Gekommen, um (nicht) zu bleiben. Was wir über die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine (nicht) wissen

Ende Februar 2022, als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, lebten nach Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) etwa 155.000 Staatsangehörige aus der Ukraine in Deutschland. Das war zu dem Zeitpunkt eine relativ stabile Größe, in den Jahren vor 2022 lag die Zahl der Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland immer um die 140.000. Das hat sich nach dem 24. Februar 2022 massiv verändert. Im Mai 2022 – wenige Wochen nach dem Kriegsausbruch – waren bereits fast eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer im AZR erfasst. Bis Ende Dezember 2022 wurden rund 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland gezählt – wobei man berücksichtigen muss, dass die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln sind. Denn für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wurde in der EU erstmals die Richtlinie 2001/55/EG aktiviert – die sogenannte Massenzustromrichtlie – und damit gehen erhebliche Unschärfen bei der Erfassung der geflüchteten Menschen einher.

Quelle: Stefan Sell (2023): Geflüchtete aus der Ukraine auf dem deutschen Arbeitsmarkt, in: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales, Heft 7/2023, S.267

Zur Bedeutung der „Massenzustrom-Richtlinie“ für eine unkomplizierte Aufnahme der Kriegsflüchtlinge in den EU-Staaten – und deren Folgen

Man kann die Bedeutung dieser EU-„Massenzustrom-Richtlinie“ gar nicht überschätzen (vgl. dazu bereits den Beitrag Millionen Menschen auf der Flucht, die Aktivierung der „Massenzustromrichtlinie“ und die zahlreichen Folgefragen mit Blick auf die in Deutschland ankommenden Opfer der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine, der hier am 5. März 2022 veröffentlicht wurde). Man muss bei der Bewertung der Zahlen berücksichtigen, dass weit mehr als vier Millionen Kriegsflüchtlinge in EU-Staaten Zuflucht gefunden haben, darunter in großem Umfang in osteuropäischen Staaten wie Polen. Man kann durchaus die These vertreten, dass mit dem erstmaligen Scharfstellen der Massenzustrom-Richtlinie ein ein neues europäisches Aufnahmeregime neben dem (innerhalb der EU hochgradig konfliktären) Asylsystem entstanden ist.

Mit der Aufnahme von Millionen ukrainischen Kriegsgeflüchteten haben die europäischen Mitgliedstaaten eine historisch einmalige Solidarität zum Ausdruck gebracht. Die einstimmige Aktivierung der Richtlinie über „Vorübergehenden Schutz“ im europäischen Rat hat eine unbürokratische Aufnahme der Menschen, die vor der Zerstörung durch russische Bomben flüchten mussten, ermöglicht. Was für andere Geflüchtetengruppen in weit geringeren Zahlen bisher nicht möglich oder gewollt war, gelingt in diesem Fall auch in Mitgliedstaaten, die sich bisweilen gegen eine offenere europäische Asylpolitik und die faire Verteilung von Geflüchteten ausgesprochen haben. Einen europäischen Vergleich über den „Vorübergehenden Schutz“ und eine erste Bewertung der Stärken und Schwächen der verschiedenen nationalen Systeme in Bezug auf Einreiseverfahren, Unterbringungsmöglichkeiten und die (Arbeitsmarkt-)Integration findet man in dieser Studie:
➔ Dietrich Thränhardt (2023): Mit offenen Armen – die kooperative Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Europa. Eine Alternative zum Asylregime?, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Februar 2023.

Konkret handelt es sich um die „Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten.“ Diese Richtlinie stammt bereits vom 20. Juli 2001. Sie wurde als Folge des Jugoslawien-Krieges erarbeitet – und bislang niemals angewendet, auch 2015 nicht (2015 hatte man die Richtlinie auch deshalb nicht aktiviert, weil kein Konsens bestand, dass alle Syrerinnen und Syrer nach Europa kommen sollen. Vielmehr sollten viele in der Türkei bleiben. Beim Ukrainekrieg ist das nicht möglich, denn nun sind die EU-Staaten selbst die Erstaufnahmeländer).

Und was bedeutet das praktisch? Nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wird allen Personen, die unter die Richtlinie fallen, eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. Geprüft wird nur, ob die betroffenen Menschen die ukrainische Staatsangehörigkeit haben oder als Ausländer in der Ukraine lebten und nicht in die Heimat zurückkehren können. Asylverfahren werden für die Dauer des temporären Schutzes ausgesetzt.

