Der wirtschaftswissenschaftliche „Nobelpreis“ 2023 für die Aufdeckung der „wichtigsten Faktoren geschlechtsspezifischer Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt“

„Ich habe keine Ausbildung in Ökonomie und hasse sie aus tiefstem Herzen“
(Alfred Nobel)

Nein, es soll hier nicht erneut die Fragwürdigkeit der Tatsache, dass gleichsam im Windschatten der alljährlichen Verleihung der Nobelpreise auch (eben nicht) einer für die Wirtschaftswissenschaften verliehen wird, behandelt werden (vgl. dazu beispielsweise die Bemerkungen in dem Beitrag Nichts weniger als die Linderung der globalen Armut durch ziemlich kleine Sachen, die aber experimentell „evidenzbasiert“? Anmerkungen zum „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften 2019, der hier am 14, Oktober 2019 veröffentlicht wurde). Erst 1968 wurde dieser Preis von der schwedischen Reichsbank gestiftet und als „The Sveriges Riksbank Prize in Economic Sciences in Memory of Alfred Nobel“ erstmals 1969 verliehen. Mehr als 90 Menschen haben den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften seit der ersten Auszeichnung 1969 erhalten – darunter waren mit Elinor Ostrom (2009) und Esther Duflo (2019) bislang erst zwei Frauen.

2023 ist dann die dritte Frau ausgezeichnet worden. Die US-Ökonomin Claudia Goldin von der Harvard University wurde für ihre Forschung zur Rolle von Frauen auf dem Arbeitsmarkt mit dem „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften prämiert.

Die Royal Swedish Academy of Sciences berichtet dazu unter der Überschrift She uncovered key drivers of gender differences in the labour market. »Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich der Anteil der Frauen an der Erwerbsarbeit in vielen Ländern mit hohem Einkommen verdreifacht. Dies ist eine der größten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in der Neuzeit, aber es bestehen nach wie vor beträchtliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Erst in den 1980er Jahren verfolgte eine Forscherin einen umfassenden Ansatz, um die Ursachen dieser Unterschiede zu erklären. Die Forschungen von Claudia Goldin haben uns neue und oft überraschende Einblicke in die historische und aktuelle Rolle der Frauen auf dem Arbeitsmarkt gegeben«, kann man dem „Popular Science Background“ der Preisbegründung (History helps us understand gender differences in the labour market) entnehmen (es gibt auch einen Scientific Background für die Preisverleihung mit einer ausführlichen Begründung und einer Darstellung bedeutsamer Veröffentlichungen der Preisträgerin). Besonders hervorgehoben wird dabei die wirtschaftshistorische Ausarbeitung

➔ Claudia Goldin (1990): Understanding the Gender Gap. An Economic History of American Women, Oxford: Oxford University Press, 1990

Goldin hat gezeigt, dass die Erwerbsbeteiligung der Frauen in den vergangenen 200 Jahren keinen Aufwärtstrend aufweist, sondern eine U-förmige Kurve bildet. Die Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen ging mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im frühen 19. Jahrhundert zurück, stieg dann aber mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors im frühen 20. Jahrhundert wieder an. Das wird dann mit so einer Abbildung illustriert:

»Die Auszeichnung für Claudia Goldin für ihre Forschung über die Ungleichheit der Geschlechter ist verdient. Besonders Deutschland kann viel aus diesen Studien lernen«, so wenige Tage nach der Verkündigung der diesjährigen Preisträgerin Marcel Fratzscher, der seine Kommentierung unter die bedeutungsschwangere Überschrift Der Wirtschaftsnobelpreis als Weckruf für Deutschland gestellt hat: »Die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises 2023 an Claudia Goldin ist mit Blick auf die gesellschaftspolitische Relevanz wohl eine der wichtigsten wissenschaftlichen Würdigungen der letzten Jahrzehnte. Goldin hat in ihrer wissenschaftlichen Karriere die enormen Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei Bildung, Jobs, Chancen und Bezahlung offengelegt. Sie hat stets gegen Windmühlen gekämpft, da nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in großen Teilen von Wirtschaft und Wissenschaft die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen lange Zeit als Gedöns abgetan wurde. Diese wohlverdiente Würdigung sollte vor allem für uns in Deutschland ein Weckruf sein, denn in kaum einem vergleichbaren Land ist die Diskriminierung von Frauen noch heute so groß«, meint der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).

