Gräfenhausen in der Dauerschleife? Eine deutsche Autobahnraststätte als „symbolischer Ort“ für die ansonsten „Unsichtbaren“ auf unseren Straßen

Die Raststätte Gräfenhausen an der A5 ist mittlerweile länderübergreifend ein Begriff. „Jeder zweite russischsprachige Fahrer kennt jetzt Gräfenhausen. Das ist jetzt ein symbolischer Ort für die Fahrer – ein bisschen auch ein Mythos.“ Mit diesen Worten wird Edwin Atema von der ETF, der europäischen Transportarbeitergewerkschaft, zitiert. Lkw-Fahrer, die zumeist aus Usbekistan, Georgien und anderen osteuropäischen Ländern stammen und die für die polnische Großspedition Mazur unterwegs waren, traten im März und April 2023 in einen wochenlangen Streik wegen fehlender Lohnzahlungen. Die Fahrer lebten in der Zeit ausschließlich in ihren Fahrzeugen auf Parkplätzen der Raststätte. Nach fast sechs Wochen hatten mehr als 60 Männer mit ihren Fahrzeugen die Raststätte wieder verlassen. Ihre Geldforderungen waren zuvor von der Spedition beglichen worden. Für einen dieser kurzen Momente wurde die erbärmliche Situation der vielen ansonsten unsichtbaren Lkw-Fahrer sichtbar. Auch, weil es mit der Ansammlung auf der Autobahnraststätte einen im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbaren Raum, einen konkreten Ort des Streiks gab.

Und nun schon wieder? Ende Juli wurde man von diesen Meldungen überrascht, nachdem es doch ein „Happy-End“ in der ersten Runde gegeben hatte: Ganz hinten in der Lieferkette oder Trucker streiken wieder wild – und erneut geht es um Menschen aus Ländern wie Georgien, Usbekistan, Tadschikistan, der Ukraine und Türkei: »An der Autobahnraststätte Gräfenhausen-West an der A5 zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt haben georgische Lkw-Fahrer erneut ihre Trucks abgestellt, um Geld von ihrem säumigen polnischen Fuhrunternehmen einzufordern. Die aktuelle Situation ähnelt frappierend der im März und April, als mehr als 60 Trucker aus Georgien und Usbekistan mit einem mehrwöchigen wilden Streik auf demselben Rastplatz ausstehende Zahlungen, insgesamt 300.000 Euro, erkämpften.« Einige der Fahrer sagen, sie hätten seit fünf Monaten keinen Lohn ausgezahlt bekommen.

„Es sind die gleichen blauen Lkws mit den gleichen Aufschriften, die wir schon im Frühjahr gesehen haben: Lukmaz, Agmaz, Imperia“, wird Anna Weirich von der Beratungsstelle Faire Mobilität des DGB zitiert. Alle drei Firmen gehören zur polnischen Unternehmensgruppe Mazur.

Und wieder geht es nicht um Peanuts: »Seit vier Wochen streiken Lkw-Fahrer an der Autobahn-Raststätte in Gräfenhausen. Sie fordern von ihrem polnischen Spediteur über eine halbe Million Euro ausstehenden Lohn«, kann man diesem Artikel entnehmen: Lkw-Fahrer warten auf über halbe Million Euro Lohn. Die etwa 120 Fahrer haben den niederländischen Gewerkschafter Edwin Atema von der europäischen Transportarbeitergewerkschaft zu ihrem Verhandlungsführer gewählt. Er hatte bereits im April Fahrer desselben polnischen Speditionsunternehmens vertreten. Damals erhielten die Fahrer nach einem fast sechswöchigen Streik ihren ausstehenden Lohn.

»Bereits während des ersten Streiks im April haben die Fahrer nach eigenen Angaben Petitionen an Kunden der Spedition geschickt. Ziel der Petitionen sei es gewesen, „ihre ausbeuterische Situation zu schildern und um Hilfe von diesen Unternehmen zu bitten“, hieß es. Die Zusammenarbeit mit der Spedition hätten die Unternehmen offenbar aber nicht «, wird berichtet.

Kommen wir zum Kern des Geschäftsmodells, das hier wenigstens in Umrissen mal mit konkreten Menschen hinterlegt wird:

»Die Unternehmensgruppe Mazur mit ihren mehr als 1.000 Fahrzeugen gehört zu jenem weit verbreiteten Sub-Sub-Subunternehmersystem, bei dem Firmen aus Westeuropa westeuropäische Speditionen beauftragen, die den Transport wiederum über Fuhrunternehmen aus Osteuropa abwickeln, welche ihrerseits – oft scheinselbstständige – Fahrer aus Nicht-EU-Ländern beschäftigen. Mithilfe solcher Auftragsketten drücken die Firmen die Kosten und unterlaufen geltendes Arbeitsrecht. Für die Trucker heißt das oft monatelang in ihren Fahrzeugen in Westeuropa unterwegs zu sein, fast nie den Mindestlohn zu erhalten, der ihnen hier zusteht, sondern Tagessätze von 80 bis 90 Euro.«

Und was ist mit den Auftraggebern von Mazur? Darunter seien Firmen wie Audi, Porsche und Red Bull sowie die Logistikunternehmen DHL und Intercargo. »Unternehmen wie DHL und Red Bull machen ihren Namen gerne öffentlich bekannt, schweigen aber, wenn die Fahrer, die ihre Waren transportiert haben, ausgebeutet werden«, wird Edwin Atama zitiert. Und: Diese Konzerne hätten die Macht, den Beschäftigten zu ihrem Recht zu verhelfen.