Und noch bedeutsamer: Geflüchtete aus der Ukraine müssen kein Asyl beantragen, um ein Aufenthaltsrecht mit Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten. Sie hatten sofort Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) – seit dem 1. Juni 2022 sind sie in Deutschland in das Grundsicherungssystem (SGB II) integriert, also in das mittlerweile in „Bürgergeld“ umetikettierte Hartz-IV-System (die Regelungen wurden und sind zunächst bis März 2024 befristet).

Von besonderer Bedeutung ist auch die für Geflüchtete aus der Ukraine anders als für „normale“ Geflüchtete geltende „Niederlassungsfreiheit“, was natürlich dazu geführt hat, dass zum einen die Verteilung regional sehr unterschiedlich ausfällt und zum anderen die Kommunen „auf Sicht“ fahren müssen, was insbesondere angesichts der Tatsache, dass es aufgrund der Struktur der Geflüchteten einen erheblichen Bedarf an Kinderbetreuung und Schulunterricht gibt, eine enorme Herausforderung darstellt.

Die Großzügigkeit der Richtlinie gegenüber dem „normalen“ Prozedere mit geflüchteten Menschen kann man auch daran erkennen, dass die Menschen aus der Ukraine ein sofortiges Zugangsrecht zum Erwerbsarbeitsmarkt in der EU haben.

Zwischenfazit: Man muss das angesichts der enormen Zuwanderung von Kriegsflüchtlingen – bezogen auf Deutschland über eine Million Menschen und der größte Teil von ihnen ist innerhalb weniger Wochen gekommen – von einer beachtlichen Leistung der Hilfe sprechen, die natürlich auch mit enormen Ausgaben verbunden ist, vor allem durch die unkomplizierte Integration der ukrainischen Geflüchteten in das bestehende Grundsicherungssystem sowie die Sprach- und Integrationskurse, die man zur Verfügung gestellt hat (und die gerade von den Ukrainerinnen und Ukrainern intensiv in Anspruch genommen werden) – bis hin zu der Eingliederung von zehntausenden Kindern und Jugendlichen in das deutsche Kita- und Schulsystem.

Und es ist wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass diese gewaltige Kraftanstrengung nicht nur milliardenschwere Ausgaben voraussetzt, sondern ohne private Hilfen nicht so hätte geleistet werden können. Man muss in diesem Kontext berücksichtigen, dass die schnelle Aufnahme von hunderttausenden Kriegsflüchtlingen in einem sehr kurzen Zeitfenster im vergangenen Jahr vor allem dadurch gestemmt werden konnte, weil viele von ihnen Unterkunft in privaten Haushalten bekommen haben. Das war bzw. ist eine echte Erfolgsgeschichte zivilgesellschaftlichen Engagements. Die aber eben nur eine Brücke bauen kann für eine (begrenzte) Zeit lang, was voraussetzt, dass es ein anderes Ufer gibt, umso mehr, je länger sich der Aufenthalt der Geflüchteten gestaltet. Vielen Helfern, die privaten Wohnraum zur Verfügung gestellt haben, geht aber nach einiger Zeit schlichtweg die Puste aus, eine beeindruckende Notversorgung ist keine Dauereinrichtung und kann diese nicht substituieren. 

➔ Im vergangenen Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, die sich mit denjenigen beschäftigt hat, die private Unterkünfte zur Verfügung gestellt haben. Bis Ende Juli 2022 wurden über 3000 Personen befragt: Liam Haller et al. (2022): New platforms for engagement. Private accommodation of forced migrants from Ukraine, Berlin: German Center for Integration and Migration Research (DeZIM), September 2022. 58 Prozent der Befragten haben sich zum ersten Mal in dem Bereich Flucht und Asyl engagiert. Die Anbieter von Wohnraum waren mehrheitlich weiblich, arbeiten oft in Vollzeit und haben zumeist große Wohnungen zur Verfügung. Bereits zu dem frühen Zeitpunkt (Sommer 2022), als die privaten Anbieter von Wohnraum befragt wurden, gab es 20 Prozent Unzufriedene, weil sie sich von vornherein mit den vielfachen Bedürfnissen der Kriegsflüchtlinge überfordert fühlten. Bei der Arbeitsuche, Sprachproblemen oder der Suche nach Anschluss-Wohnmöglichkeiten konnten sie nicht helfen. Solche Überforderungslagen haben sich in den folgenden Monaten sicher auch bei vielen anderen gutmeinenden privaten Anbietern herausgebildet. Insofern wächst der Bedarf an „richtiger“ Unterbringung. Das schlägt dann bei den Kommunen auf.

