keine Sanktionen gibt, sind Vereinbarungen mit meiner Beraterin bzw. meinem Berater im Jobcenter für mich unverbindlich.”«
Könnte der Wegfall des Sanktionsdrucks mit der Folge, den Pflichten weniger nachzukommen, auch positive Effekte zeitigen? Das wäre doch offensichtlich ein Widerspruch. Nicht unbedingt:
»Auch wenn ein Teil der Befragten angibt, ihren Pflichten beim Wegfall von Sanktionen seltener nachzukommen, könnte dies den Befragten mehr Zeit für die Arbeitsuche verschaffen und so dazu beitragen, dass sie Beschäftigungsverhältnisse mit höherer Qualität aufnehmen. So gehen knapp drei Viertel der befragten ALG-II-Beziehenden davon aus, eher eine Arbeitsstelle zu suchen, die ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht, wenn es keine Leistungskürzungen gibt.«
Die Autoren weisen darauf hin, dass Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen für viele Leistungsberechtigte in der Vergangenheit kaum eine Rolle gespielt haben. Sie zitieren aus einer Studie von Knize (2022), nach der die Wahrscheinlichkeit für 18- bis 54-jährige Leistungsberechtigte, innerhalb eines Quartals mindestens eine Sanktion wegen Pflichtverletzungen erhalten zu haben, zwischen 2013 und 2016 für Frauen unter 0,7 Prozent, für Männer bei weniger als 2 Prozent gelegen hat.
Fazit von Collischon et al. (2023)
»Aus Sicht der meisten Befragten sind Sanktionen weiterhin ein notwendiges Instrument. Sie dürfen aber nach fast einhelliger Überzeugung aller Befragten nicht das Existenzminimum gefährden. Die moderateren Leistungsminderungen von 10 bis zu 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs und die tendenziell kürzere Dauer der Leistungsminderungen, wie sie durch die Bürgergeldreform eingeführt wurden, sind damit sicher eher vereinbar als die weit höheren Leistungsminderungen (insbesondere die Sanktionen bei wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres) mit einer Regeldauer von drei Monaten, wie sie vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 in Kraft waren. Dieses Ergebnis deckt sich tendenziell mit den Befunden mehrerer sogenannter Vignettenstudien. Demnach werden „moderate“ Sanktionen (nicht mehr als 30 Prozent des Regelsatzes) mehrheitlich als ein prinzipiell gerechtes Instrument angesehen.«
»Die Angaben der befragten ALG-II-Beziehenden zeigen zudem, dass ein Verzicht auf Sanktionen zwei Seiten hat. Einerseits könnten Leistungsberechtigte teils mehr Vertrauen zu den für sie zuständigen Mitarbeitenden in den Jobcentern fassen und bei der Arbeitssuche stärker darauf achten, inwieweit Jobangebote zu ihren Kompetenzen passen. Andererseits birgt ein Aussetzen von Sanktionen das Risiko, dass sich Leistungsberechtigte zum Teil weniger darum bemühen, den Leistungsbezug durch Erwerbsarbeit zu verlassen, und zum Teil Vereinbarungen mit dem Jobcenter nicht mehr als bindend empfinden.«