Die Folge 2 der Streik-Staffel Gräfenhausen ist zu Ende. Vorerst. Die Lkw-Fahrer bekommen ihr Geld. Strukturelle Fragen bleiben weiter unbeantwortet

Am 23. August 2023 wurde hier über den erneuten wochenlangen Kampf von Lkw-Fahrern gegen den Lohnraub seitens einer polnischen Spedition auf einer hessischen Autobahnraststätte berichtet: Gräfenhausen in der Dauerschleife? Eine deutsche Autobahnraststätte als „symbolischer Ort“ für die ansonsten „Unsichtbaren“ auf unseren Straßen, so ist der Beitrag überschrieben. Die erste Folge der Streikstaffel lief im Frühjahr 2023 vor unseren Augen ab: Lkw-Fahrer, die zumeist aus Usbekistan, Georgien und anderen osteuropäischen Ländern stammen und die für die polnische Großspedition Mazur unterwegs waren, traten im März und April 2023 in einen wochenlangen Streik wegen fehlender Lohnzahlungen. Die Fahrer lebten in der Zeit ausschließlich in ihren Fahrzeugen auf Parkplätzen der Raststätte. Nach fast sechs Wochen hatten mehr als 60 Männer mit ihren Fahrzeugen die Raststätte wieder verlassen. Ihre Geldforderungen waren zuvor von der Spedition beglichen worden.

Ende Juli 2023 ging es dann erneut los – wieder waren es Menschen aus Ländern wie Georgien, Usbekistan, Tadschikistan, der Ukraine und Türkei, die ihre Trucks an der mittlerweile symbolträchtigen Autobahnraststätte Gräfenhausen-West an der A5 zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt abgestellt haben. Einige der Fahrer behaupteten, sie hätten seit fünf Monaten keinen Lohn ausgezahlt bekommen. Und wieder ging es um Beschäftigte von Tochterfirmen der polnischen Unternehmensgruppe Mazur.

Erst Ende September haben die streikenden Trucker einen Erfolg gegen das polnische Unternehmen Mazur errungen. Ein Großteil ihres ausstehenden Lohnes wurde ausbezahlt und die Firma verpflichtete sich, Klagen gegen die Arbeiter fallenzulassen.

»Zeitweise waren bis zu 150 Trucker aus Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan, der Ukraine und der Türkei auf dem Autobahnparkplatz auf der A5 zwischen Darmstadt und Frankfurt am Main. Zuletzt waren es noch etwa 80 gewesen. Eine Woche lang waren etwa 30 Fahrer sogar in einen Hungerstreik getreten … Insgesamt hat der Streik mehr als zehn Wochen gedauert. Die Männer forderten ausstehende Löhne von zusammen etwa einer halben Million Euro ein«, berichtet Johanna Treblin in ihrem Beitrag Lkw-Streik beendet. Sprecher und Verhandlungsführer der streikenden Fahrer war Edwin Atema, ein niederländischer Gewerkschafter von der europäischen Transportarbeitergewerkschaft.

»Wie viel Geld die Fahrer bekommen haben und woher das Geld kam, wollte Atema … nicht sagen. „Die Fahrer hätten ihren Streik nicht beendet, wenn es keine substanzielle Summe gewesen wäre“, sagte er lediglich.«

Bereits beim ersten Streik im Frühjahr 2023 musste das polnische Speditionsunternehmen am Ende 300.000 Euro an die Fahrer auszahlen – entscheidend war offenbar der Druck eines Unternehmens, das auf seine Ware wartete und mit Vertragsstrafe drohte, sollten die entsprechenden Lkw nicht ihren Weg zum Ziel fortsetzen. Möglicherweise war das auch jetzt wieder der Auslöser, mutmaßt nicht nur Treblin.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte Mitte September angekündigt, dass das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) Sonderprüfungen bei Unternehmen vornehmen werde, die an der Lieferkette von Mazur beteiligt sein sollen. Zwischenzeitlich kursierten Namen, für welche Firmen die Fahrer unterwegs waren: DHL, Obi, Bauhaus, Ikea, Redbull, Knauf und weitere. Die Fahrer hatten auch von Lieferungen für Porsche und Audi sowie die Baumarktketten Hornbach, Toom, Bauhaus und Obi, berichtet. Die Unternehmen erklärten zwar alle, keinen direkten Auftrag an Mazur vergeben zu haben, was aber nicht beinhaltet, dass dies Subunternehmen der Firmen gemacht haben. Das von den Fahrern angeprangerte Unternehmen DHL hat beispielsweise erklärt, einer seiner Geschäftspartner habe „vertragswidrig“ Aufträge an Mazur weitergegeben.