Was wusste man bislang über die aus der Ukraine geflüchteten Menschen?

Erste repräsentative Erkenntnisse über deren Lebenssituation und Zukunftspläne ermöglicht die Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“, eine gemeinsame Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) . Für diese Studie wurden 11.225 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in der Zeit zwischen August und Oktober 2022 befragt. Die ersten Ergebnisse wurden im Dezember 2022 veröffentlicht:

➔ Herbert Brücker et al. (2022): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Flucht, Ankunft und Leben, Nürnberg u.a., Dezember 2022

➞ Der ungewisse Kriegsverlauf und die rechtlichen Rahmenbedingungen prägen die Lebensbedingungen und Bleibeabsichten von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland: 37 % der Geflüchteten möchten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 % bis Kriegsende, 27 % sind noch unentschieden und 2 % planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen.
➞ Die überwiegende Mehrheit der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen (80 %). Viele von ihnen sind ohne Partner (77 %) nach Deutschland gekommen, 48 % mit minderjährigen Kindern. 12 % der Frauen sind mit Partner und minderjährigen Kindern nach Deutschland geflüchtet. Von den Männern leben 71 % mit ihrer Partnerin in Deutschland.
➞ Verglichen mit der Gesamtbevölkerung ihres Herkunftslandes haben die Geflüchteten ein hohes Bildungsniveau: 72 % verfügen über einen Hochschulabschluss.
➞ Nur wenige Geflüchtete haben zum Befragungszeitpunkt gute Deutschkenntnisse (4 %). Die Hälfte der Befragten besucht bereits einen Deutschkurs.
➞ 74 % der Befragten wohnen in einer privaten Unterkunft, nur 9 % in einer Gemeinschaftsunterkunft.
➞ Die Geflüchteten bewerten ihren Gesundheitszustand überwiegend als gut, ihre Lebenszufriedenheit ist im Vergleich zur deutschen Bevölkerung aber deutlich geringer. Auch das psychische Wohlbefinden geflüchteter Kinder fällt im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden Kindern niedrig aus.
➞ 17 % der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter sind zum Befragungszeitpunkt erwerbstätig.
➞ 71 % der erwerbstätigen Geflüchteten üben eine Tätigkeit aus, die einen Berufs- oder Hochschulabschluss voraussetzt.
➞ Die Geflüchteten äußern Unterstützungsbedarf insbesondere beim Erlernen der deutschen Sprache, bei der Arbeitssuche, bei der medizinischen Versorgung und bei der Wohnungssuche.

Zur Frage der Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten finden sich einige erste Befunde in diesem Beitrag:

➔ Stefan Sell (2023): Geflüchtete aus der Ukraine und der deutsche Arbeitsmarkt, in: Aktuelle Sozialpolitik, 10. März 2023

Eine Update aus der Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“

Nun wurden die Ergebnisse der zweiten Befragungswelle der Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland (IAB-BiB/ FReDA-BAMF-SOEP-Befragung)“ veröffentlicht:

➔ Herbert Brücker et al. (2023): Geflüchtete aus der Ukraine: Knapp die Hälfte beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben, in: DIW Wochenbericht Nr. 28/2023

In der Studie wurden ukrainische Geflüchtete im Alter von 18 bis 70 Jahren befragt, die zwischen dem 24. Februar und 8. Juni 2022 nach Deutschland eingereist sind und von den Einwohnermeldeämtern registriert wurden. An der ersten Erhebung im Zeitraum von Ende August bis Anfang Oktober 2022 nahmen insgesamt 11.225 Ukrainerinnen und Ukrainer in 100 Gemeinden in ganz Deutschland teil. In der darauffolgenden zweiten Befragungswelle, die in der Zeit von Mitte Januar bis Anfang März 2023 stattfand, wurden 6.754 Ukrainerinnen erneut befragt, von denen 6.581 nach wie vor in Deutschland lebten. Von den befragten Personen waren in beiden Wellen etwas mehr als 80 Prozent Frauen; das durchschnittliche Alter lag bei knapp 40 Jahren. Durch Verwendung von Gewichten ist die Stichprobe repräsentativ für die zum Zeitpunkt der zweiten Befragung weiterhin in Deutschland lebenden ukrainischen Geflüchteten der Grundgesamtheit.