Auch Rudolf Hickel von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat sich unter der Überschrift Nobelpreis für Ökonomie 2023 an Claudia Dale Goldin. Pionierin in der Aufdeckung struktureller Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt wohlwollend zur diesjährigen Preisverleihungsentscheidung geäußert: »Neben vielen anderen Themen, wie etwa zur Sklavenarbeit, ist sie die Pionierin der Aufdeckung von Ursachen und Folgen der systematischen Benachteiligung von Frauen auf den Arbeitsmärkten. So untersuchte sie die über 200 Jahre lange Geschichte der Be­nachteiligung von Frauen auf dem US-Arbeitsmarkt. Mit empirisch-mathemati­scher Inbrunst hat sie Datenmengen geniert und die Schlussfolgerungen belegt: Zum einen sind die Löhne der Frauen bei wachsender Wirtschaftskraft gegen­über Männern geringer gestiegen (Pay Gap). Zum anderen kommen Frauen am Arbeitsmarkt weniger zum Zuge und sind daher stärker durch Arbeitslosigkeit betroffen. Ein wesentliches Ursachenbündel sieht Goldin in der Tatsache „dass die Wahlmöglichkeiten von Frauen häufig durch die Ehe und die Verantwortung für Haushalt und Familie eingeschränkt waren und sind“.« Und Hickel bilanziert: »Die Sprengkraft ihrer Forschungsergebnisse ist derart groß, dass Goldin diese vorsichtig, zurückhaltend vorträgt. Jedenfalls hat sie den neoliberalen Mythos von der diskriminierungsfreien Konkurrenzwirtschaft gründlich widerlegt. Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist gut beraten, die Forschungsergeb­nisse auch in der Lehre aufzunehmen. Denn der Markt reguliert die Entlohnung nicht nur nach der Leistung bzw. Produktivität der Arbeit. Diskriminierung ge­genüber Frauen bei­spielsweise bei der Entlohnung (Pay-Gap) als Gewinnbetrag sind Realität.«

Mit Claudia Goldin gewinnt eine Ökonomin den Wirtschaftsnobelpreis, die seit Jahrzehnten zu den Problemen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt forscht. Das ist ein hochrelevantes Thema insbesondere in Deutschland, meint Christoph Höland in seinem Artikel Diesen Nobelpreis dürfen Politik und Unternehmen nicht ignorieren: »Goldin hat sich auf zwei Ebenen verdient gemacht: Einerseits zeigen ihre Forschungen, dass Frauenwerbstätigkeit seit mindestens 200 Jahren kein Selbstläufer ist. Und andererseits hat Goldin eine Vielzahl der Faktoren identifiziert, die dabei eine Rolle spielen: Diskriminierung ist einer davon, soziale Normen und Rollenmuster sind ein anderer. Ein dritter ist die Organisation der Arbeit selbst: Überstunden etwa sind für Mütter, denen statistisch der Großteil der Erziehung obliegt, schwerer leistbar.« Und dann kommt der Transferversuch auf die deutsche Debatte: »Die Folgen sind auch in Deutschland evident: Frauen verdienen im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer. Bei gleicher Tätigkeit und Qualifikation bleibt ein bereinigter Gender Pay Gap von 7 Prozent.« Alljährlich wird diese Diskussion über den angeblichen bzw. tatsächlichen Gender Pay Gap geführt. Man sollte allerdings genauer hinschauen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Der jährliche K(r)ampf um die Anteilswerte: Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern und das große Fallbeil für viele Frauen auf dem Arbeitsmarkt, der hier am 19. März 2019 veröffentlicht wurde).

Nicht nur in Deutschland, aber hier auf alle Fälle in markanter Form wirkt die Geburt eines Kindes für die Mütter auf dem Erwerbsarbeitsmarkt wie ein „Fallbeil“, nicht nur hinsichtlich der nach der Geburt langfristig im Vergleich zu Männern (und auch zu Frauen, die kinderlos bleiben) abgehängten Positionierung im Lohngefüge, sondern vor dem besonderen Hintergrund der lohnbezogenen Ausgestaltung vieler Sicherungsniveaus im deutschen Sozialstaat auch in den abgeleiteten Systemen. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Vom „Fallbeil“ für Mütter, den Einkommensunterschieden zwischen Männern und Frauen und dem Rollenmodell des Sozialstaates in Deutschland vom 9. Mai 2022. Die beiden folgenden Abbildungen sollen das, was hier nur angerissen wird, illustrieren:

Zurück zur diesjährigen Preisträgerin. Die für die Wirtschaftswissenschaften grundsätzliche Bedeutung (vgl. dazu auch die Einordnungsversuche von Barbara Petrongolo in ihrem Beitrag What Claudia Goldin taught economics about women, labour markets and pay gaps im Blog der London Scholl of Economics) wird von Antara Haldar so auf den Punkt gebracht: ‘Women’s economics’ goes mainstream: »Claudia Goldin’s Nobel prize puts women’s labour-force participation and the gender pay gap at the centre of economics.« Haldar führt aus: »Die von Goldin untersuchten Themen – die Erwerbsbeteiligung von Frauen und insbesondere das geschlechtsspezifische Lohngefälle – werden in der feministischen Ökonomie typischerweise isoliert betrachtet und in diesem Bereich marginalisiert.« Haldar kommt bei der Würdigung der Arbeiten von Goldin auch zu dem, was soeben als „Fallbeil“ für Mütter skizziert wurde:

Das geschlechtsspezifische Lohngefälle – in den Vereinigten Staaten verdienen Frauen im Durchschnitt 77 US-Cent für jeden von Männern verdienten Dollar – traditionell auf unzählige Faktoren zurückgeführt, vom Bildungsniveau bis zu Unterschieden im Ehrgeiz. Manche behaupten, es sei eine Frage der Begabung: Der ehemalige US-Finanzminister Lawrence Summers argumentierte beispielsweise 2005, dass Männer biologisch besser für Mathematik und Naturwissenschaften geeignet seien.
Durch eine Untersuchung der Gehaltsunterschiede innerhalb desselben Berufs zeigte Goldin jedoch, dass die eigentliche Erklärung viel einfacher ist. Wie sich herausstellte, kann der Rückstand nicht auf das Bildungsniveau zurückgeführt werden: In den reichen Ländern haben die Frauen die Männer in diesem Bereich überholt. Und da das Lohngefälle innerhalb von Berufen besteht, kann es nicht darauf zurückgeführt werden, dass Frauen in weniger lukrativen Bereichen stärker vertreten sind. Auch die kognitiven Fähigkeiten können nicht das Problem sein, da die Gehälter von Männern und Frauen nach dem Universitätsabschluss fast identisch sind.

Was bleibt (vor allem)?

»Vielmehr verdienen Frauen aufgrund der bloßen biologischen Tatsache der Geburt weniger als Männer. Das Lohngefälle beginnt sich ein oder zwei Jahre nach der Geburt des ersten Kindes einer Frau abzuzeichnen. Bis zum Alter von 45 Jahren verdienen Frauen in den USA 55 Prozent dessen, was Männer verdienen, was auf geburtsbedingte Faktoren wie Unterbrechungen der Karriere und Verringerung der Arbeitszeit zurückzuführen ist.«

Auch Barabra Petrongolo hebt in ihrem Beitrag die Bedeutung der sogenannten „motherhood penalty“ für Mütter (also die Verdiensteinbuße durch Mutterschaft: Während die Karrieren von Männern durch die Elternschaft weitgehend unbeeinflusst bleiben, führt die Geburt eines Kindes in der Regel zu starken und anhaltenden Einkommenseinbußen bei Müttern) in den Arbeiten von Goldin hervor: »In ihren neueren Arbeiten hat Goldin hervorgehoben, dass ein wichtiges Merkmal, das die Mutterschaftsstrafe prägt, die Entlohnung familienunfreundlicher Arbeitsbedingungen ist, wobei einkommensstarke Berufe überproportional lange Arbeitszeiten und eine kontinuierliche Bindung an den Arbeitsmarkt belohnen und Karriereunterbrechungen bestrafen. Sie zieht Lehren aus den Lohn- und Gehaltsplänen verschiedener Berufe und stellt fest, dass Berufe wie das Gesundheitswesen und die IT-Branche, die eine größere Flexibilität in ihrer Organisation eingeführt haben, eine größere geschlechtsspezifische Konvergenz bei den Löhnen und Gehältern erreicht haben als Berufe, die eine Kultur der langen Arbeitszeiten gefördert haben – vor allem im Unternehmens-, Finanz- und Rechtssektor. Einige der beobachteten Veränderungen in der Arbeitsorganisation sind das Ergebnis politischer Maßnahmen zur Regulierung der Teilzeitarbeit und des Rechts auf flexible Arbeitszeiten. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch Bottom-up-Initiativen für familienfreundliche Arbeitsbedingungen, die von Unternehmen umgesetzt werden, die zunehmend die Vorteile der Gewinnung und Bindung weiblicher Talente erkennen.«

Die Arbeit von Goldin, so Antara Haldar, »enthält wichtige Lektionen für die Wirtschaftswissenschaften. Sie veranschaulicht die zentrale Bedeutung der Geschichte für das Verständnis der heutigen wirtschaftlichen Realitäten (eine passende Hommage an Goldins Mentor und Nobelpreisträger Robert Fogel). Es gibt hartnäckige Probleme und Ineffizienzen, die die Märkte selbst im Laufe der Jahrhunderte nicht lösen konnten. Warum zahlen Frauen immer noch einen so hohen Preis für das Kinderkriegen, ein öffentliches Gut par excellence?«

Und Haldar bilanziert mit Blick auf die diesjährige Nobelpreisträgerin: »Am radikalsten ist, dass Goldins Arbeit zeigt, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht nur formale institutionelle Räume bewohnen, sondern auch intime Räume. Die Disziplin sollte sich mit Heiratsmärkten ebenso befassen wie mit Finanzmärkten. Das Schlafzimmer ist nicht weniger relevant als der Sitzungssaal. Ideen, die lange Zeit in Frauenzeitschriften behandelt wurden, gehören in Wirtschaftszeitschriften. Goldins Arbeit unterstreicht einen Punkt, den Feministinnen seit langem betonen: Frauen haben nicht den Luxus, das Persönliche vom Beruflichen zu trennen. Die Wirtschaftswissenschaft kann es sich nicht leisten, die Realität zu ignorieren, dass das häusliche Glück für Frauen mit einem Preisschild verbunden ist, sowohl in Bezug auf das Einkommen als auch auf die Unabhängigkeit.«