Der Präsident des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Torsten Safarik, kam am 25. September 2023 mit einem Team zu den streikenden Fahrern, um die Frachtscheine und weitere Dokumente, auf denen verzeichnet war, für welche Firmen die Fahrer unterwegs waren zu prüfen.

Nach dem Besuch des Präsidenten des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und seines Teams ging es dann sehr schnell – die Fahrer bekamen Geld und beendeten ihren Streik, obwohl die Mazur-Gruppe nach eigenen Angaben nichts zahlte. Also wer hat dann das Geld bezahlt? Dazu berichtet Barbara Schäder unter der bezeichnenden Überschrift Unternehmen zahlten „aus humanitären Gründen“ an streikende Fahrer: Das Ende des Lkw-Streiks an der A5 wurde von Unternehmen ermöglicht, die sich „aus humanitären Gründen bereit erklärt haben, mit einer Spende zu helfen“. Und sie zitiert hier den Präsidenten des Bundesamtes. Und der legt noch einen nach: Die Unternehmen hätten „unabhängig von irgendeiner Verpflichtung“ gezahlt.

Was ist mit der Andeutung von „Verpflichtungen“ gemeint? Dazu muss man wissen, dass die Prüfung des Bundesamtes auf der Raststätte ergeben hatte, dass sich »in den Lastwagen der streikenden Fahrer … Waren von 58 Unternehmen befunden (haben), die unter das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) fielen. Das Gesetz verpflichtet Unternehmen mit mindestens 3000 Beschäftigten in Deutschland dazu, bei ihren Zulieferern auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten.« Und der BAFA-Präsident Safarik wird mit dazu mit diesen Worten zitiert: „Wir prüfen noch, inwieweit die LKSG-pflichtigen Unternehmen ihren Sorgfaltspflichten nachgekommen sind“. Das kann – wir wissen das – dauern.

Möglicherweise wollten die auftraggebenden Unternehmen die medienwirksame Streik-Raststätte abräumen, bevor sich durch die Berichterstattung das Scheinwerferlicht auf sie selbst und mögliche Verletzungen des gerade erst eingeführten Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes richtet.

Dieses Gesetz ist für bestimmte Unternehmen zum Januar 2023 scharf gestellt worden – und Verletzungen der Anforderungen aus dem Gesetz sind hoch wahrscheinlich in einer Branche, in denen Arbeitsbedingungen vorherrschen, die dazu führen, dass Mazur kein Einzelfall sei: »Dazu gehört neben schlechter Bezahlung, dass die Fahrer meist in den Führerkabinen schlafen müssen, obwohl die Arbeitgeber ihnen per Gesetz eine Unterkunft außerhalb bezahlen müssten. Zudem sind die Fahrer oft mehrere Monate bis zu einem Jahr unterwegs, obwohl sie nach EU-Recht alle vier Wochen nach Hause fahren können müssen und alle acht Wochen zurück zum Firmensitz kehren müssten, um eine Pause einzulegen«, so Johanna Treblin.

Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle hat zwischenzeitlich reagiert, wie man das aus der Politik kennt: Es wurde eine Art Gipfel einberufen, genauer: »Am 16.10.2023 hat sich BAFA-Präsident Torsten Safarik mit Vertretern der Transportbranche über die Situation der Menschenrechte im Transportsektor und über mögliche Handlungsoptionen im Rahmen des Lieferkettengesetzes ausgetauscht. Die Konferenz fand in Borna bei Leipzig am Sitz der für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) zuständigen BAFA-Außenstelle statt.« Das berichtet die BAFA in einer Pressemitteilung vom 16, Oktober 2023: Bessere Arbeitsbedingungen in der Transportbranche: Austausch zu Sorgfaltspflichten in der Praxis. Eingeladen waren Unternehmensverbände, Gewerkschaften und zuständige Behörden.“Die Bilder des monatelangen LKW-Streiks Gräfenhausen haben uns gezwungen zu handeln. Die Menschenrechte müssen auch in europäischen Lieferketten gewahrt bleiben“, so der BAFA-Präsident Safarik. Und weiter erfahren wir – nicht wirklich konkret: „Der heutige Austausch hat praktische Möglichkeiten aufgezeigt, wie Situationen wie in Gräfenhausen zukünftig verhindert werden können. Klar ist auch: jedes Unternehmen hat andere Voraussetzungen, aber immer müssen die Sorgfaltspflichten des Lieferkettengesetzes eingehalten werden.“ Ganz offensichtlich muss sich die zuständige Kontrollbehörde erst einmal selbst sortieren. Im Januar 2024 wolle man sich wieder treffen.

