Deutschland liegt nach wie vor – folgt man der Rechenweise des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) – im unteren Mittelfeld hinsichtlich der Streikintensität im internationalen Vergleich. Gemessen an den arbeitskampfbedingten Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigte gibt es eine Spitzengruppe bestehend aus Belgien, Frankreich und Kanada, gefolgt von einem oberen Mittelfeld, das von Dänemark, Finnland und Spanien bis Norwegen reicht. Das untere Mittelfeld wird aktuell von den Nieder- landen angeführt und umfasst neben Deutschland auch Irland, Polen sowie Portugal (vgl. Dribbusch et al.: WSI-Arbeitskampfbilanz 2022. Streiks als normales Instrument der Konfliktregulierung bei Tarifauseinandersetzungen, April 2023).
Wenn denn aber mal gestreikt wird, dann wird man in den vergangenen Jahren zunehmend mit einer deutschen Besonderheit konfrontiert: Bereits nach einem Tag wird eine hyperventilierende Berichterstattung an den Tag gelegt, nach der unzumutbare Belastungen mit den Arbeitsniederlegungen verbunden seien und reflexhaft werden Einschränkungen des Streikrechts diskutiert, als ob wir massiven Streikwellen ausgesetzt wären.
Nun wird bekanntlich bei Arbeitsniederlegungen, die in Deutschland grundsätzlich nur von Gewerkschaften durchgeführt werden dürfen, zumeist um höhere Löhne gekämpft, seltener um andere wichtige Aspekte der Arbeitsbedingungen wie die Arbeitszeit.
Aber auch in Deutschland gab es Streiks, die ein historisches Moment darstellen. Man denke an etwas, das von Beschäftigten heute als Selbstverständlichkeit angesehen wird (in anderen Ländern wie beispielsweise den USA ist das bis heute nicht so): die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die wurde nicht vor irgendeiner Regierung wohlwollend auf den Weg gebracht, sondern die musste gewerkschaftlich erkämpft werden: Der Streik um die Lohnfortzahlung bei Krankheit begann am 24. Oktober 1956 in Schleswig-Holstein und entwickelte sich zum längsten Arbeitskampf in Deutschland seit 1905. Mehr als 34.000 Beschäftigte der Metallindustrie erstreikten nach 114 Tagen einen Tarifvertrag, der die Arbeiter bei Krankheit besser absicherte, da nun der Lohn bei Krankheit weitergezahlt wurde. Damit wurde ein Grundstein für die heutigen tarifvertraglichen und gesetzlichen Regelungen zur Lohnfortzahlung bei Krankheit gelegt.
In diesen Tagen erleben wir möglicherweise erneut einen historisches Moment, der mit einem Streik – bzw. genauer mittlerweile zwei Arbeitskämpfen – verbunden ist, die zumindest geografisch gesehen ganz weit weg von Deutschland stattfinden.
Von Drehbüchern, Schauspielern und der KI-Frage
Seit dem 2. Mai 2023 streikt die Writers Guild of America (WGA), die Gewerkschaft der Drehbuchautorinnen und -autoren, um ihre Forderungen beim Produzentenverband (AMPTP) durchzusetzen. »Nach gescheiterten Verhandlungen mit Studios und Plattformbetreibern legen Hollywoods Drehbuchautorinnen und -autoren die Arbeit nieder. In der Ära der Streamingdienste fordern sie bessere Bezahlungsmodelle«, so eine der Meldungen am 2. Mai unter der Überschrift Hollywood-Autoren treten in den Streik. Und das war erst der Anfang. Im Juli 2023 wurde gemeldet: »Hollywood wird komplett lahmgelegt. Zum ersten Mal seit mehr als 60 Jahren gibt es einen Doppelstreik: Nach den Autoren folgen jetzt auch die Schauspieler. Und die fordern nicht nur höhere Löhne«, so Arne Bartram in seinem Beitrag „Jetzt ist ein historischer Moment“. Mittel Juli 2023 hat sich die viel größere, mehr als 160.000 Menschen repräsentierende US-Schauspielgewerkschaft SAG-AFTRA, dem Arbeitskampf der Autoren angeschlossen. Eine Streik-Allianz dieser Größe hat Hollywood seit 1960 nicht mehr erlebt, so Stefan Grissemann in seinem Artikel Die große Illusion: Die Hintergründe der Streiks in Hollywood. Und seine Ausführungen verweisen bereits darauf, warum man hinsichtlich der beiden Arbeitskämpfe von einem „historischen Moment“ sprechen kann und muss: »… es geht um Gewichtiges, keineswegs nur um mehr Geld. Neben der Forderung nach besserer Abgeltung durch die – ihre Zahlen unter Verschluss haltenden – Streamingdienste steht die Panik vor den unabsehbaren Konsequenzen eines unregulierten Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Zentrum der Zwangsverhandlungen. Denn die Dystopie einer Kino- und TV-Landschaft, in der Drehbücher von Maschinen generiert werden und Schauspielkräfte gescannt, ihre Abbilder anschließend digital verwertet werden, sorgt für Unwohlsein. Der Tod ist in Hollywood keine Grenze mehr: Ein neuer Film, in dem der 1955 verstorbene James Dean die Hauptrolle spielen wird, ist in Planung.«
»Wie berechtigt die Befürchtung ist, dass eine fundamental gewandelte Filmindustrie der schönen neuen Welt eines vollsynthetischen Kinos verfallen ist, zeigt ein Jobangebot, das Netflix vor wenigen Tagen online gestellt hat. Man suche eine Person mit KI-Expertise, Jahresgehalts-Obergrenze: 900.000 Dollar.«
Geld und Identität
Um was geht es bei dem Doppelstreik in den USA?
»Erster großer Streitpunkt ist das Geld. Die Schauspieler wollen nicht nur höhere Löhne, sondern auch einen Bonus, wenn eine Serie oder ein Film bei einem Streaming-Dienst gut läuft. Die Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA und die Filmstudios haben lange verhandelt, konnten sich aber nicht einigen … Die Produktionsstudios auf der anderen Seite stecken gerade selbst in der Krise. Der Konkurrenzkampf um immer mehr Inhalte für immer weniger Geld sei in den vergangenen Jahren größer geworden«, so Arne Bartram. „Das Streaming hat den Studios finanziell wehgetan. Sie haben noch nicht herausgefunden, wie sie damit genug Geld verdienen – ausgenommen Netflix, die das gerade erst geschafft haben, mit großen Investitionen“. Mit diesen Worten wird Kim Masters vom Magazin „Hollywood Reporter“ zitiert. Und ihre Interpretation lässt auch besser verstehen, warum selbst nach Monaten der Arbeitsniederlegung noch keine Einigung erzielt werden konnte: „Die Studios entlassen Tausende Leute und müssen damit zurechtkommen, dass ihr bisheriges Geschäftskonzept kaputt ist. Gleichzeitig fragen sich die Autoren und Schauspieler: Wie behalten wir unser Stück vom Kuchen?“
Das Thema Geld ist vor allem für die nicht-prominenten Schauspieler wichtig. Es geht hier um Zehntausende Nebendarstellern, die gewerkschaftlich organisiert sind und die nicht von ihrem Job leben können. Etwas genauer beschreibt das Katharina Wilhelm unter der Überschrift Schauspieler wehren sich gegen den Einfluss von KI: »Es geht vor allem um die sogenannten Residuals, man könnte sie mit Tantiemen, also variablen Vergütungen oder Beteiligungen übersetzen. Sie werden an Autoren und Darsteller gezahlt, wenn TV-Serien oder Kinofilme als Wiederholungen gezeigt werden. Weil Filmschaffende nicht immer arbeiten, sondern auch mal monatelang keine neuen Aufträge bekommen, sind das wichtige Einnahmen. Die Regelung gilt allerdings nicht für Streaming-Plattformen wie Netflix, Apple TV+ oder Amazon.« Denn die Tech-Unternehmen müssen nicht veröffentlichen, wie oft ihre Inhalte geschaut werden
Aber das ist nur der eine Aspekt. Der andere verweist auf die bereits angesprochene große Zukunftsfrage, mit der wir überall konfrontiert sein werden:
»Der zweite große Streitpunkt ist das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Wie weit dürfen die Studios gehen, wenn sie zum Beispiel die Stimme oder das Gesicht eines echten Schauspielers in einigen Filmszenen nutzen, ohne ihn dafür extra zu bezahlen? … Auch die Autoren fürchten, dass die Studios Drehbücher von einer Künstlichen Intelligenz schreiben lassen könnten.«
Nicht nur Schauspieler und Drehbuchautoren machen sich Sorgen wegen Künstlicher Intelligenz – auch Synchronsprecher. Es gibt derzeit kein einheitliches Gesetz, dass deine Stimme schützt. Vor allem Audio könne leicht gesammelt und geklont werden.