Das IAB berichtet unter der Überschrift Geflüchtete aus der Ukraine: Knapp die Hälfte beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben über einige Befunde:

Die Lebensbedingungen und Teilhabechancen der Geflüchteten aus der Ukraine haben sich hierzulande seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges und der ersten großen Fluchtwelle verbessert:

➞ Zu Beginn des Jahres 2023 besucht die Mehrheit von ihnen einen Sprach- oder Integrationskurs oder hat diesen bereits abgeschlossen. Insbesondere beim Erlernen der deutschen Sprache gibt es bis Anfang 2023 deutliche Fortschritte: Drei von vier ukrainischen Geflüchteten haben zu diesem Zeitpunkt einen oder mehrere Deutschkurse besucht oder bereits abgeschlossen, am häufigsten einen Integrationskurs. Die Deutschkenntnisse haben sich nach eigener Einschätzung der Geflüchteten seit dem Spätsommer 2022 verbessert: „Sehr gute“ oder „gute“ Deutschkenntnisse bescheinigen sich Anfang 2023 zwar mit acht Prozent nur wenige Geflüchtete, die Antwort „es geht“ fällt mit 27 Prozent (gegenüber zuvor 14 Prozent) jedoch deutlich häufiger. Der Anteil der Geflüchteten, die angeben „gar nicht“ der deutschen Sprache mächtig zu sein, hat sich mehr als halbiert (auf 18 Prozent Anfang 2023). Aufgrund der hohen Beteiligung an Sprach- und Integrationskursen, die die künftigen Arbeitsmarktchancen verbessern, ist die bisher registrierte Erwerbstätigkeitsquote im Vergleich zum Spätsommer 2022 nur etwas gestiegen. Was sich aber in den kommenden Monaten ändern dürfte. Über zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten, die Anfang 2023 (noch) nicht erwerbstätig waren, wollen dies sofort oder innerhalb des kommenden Jahres tun.

➞ Fast vier von fünf geflüchteten Ukrainer leben in einer privaten Wohnung oder einem Haus.

➞ Zu Beginn des Jahres 2023 beabsichtigt mit 44 Prozent fast die Hälfte der Geflüchteten längerfristig – also zumindest noch einige Jahre oder sogar für immer – in Deutschland zu bleiben. Gegenüber dem Spätsommer 2022 sind das fünf Prozentpunkte mehr. Von den 71 Prozent derjenigen Personen, die nicht für immer in Deutschland bleiben möchten, planen 38 Prozent, nach Kriegsende in die Ukraine zurückzukehren, weitere 30 Prozent wollen einen engen Kontakt nach Deutschland halten und zumindest zeitweise hier leben.

➞ Einen erheblichen Teil der Geflüchteten machen Kinder und Jugendliche aus: Etwa jede zweite Ukrainerin ist mit mindestens einem minderjährigen Kind nach Deutschland gekommen, knapp die Hälfte dieser Kinder ist jünger als zehn Jahre. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben ihren Eltern zufolge insgesamt eine gute oder sehr gute Gesundheit. Das psychische Wohlergehen hat sich im Vergleich zur ersten Befragung leicht verbessert, liegt aber nach wie vor unter den Normwerten von anderen Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Während fast alle schulpflichtigen Kinder aus der Ukraine eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, nehmen nur wenige Eltern die Kindertagesbetreuung in Anspruch – auch wenn die Nutzung zunimmt: Jedes zweite Kind im Alter bis einschließlich sechs Jahren nimmt zu Beginn des Jahres 2023 eine außerhäusliche Kinderbetreuung in Anspruch.

Und wie sieht es aus mit der Arbeitsmarktintegration?

Als die große Welle an Kriegsflüchtlingen neben anderen – vor allem osteuropäischen – Ländern auch Deutschland erreichte, wurden sofort Stimmen laut, die auf eine „nützliche“ Verwertung der Arbeitskräftepotenziale der Geflüchteten vor dem Hintergrund des seit langem diskutierten Fach- und Arbeitskräftemangels hingewiesen haben. Sehr schnell wurde auch in vielen Medien die Frage aufgeworfen, wie viele der zumeist Ukrainerinnen denn wo arbeiten oder demnächst arbeiten werden.

