»Neue Daten zeigen: Immer mehr Rentner sind auf die Grundsicherung angewiesen. Für Linken-Politiker Bartsch sind die Zahlen alarmierend«, kann man solchen Meldungen entnehmen: Immer mehr Senioren sind auf Hilfe vom Sozialamt angewiesen. »Demnach erhielten zum Ende des ersten Quartals 684.000 Personen Grundsicherung im Alter und damit so viele wie nie zuvor … Auf Jahressicht gesehen nahm die Anzahl der Fälle … um rund 90.000 zu, das ist ein Anstieg um 15 Prozent.«
Die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger der seit 2003 im SGB XII normierten Grundsicherung im Alter wird immer wieder mit ganz unterschiedlichen Intentionen in der Debatte über Altersarmut in Deutschland instrumentalisiert, obgleich (oder gerade weil) diese Sozialhilfeleistung aufgrund der mit ihr einhergehenden mehr oder weniger restriktiven Bezugsvoraussetzungen wenn, dann nur einen Teil der einkommensbezogenen Altersarmut abzubilden in der Lage ist. Es handelt sich um eine bedarfsorientierte und bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistung. Zugang zu den Leistungen haben erwachsene Personen, deren (anrechenbares) Einkommen, (verwertbares) Vermögen und/oder (realisierbare) Unterhaltsansprüche nicht ausreichen, um den individuellen Bedarf zu decken. Hierbei bleiben Unterhaltsansprüche gegenüber Kindern bzw. Eltern unberücksichtigt, sofern das jährliche Gesamteinkommen des Unterhaltspflichtigen 100.000 Euro nicht übersteigt. Und es geht hier wahrlich nicht um Reichtümer – so lag der Bruttobedarf im Jahr 2022 bei 862 Euro/Monat, davon entfielen allein 402 Euro pro Monat auf die Kosten der Unterkunft.
Man erkennt in den Daten eine kontinuierliche Zunahme der Empfänger-Zahlen in diesem Teilbereich des Grundsicherungssystems seit 2003 – aber der erhebliche Anstieg im Jahr 2022 springt förmlich ins Auge, 11,8 Prozent mehr Bezieher dieser Sozialhilfeleistung werden in der Statistik ausgewiesen. Wobei ein noch genauerer Blick auf die Daten hilf- und aufschlussreich ist. Dazu muss man wissen, dass in der Vergangenheit jahrelang die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger nur für das jeweilige Jahresende, also den jeweiligen Dezember, ausgewiesen wurde. Mit dem Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) vom 20. Dezember 2012 ist die Statistik der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab dem 1. Berichtsquartal 2015 von einer Jahres- auf eine Quartalsstatistik umgestellt worden. Nunmehr kann man jeweils für März, Juni, September und Dezember eines Jahres die Empfängerzahlen abrufen und damit die Entwicklung genauer verfolgen.
Noch deutlicher wird die ausgeprägte Dynamik des Anstiegs der Empfänger-Zahlen seit dem Jahr 2022, wenn man sich die prozentuale Veränderung gegenüber den jeweiligen Vorjahreswerten anschaut:
Die deutlich vom langjährigen Trend des Wachstums der Empfängerzahlen abweichende Entwicklung seit 2022 ist nicht nur auffällig, sondern auch erklärungsbedürftig.
Eine Möglichkeit der Einordnung liefert derjenige, der eingangs dieses Beitrags bereits zitiert wurde – der Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Dietmar Bartsch. Der wird mit diesen Worten zitiert: „Jedes Quartal kommen Menschen in der Größenordnung einer Kreisstadt bei der Altersarmut dazu. Die Zahlen sind alarmierend und auch Ergebnis der verheerenden Politik der letzten Jahre. Inflation und Krieg treiben die Zahlen besonders an.“ Neben Ukraine-Flüchtlingen seien es vor allem die Rentner hierzulande, die die steigenden Preise nicht mehr bezahlen könnten und in Altersarmut rutschen.
In dem Beitrag „Anzahl der Bezieherinnen und Bezieher von Altersgrundsicherung steigt deutlich“ (Portal Sozialpolitik, 17.07.2023, Rubrik: Kurz kommentiert) wird das genauer analysiert.
Eine wichtige Erkenntnis aus der Detailanalyse lautet: Der außergewöhnliche Anstieg der Empfängerzahlen in der Grundsicherung im Alter wird durch die Bewältigung der Kriegsfolgen erklärbar, denn seit dem vergangenen Jahr haben über eine Million schutzsuchende Menschen aus der Ukraine in Deutschland Aufnahme und Versorgung gefunden (vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag Gekommen, um (nicht) zu bleiben. Was wir über die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine (nicht) wissen vom 16. Juli 2023). Es sind überwiegend Frauen und Kinder und Jugendliche gekommen, aber eben auch ältere Menschen, die seit dem Sommer des vergangenen Jahres in das Grundsicherungssystem integriert worden sind bzw. Anspruch auf Leistungen aus diesem System haben.