»Bereits beim Arbeitskampf im Frühjahr war der Druck auf die Lieferketten letztlich entscheidend dafür, dass Mazur den damals 65 Fahrern ihre Löhne komplett überwies – insgesamt genau 303 363 Euro und 36 Cent. Damals brauchte General Electric dringend Teile, die in Gräfenhausen feststeckten. Drohende Schadensersatzzahlungen brachten Mazur schließlich zum Einlenken. Das dürfte auch der Hintergrund dafür sein, dass sich das polnische Unternehmen zunächst kompromissbereit gab, als es Mitte Juli erneut zum Protest in Gräfenhausen kam. Es zahlte etwa ein Dutzend Fahrer aus. Daraufhin kamen viele weitere, woraufhin Mazur seine Strategie änderte.« Er versucht, die deutsche Justiz gegen die Lkw-Fahrer in Stellung zu bringen, indem er Anzeige wegen „Erpressung“ erstattete (und eine Folge davon sind dann solche Meldungen: Polizei kontrolliert streikende Fahrer in Gräfenhausen: »Weil der Auftraggeber gegen sie Anzeige erstattet hat, haben Beamte die Fahrer überprüft. Ob ein Strafverfahren eröffnet wird, steht noch nicht fest.«).

Aber wir werden auch Zeugen gewerkschaftlicher Solidarität. Für die Lkw-Fahrer »ist es eine enorme Belastung, wochenlang an dem Autobahnrastplatz ausharren zu müssen. Dass das überhaupt möglich ist, liegt an der großen Unterstützung aus der Region. Gewerkschaftsaktive bringen regelmäßig Nahrungsmittel vorbei. Da die Duschen am Rastplatz kaputt sind, hat der örtliche DGB einen Pendelservice eingerichtet: Zweimal pro Woche werden die Kollegen zu einer Sporthalle nach Darmstadt gefahren, um dort zu duschen. Ehrenamtliche »Waschpaten« sammeln die Kleidung der Fahrer ein und bringen sie gewaschen wieder zurück. Für die Fahrer ist die Hilfe die Voraussetzung dafür, dass sie die Aktion fortsetzen können«, berichtet Daniel Behruzi in seinem Beitrag.

Wieder sehen wir einen kleinen Ausschnitt aus einer ganz großen, im wahrsten Sinne des Wortes globalen Angelegenheit, die sich hier auftut. Denn selbst der jahrelange Lieferant für billigste und billige Lkw-Fahrer, die in den reicheren westeuopäischen Ländern die unangenehmen Teile der Logistik-Kette bedienen, also Osteuropa, „schwächelt“ bei der Bereitstellung günstigen Fahrermaterials. Also geht man weiter ostwärts. Und teilweise darüber hinaus. Hier nur eines von vielen Beispielen, welche merkwürdig daherkommende, auf den zweiten Blick aber betriebswirtschaftlich durchaus konsequente Kapriolen geschlagen werden, wenn es um die Aufrechterhaltung des bisherigen Billigmodells eines Outsourcing des Lkw-Transports geht:

Erste LKW-Fahrerinnen aus Indien werden in Kürze ihre Arbeit aufnehmen, so ist eine Meldung überschrieben, die Anfang August 2023 auf einem Logistik-Portal veröffentlicht wurde: »Die ungarische Niederlassung des dänischen Transportunternehmens Baton Transport kündigte Anfang des Jahres an, mit der Rekrutierung von LKW-Fahrerinnen aus Indien beginnen zu wollen. Das Unternehmen wird zunächst im Rahmen eines Pilotprojekts 25 Frauen einstellen, mit der Möglichkeit, künftig sogar 800 Stellen auf diese Art zu besetzen. Die ersten aus Indien rekrutierten Truckerinnen werden bald ihre Arbeit aufnehmen.« Es wird angemerkt, dass das Unternehmen bereits mehrere LKW-Fahrer aus Indien beschäftigt.
Warum macht eine Spedition in Ungarn so was? »In Ungarn herrscht, wie in den meisten europäischen Ländern, ein großer Mangel an LKW-Fahrern. Die ungarische Transportgewerkschaft schätzt die Fachkräftelücke in der Branche derzeit auf etwa 6.000 bis 8.000. Der Grund dafür liegt darin, dass der Beruf nicht attraktiv ist – vor allem für junge Menschen. Weitere Gründe für den Fahrermangel sind lange Wartezeiten beim Be- und Entladen sowie an den Grenzübergängen, hohe Bußgelder bei bereits kleinen Verstößen und hohe Schulungskosten. Die Situation wurde dadurch verschlimmert, dass das staatliche Programm zur Finanzierung der Ausbildung für LKW-Fahrer für unter 25-Jährige in Ungarn eingestellt wurde.«