Die Bundesagentur für Arbeit begleitet fortwährend die Entwicklung der Fluchtmigration und dabei natürlich gerade die Arbeitsmarktintegration. Eine aktuelle Übersichtsdarstellung findet man hier:

➔ Bundesagentur für Arbeit (2023): Auswirkungen der Fluchtmigration aus der Ukraine auf den Arbeitsmarkt und die Grundsicherung für Arbeitsuchende, Nürnberg, Juni 2023

Daraus einige Befunde:

➞ In Deutschland hat sich die Bevölkerung mit ukrainischer Staatsangehörigkeit von Februar 2022 bis Mai 2023 um über eine Million auf knapp 1,2 Millionen erhöht. Der überwiegende Teil der ukrainischen Schutzsuchenden sind Frauen und Kinder.
➞ Seit dem 1. Juni 2022 können geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer bei Hilfebedürftigkeit Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beantragen. Mit dem Wechsel der Betreuung zu den Jobcentern hat dort eine umfassende Erfassung der Ukrainerinnen und Ukrainer eingesetzt, die sich seitdem in den Arbeitsmarktstatistiken niederschlägt. Dazu ein Beispiel: Ohne die Berücksichtigung ukrainischer Staatsangehöriger läge die Arbeitslosigkeit im Juni 2023 bei 2,36 Millionen und nicht bei 2,55 Millionen.
➞ Im März 2023 haben 708.000 ukrainische Staatsangehörige Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten.
➞ Die Zahl der bei Jobcentern und Arbeitsagenturen gemeldeten erwerbsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainer hat sich bis Juni 2023 auf 499.000 erhöht.
➞ Als arbeitslos waren bei Jobcentern und Arbeitsagenturen im Juni 193.000 Ukrainerinnen und Ukrainer gemeldet.
➞ Im April 2023 gingen 143.000 Ukrainerinnen und Ukrainer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Zusätzlich zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten übten im April 35.000 Ukrainerinnen und Ukrainer eine ausschließlich geringfügige Beschäftigung aus.

Die Bundesagentur für Arbeit weist einschränkend darauf hin: »Die Berichterstattung über die Arbeitsmarktsituation von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern ist qualitativ noch eingeschränkt. So ist eine Berichterstattung über Schulbildung, Berufsausbildung, Zielberuf, Zugangsgründe oder den exakten Aufenthaltsstatus derzeit nicht möglich.«

Generell sind wir angesichts der enormen Dynamik des Geschehens mit erheblichen Unsicherheiten und Noch-nicht-Wissen konfrontiert, was jede substanzielle Prognose erschwert bzw. einschränkt.

»Fazit: Es ist bislang eine wirklich große Aufnahmeleistung erbracht worden, auch durch vielfältiges Engagement aus der Zivilgesellschaft gerade in der Anfangszeit. Mit Blick auf die Arbeitsmarktintegration derjenigen, die zumindest mittelfristig hier bleiben werden (müssen), kann man zum einen zum jetzigen Zeitpunkt konstatieren, dass viele der Geflüchteten aus der Ukraine gute bis sehr gute Voraussetzungen mitbringen, auf den weiterhin aufnahmefähigen deutschen Erwerbsarbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Und auch, wenn die Übergänge noch dauern, sollte man das nicht negativ bewerten, denn aus der Praxis wird eine sehr große Motivation berichtet, die sprachlichen Grundlagen zu legen, was sich auszahlen wird in Zukunft. Gerade aus der Perspektive einer möglichst nachhaltigen Integration und auch volkswirtschaftlich angesichts des hohen formalen Qualifikationsniveaus spricht viel dafür, eine möglichst passgenaue Integration anzusteuern. 
Aber man muss darauf hinweisen, dass man nicht automatisch davon ausgehen darf, dass hier nun Arbeits- und Fachkräfte für Deutschland auf Dauer zur Verfügung stehen werden. Man muss damit rechnen, dass viele wieder in ihre Heimat zurückgehen werden, wenn denn der verbrecherische Krieg gegen die Ukraine vorbei ist – und dass viele dort auch für einen dann anstehenden Wiederaufbau des Landes gebraucht werden.« (Stefan Sell: Geflüchtete aus der Ukraine auf dem deutschen Arbeitsmarkt, in: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales, Heft 7/2023, S.272).