Seit Juni 2022 sind aus der Ukraine Geflüchtete dem Rechtskreis des SGB XII (bzw. SGB II) zugeordnet und können damit ab Erreichen der Regelaltersgrenze auch Alters-Grundsicherung beziehen. »Ein Großteil des Anstiegs der Zahlen im Juni 2022 gegenüber März 2022 ist demnach auf die Ausweitung des Empfängerkreises zurückzuführen.«
➞ Darauf hatte auch das Statistische Bundesamt bereits im März 2023 in einer Pressemitteilung hingewiesen, in der es um die Entwicklung der Zahlen bis Ende 2022 ging: »Knapp 659.000 … erhielten im Dezember 2022 Grundsicherung im Alter … Dies entspricht einem Anstieg von 11,8 % gegenüber dem Vorjahresmonat.« Und weiter wurde darauf hingewiesen, dass die starke Zunahme »überwiegend auf einen starken Anstieg von leistungsberechtigten Geflüchteten aus der Ukraine« zurückzuführen sei.
Auch die gestiegene Anzahl der Leistungsbeziehenden im März 2023 gegenüber März 2022 (+ 15,2 Prozent) ist weitgehend der Einbeziehung ukrainischer Flüchtlinge in das SGB XII geschuldet.
Wie sieht es mit dem an sich naheliegenden Hinweis auf die hohe Inflation in den zurückliegenden Monaten aus? Dazu wird in dem Beitrag im Portal Sozialpolitik ausgeführt:
Die »Inflation (spielt) für die steigende Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger von Altersgrundsicherung nur indirekt eine Rolle; steigende Preise führen nicht unmittelbar und zwingend auch zu steigenden Grundsicherungszahlen. Am ehesten zu vermuten wäre ein solcher (direkter) Zusammenhang bei den Kosten für Unterkunft und Heizung.«
Allerdings zeigen die durchschnittlichen Bruttobedarfe für die Kosten der Unterkunft (KdU) hier keine signifikant höhere Kostenbelastung auf: Im März 2022 lag der Wert bei 396 Euro pro Monat, ein Jahr später, im März 2023, werden hier 406 Euro ausgewiesen.
Zu berücksichtigen sei: »Preissteigerungen gehen seit dem Bürgergeldgesetz zeitnäher in die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen ein. So wurde etwa der sogenannte Eckregelsatz (Regelbedarfsstufe 1) zu Beginn des Jahres um 11,75 Prozent von 449 Euro auf 502 Euro erhöht; davon entfielen rd. 6,9 Prozent auf die zeitnähere Berücksichtigung der regelbedarfsrelevanten Preisentwicklung.«
Und dann: »Höhere Regelsätze haben ceteris paribus eine Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten zur Folge. Gerade weil die Inflation seit Jahresbeginn zeitnäher Eingang in die Ermittlung der Regelbedarfe gefunden hat sind die Empfängerzahlen im März gegenüber dem Vorquartal mit 3,9 Prozent stärker als im langfristigen Trend gestiegen.«
Und dann wird noch auf mögliche Effekte einer sozialpolitischen Verbesserung im Bereich des Wohngeldes hingewiesen, dem Wohngeld-Plus-Gesetz. Dazu erfahren wir:
»Ein weiterer, allerdings schwer zu separierender, Einflussfaktor geht zurück auf das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Wohngeld-Plus-Gesetz. Mit dem Ziel der Vermeidung von Verwaltungsmehraufwand der aus dem Nachrangprinzip der Fürsorge im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Bürgergeldgesetzes zum 01.01.2023 resultiert, gilt für SGB II wie für SGB XII eine zeitlich begrenzte Ausnahmeregel: Abweichend vom Nachrangprinzip der Sozialhilfe sind Leistungsberechtigte für am 31.12.2022 laufende Bewilligungszeiträume oder Bewilligungszeiträume, die in der Zeit von Januar bis Juni 2023 beginnen, nicht verpflichtet Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz in Anspruch zu nehmen. Personen, die durch einen seit Jahresbeginn erhöhten Wohngeldanspruch die Grundsicherung hätten verlassen können oder erst gar nicht in die Grundsicherung gerutscht wären, verbleiben dadurch im Fürsorgebezug.«
Der Beitrag bilanziert vor diesem Hintergrund: »Zur Dramatisierung besteht angesichts der gestiegenen Anzahl von Bezieherinnen und Beziehern von Altersgrundsicherung bislang kein Anlass.«
Damit hier keine Missverständnisse auftauchen: Ein individuelles und sich in der Zukunft (wahrscheinlich) verstärkendes Drama trotz einer aktuellen Entdramatisierung
Der aktuelle deutlich über dem Trend der vergangenen Jahre liegende quantitative Anstieg in der Grundsicherung kann auf der Basis der präsentierten besonderen Einflussfaktoren nicht dafür instrumentalisiert werden, eine jetzt aus dem Ruder laufenden Sozialhilfeabhängigkeit von immer mehr Senioren zu behaupten. Wenn innerhalb weniger Monate Zehntausende älterer Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland flüchten mussten, in das bestehende bedürftigkeitsabhängige Grundsicherungssystem für nicht mehr erwerbsfähige Menschen integriert werden (die anderen haben Ansprüche auf SGB II-Leistungen) und darüber eine zumindest basale Versorgung bekommen, dann ist das erst einmal eine gewaltige und positive Leistung des deutschen Sozialstaats und der Aufnahmegesellschaft, die man nicht gering schätzen sollte, bei aller möglichen Kritik an der Ausgestaltung unserer Sicherungssysteme.