Felix Sassmannshausen berichtet von einer parallel von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Konferenz zu den Arbeitsbedingungen in der Transportbranche, auf der „über Ansätze und Strategien zur Bekämpfung von Überausbeutung migrantischer Beschäftigter in der Transportbranche und darüber hinaus“ diskutiert wurde: Über Gräfenhausen hinaus, so ist sein Beitrag überschrieben. „Fünf von zehn Fahrer werden genauso ausgebeutet wie diejenigen, die für Mazur fahren“, so der bereits erwähnte ehemalige Trucker und Gewerkschafter Edwin Atema auf der Konferenz. Unternehmen nutzen Gesetzeslücken und mangelnde Kontrollen aus, um den meist migrantischen Beschäftigten ihre Rechte zu verwehren. Oft gebe es neben der offiziellen Lohnabrechnung informelle Vorgaben, mit denen die Unternehmen den Lohn drücken. Dabei sei es für die Beschäftigten schwer, sich zu wehren. Besonders stark seien die Arbeitsmigranten aus Drittstaaten betroffen – nicht nur bei den Lkw-Fahrern, sondern auch in anderen Branchen wie auf dem Bau, in der Agrar- und Fleischindustrie. Sie werden, wie im Fall des polnischen Transportunternehmens Mazur, über die Entsenderichtlinie der Union in ganz Europa eingesetzt.

»Dramatisch ist dabei, dass bei Drittstaatsangehörigen der Aufenthaltsstatus am Job hängt. Wenn sie gegen schlechte Arbeitsbedingungen aufbegehren, droht ihnen die Kündigung und damit die Ausweisung … Dadurch befinden sie sich in einer vulnerablen Situation, wobei die Grenze zum Menschenhandel leicht überschritten wird«, so Sassmanshausen in seinem Bericht von der Konferenz.

Dort wurde seitens des DGB gefordert: Es brauche auch bessere Kontrollen durch den Staat. Und hier schließt sich dann wieder der Kreis: »Ein wichtiger Ansatzpunkt dafür sei das Lieferkettengesetz in Deutschland. Denn meist arbeiten die Beschäftigten für Subunternehmen, was die Kontrollen erschwert. Durch das Gesetz sind Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten (ab 2024 sind es nur noch 1.000) nun verpflichtet, auch bei ihren Vertragspartnern auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten.«

Gewerkschaften können mit dem neuen Gesetz zudem für die betroffenen Arbeiter in Deutschland Klage erheben. »Man prüfe, welche Fälle vor Gericht gebracht werden können, sagte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende, Andrea Kocsis.« Also auch hier muss man sich hinsichtlich des neuen Gesetzes erst einmal sortieren. Möglicherweise sollte man sich nicht zuviel versprechen von den Diskussions- und Prüfrunden, ob nun vom BAFA oder gewerkschaftlicher Seite. Das wird nicht unwahrscheinlich Jahre dauern, bis da was rauskommt.

Und es kann auch sein, dass die Verfolgung und Sanktionierung der offensichtlichen menschenrechtlichen Verletzungen, die wir in bestimmten Branchen immer wieder beklagen müssen und belegen können, über das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in den kommenden Monaten und Jahren unter die Räder einer allgemeinen Diskussion und Infragestellung des Gesetzes vor allem aufgrund der mit diesem einhergehenden tatsächlich nur schwer bis gar nicht erfüllbaren Vorgaben für alle Unternehmen geraten wird (vgl. zu der anlaufenden Berichterstattung über die Tiefen und Untiefen, die mit dem Lieferkettengesetz verbunden sind, den Beitrag Lieferkettengesetz – viel Frust in der deutschen Wirtschaft von Sabine Kinkartz: »Seit Anfang 2023 müssen große deutsche Unternehmen die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in ihren globalen Lieferketten sicherstellen. Doch viele Firmen fühlen sich überfordert«).

Dann bliebe eigentlich konsequent nur der Weg für die betroffenen Beschäftigten, sich mit (weiteren) Arbeitskämpfen zu wehren und unmittelbare Verbesserungen einzufordern. Dann aber wäre die Streik-Staffel Gräfenhausen weiter im Programm und würde Nachschub bekommen.