Der Hollywood-Streik einer der größten Arbeitskämpfe, in dem es auch um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz geht.
Es geht aber bei den hier herausgestellten Streikaktionen nicht nur um eine bestimmte Branche oder einige wenige sehr spezielle Berufsgruppen. »Die Furcht um den Jobverlust durch KI vereint Millionen Beschäftigte verschiedenster Branchen. Gewerkschaften verhandeln deshalb längst nicht mehr nur um Geld, sondern auch um Anti-KI-Klauseln in Tarifverträgen,« so Jan Klauth und Laurin Meyer in ihrem Beitrag Die weltweite Furcht der Gewerkschaften vor der KI-Revolution. Interessanterweise erwähnen die beiden eine andere Berufsgruppe aus der Hollywood-Blase, die als „Vorkämpfer“ für „Anti-KI-Klauseln“ hervorgehoben werden: »Die Vorkämpfer stammen vor allem aus der Kreativwirtschaft. Zu den prominentesten Beispielen zählen die Regisseure in Hollywood. In Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite hat sich die „Directors Guild of America“ (DGA) zuletzt so etwas wie eine Anti-KI-Klausel in die Tarifverträge ihrer Mitglieder schreiben lassen. Arbeitgeber dürfen KI in Verbindung mit kreativen Elementen demnach „nicht ohne Rücksprache mit dem Regisseur oder anderen von der DGA vertretenen Mitarbeitern“ einsetzen, heißt es darin. Zwar kritisierten manche die Formulierung als „zu schwach“. Schließlich ist nicht definiert, welche weiteren Verpflichtungen für die Arbeitgeber mit der erfolgten Rücksprache einhergehen. Dennoch gilt die Klausel als Signal, wurde doch erstmalig eine solche Vereinbarung getroffen.«
Und ebenfalls aus der Kreativwirtschaft ein weiteres Beispiel, diesmal von den Schriftstellern: Die »Autorengewerkschaft „Authors Guild“ (hat) einen Brief an die Chefs führender KI-Unternehmen geschickt, darunter an Alphabet, Meta und Microsoft. Ihre Forderung: Entwickler sollen die Zustimmung der Autoren einholen, wenn sie ihre Künstliche Intelligenz mit den Texten der Autoren trainieren. Und sie sollen dafür angemessen zahlen. Mehr als 10.000 Schriftsteller und Unterstützer haben den Brief unterzeichnet, darunter Größen wie Dan Brown, Margaret Atwood oder eben Nora Roberts.«
Wechseln wir die Branche – auch die Piloten treibt das Thema um: »… die US-Pilotengewerkschaft ALPA sorgt sich um den Einsatz von KI im Cockpit. Mit fortschreitender Automatisierung könnten Airlines künftig etwa auf den obligatorischen Copiloten verzichten wollen, lauten die Bedenken. Sie fordern deshalb frühzeitig Garantien für eine mindestens zweiköpfige Besatzung – und argumentieren mit Sicherheitsbedenken. Im März haben Führungskräfte der weltweit größten Pilotenorganisationen eine globale Koalition angekündigt, um zu verhindern, dass Fluggesellschaften und Hersteller ihre Pläne für dezimierte Besatzungen vorantreiben.«
Doch den Gewerkschaften geht es nicht nur um die Sicherheit der Arbeitsplätze, sondern auch um die Qualität. Sie warnen vor einer zunehmenden Überwachung der Arbeitnehmer durch KI.
Es geht hier also wahrlich um ganz große Fragen der Zukunft – und erste Umrisse davon werden im aktuellen Arbeitskampf in den USA auf die Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit gezogen bzw. sie sollten dort wahrgenommen und diskutiert werden. Und nicht erst durch scheinbar quotenträchtige Berichte, wenn demnächst den Streamingdiensten das Serienmaterial ausgeht und die Abonnenten in Deutschland in ihren Wohlfühlzonen getroffen werden.