Auf der anderen Seite kann man die aktuell entdramatisierende Botschaft auch nicht dafür verwenden, die seit vielen Jahren betriebene Kleinrechnerei von „Altersarmut“ gleichsam bestätigt zu sehen. Es wurde auch hier immer wieder darauf hingewiesen, dass die Größenordnung der einkommensbezogenen Altersarmut in Deutschland eine ganz andere Hausnummer hat als der Anteil der Grundsicherung im Alter beziehenden Senioren. Die Zahl der an den gängigen Maßstäben eines relativen Einkommensarmutsbegriffs gemessenen altersarmen Menschen ist um ein Mehrfaches größer (wenn man den „richtigen“ Maßstab zugrunde legt, dann lagen im Jahr 2021 ausweislich der amtlichen Sozialberichterstattung und der Bevölkerungszahl der entsprechenden Altersgruppe 3,048 Millionen ältere Menschen unter der offiziellen Armutsgefährdungsschwelle, das waren 17,9 Prozent der Haushalte von Rentnern und Pensionären) als die Gruppe derjenigen, die SGB XII-Leistungen in Anspruch nehmen – abgesehen davon, dass selbst viele, die rechtlich Anspruch auf Grundsicherungsleistungen im Alter haben, diesen Anspruch gar nicht wahrnehmen, also auf ihnen bereits heute zustehende Leistungen verzichten. Vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag Altersarmut: Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter nach SGB XII vom 8. November 2022. Wenn sich am bestehenden Alterssicherungssystem nichts fundamental verändern sollte, dann wird es in den kommenden Jahren einen erheblichen Zustrom in das Grundsicherungssystem geben müssen von den vielen, die trotz langer Erwerbsarbeitszeiten keine über den Bedarfsschwellen der Sozialhilfe liegenden Rentenansprüche aufbauen konnten (und denen oft auch zusätzliche Einkommensquellen im Alter wie Betriebsrenten oder gar Vermögeneinkünfte fehlen). Hinzu kommen auch die vielen Zuwanderer, denen es nicht gelingen wird, ausreichende Rentenansprüche im System der gesetzlichen Rentenversicherung aufzubauen.
Und nicht vergessen werden sollte das individuelle Drama, was sich hinter den großen Zahlen Grundsicherung im Alter beziehender Menschen verbirgt. Wir sprechen hier aktuell (Stand März 2023) über Monatsbeträge was den Bedarf angeht (von dem dann auch noch eigene Einkommen und Vermögen, wenn solches überhaupt da ist, in Abzug gebracht wird), in Höhe von 920 Euro im Monat für alles, einschließlich der Unterkunftskosten (und von diesem Bruttobedarf in Höhe von 920 Euro werden laut Statistischen Bundesamt dann auch noch 331 Euro eigenes Einkommen angerechnet, was zugleich verdeutlicht, dass die Betroffenen arm sind wie eine Kirchenmaus). Mit solchen Beträgen kann man nun wirklich nicht einmal kleine Sprünge machen und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass viele der älteren Menschen eigentlich nachvollziehbare Mehrbedarfe haben, die im bestehenden Sozialhilfesystem gar keine Berücksichtigung finden. Wer also sogar bei diesen Menschen den Tatbestand von Altersarmut in Frage stellt, der hat entweder keine Ahnung oder lebt auf einem anderen Planeten. Und wohlgemerkt, die Menschen in der Grundsicherung im Alter nach SGB XII sind nur die Spitze eines Eisbergs, die vielen altersarmen Menschen in den Schattenbereichen, die in keiner sozialstaatlichen Leistungsstatistik auftauchen, weil sie sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen müssen, werden oftmals nicht oder nur in Umrissen sichtbar, beispielsweise bei den Tafeln, wo viele ihre individuelle Überlebensökonomie ergänzen (müssen). Gerade mit Blick auf die vorhandenen und zukünftigen altersarmen Menschen, die zu den verletzlichsten Gliedern unserer Gesellschaft gehören, passt der Satz: Es ist ein Elend.