Ende Februar 2022, also kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, lebten nach Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) etwa 155.000 Staatsangehörige aus der Ukraine in Deutschland. Das hat sich massiv verändert in den Monaten nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Im Mai 2022 waren bereits fast eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer im AZR erfasst. Bis Ende Dezember 2022 wurden rund 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland gezählt – wobei man berücksichtigen muss, dass die Zahlen weitaus weniger fest sind als sie vorgetragen werden. Denn für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wurde in der EU erstmals die Richtlinie 2001/55/EG aktiviert – die sogenannte „Massenzustromrichtlinie“ (vgl. dazu den Beitrag Millionen Menschen auf der Flucht, die Aktivierung der „Massenzustromrichtlinie“ und die zahlreichen Folgefragen mit Blick auf die in Deutschland ankommenden Opfer der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine vom 5. März 2022). Diese Richtlinie stammt bereits vom 20. Juli 2001. Sie wurde als Folge des Jugoslawien-Krieges erarbeitet – und niemals angewendet. Nun aber gewährt man den Menschen aus der Ukraine ein Aufenthaltsrecht bis zu drei Jahren, ohne dass sie das herkömmliche Asylverfahren durchlaufen müssen, mit Anspruch auf Sozialleistungen, seit dem Sommer 2022 sind sie in Deutschland in das Grundsicherungssystem (SGB II) integriert, also in das mittlerweile in „Bürgergeld“ umetikettierte Hartz IV-System (die Regelungen gelten zunächst bis März 2024). Von besonderer Bedeutung ist auch die für Flüchtlinge aus der Ukraine anders als für „normale“ Flüchtlinge geltende „Niederlassungsfreiheit“, was natürlich dazu geführt hat, dass zum einen die Verteilung regional sehr unterschiedlich ausfällt und zum anderen die Kommunen „auf Sicht“ fahren müssen, was insbesondere angesichts der Tatsache, dass es aufgrund der Struktur der Geflüchteten einen enormen Bedarf Kinderbetreuung und Schulunterricht gibt, eine enorme Herausforderung darstellt..
Quelle der Abbildung: Kerstin Bruckmeyer et al. (2023): Ukrainerinnen und Ukrainer in der Grundsicherung: Über ein Drittel der Erwerbsfähigen ist alleinerziehend, in: IAB-Forum, 22.02.2023
Es gab einen starken Zuwachs an nach Deutschland geflüchteten Menschen in den Monaten unmittelbar nach Kriegsausbruch. Ab dem Sommer hat sich die Zahl neuer Flüchtlinge aus der Ukraine (vorerst) abgeschwächt. Hinzu kommt, dass es sich keineswegs um einen festen Block handelt, denn ein Teil der Betroffenen ist auch wieder zurück gegangen in die Ukraine oder hat das möglicherweise in den kommenden Monaten vor.
Was wissen wir über die Menschen aus der Ukraine, die nach Deutschland geflüchtet sind?
Erste repräsentative Erkenntnisse über deren Lebenssituation und Zukunftspläne ermöglicht die Studie „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“, eine gemeinsame Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) . Für diese Studie wurden 11.225 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in der Zeit zwischen August und Oktober 2022 befragt.
➔ IAB et al. (2022): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Flucht, Ankunft und Leben, Nürnberg u.a., Dezember 2022
Hier einige zentrale Ergebnisse der Untersuchung:
➞ Der ungewisse Kriegsverlauf und die rechtlichen Rahmenbedingungen prägen die Lebensbedingungen und Bleibeabsichten von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland: 37 % der Geflüchteten möchten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 % bis Kriegsende, 27 % sind noch unentschieden und 2 % planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen.
➞ Die überwiegende Mehrheit der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen (80 %). Viele von ihnen sind ohne Partner (77 %) nach Deutschland gekommen, 48 % mit minderjährigen Kindern. 12 % der Frauen sind mit Partner und minderjährigen Kindern nach Deutschland geflüchtet. Von den Männern leben 71 % mit ihrer Partnerin in Deutschland.
➞ Verglichen mit der Gesamtbevölkerung ihres Herkunftslandes haben die Geflüchteten ein hohes Bildungsniveau: 72 % verfügen über einen Hochschulabschluss.
➞ Nur wenige Geflüchtete haben zum Befragungszeitpunkt gute Deutschkenntnisse (4 %). Die Hälfte der Befragten besucht bereits einen Deutschkurs.
➞ 74 % der Befragten wohnen in einer privaten Unterkunft, nur 9 % in einer Gemeinschaftsunterkunft.
➞ Die Geflüchteten bewerten ihren Gesundheitszustand überwiegend als gut, ihre Lebenszufriedenheit ist im Vergleich zur deutschen Bevölkerung aber deutlich geringer. Auch das psychische Wohlbefinden geflüchteter Kinder fällt im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden Kindern niedrig aus.
➞ 17 % der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter sind zum Befragungszeitpunkt erwerbstätig.
➞ 71 % der erwerbstätigen Geflüchteten üben eine Tätigkeit aus, die einen Berufs- oder Hochschulabschluss voraussetzt.
➞ Die Geflüchteten äußern Unterstützungsbedarf insbesondere beim Erlernen der deutschen Sprache, bei der Arbeitssuche, bei der medizinischen Versorgung und bei der Wohnungssuche.
Und wie sieht es mit der Arbeitsmarktintegration aus?
Als die große Welle an Kriegsflüchtlingen neben anderen – vor allem osteuropäischen – Ländern auch Deutschland erreichte, wurden sofort Stimmen laut, die auf eine „nützliche“ Verwertung der Arbeitskräftepotenziale der Geflüchteten vor dem Hintergrund des seit langem diskutierten Fach- und Arbeitskräftemangels hingewiesen haben. Sehr schnell wurde auch in vielen Medien die Frage aufgeworfen, wie viele der zumeist Ukrainerinnen denn wo arbeiten.
»Rund ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine arbeiten bereits Tausende Ukrainer in Deutschland. Die Agentur für Arbeit prognostiziert nun eine enorme Entlastung des Arbeitsmarktes in diesem Jahr. Die Ukrainer wollten arbeiten: „Wir sehen eine ganz hohe Motivation“ ….«, wird Daniel Terzenbach aus dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit in diesem Artikel zitiert: Arbeitsagentur: Ukraine-Flüchtlinge entlasten Arbeitsmarkt massiv. Das klingt nach einem „guten Geschäft“ für die deutsche Seite. Schauen wir genauer hin:
»Rund ein Jahr nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine geht die Bundesagentur für Arbeit von einer deutlichen Entlastung für den deutschen Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge aus dem Land aus. Schon jetzt seien seit Beginn des Krieges rund 65.000 Ukrainerinnen und Ukrainer mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt als vor Beginn der Kämpfe … Hinzu kämen 21.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Minijobs. Sie alle trügen zur Bekämpfung des Personalmangels in der deutschen Wirtschaft bei.« Daniel Terzenbach »erwartet, dass die Zahl der Beschäftigten aus der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten deutlich steigen werde – dann, wenn die Frauen und Männer die Integrations- und Berufssprachkurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge absolviert hätten.« Vor allem ab dem zweiten Quartal werde eine größere Zahl von Absolventen mit guten Sprachkenntnissen zur Verfügung stehen.
»Bei der Flüchtlingswelle in den Jahren 2014 bis 2016 sei das Ziel gewesen, nach fünf bis sechs Jahren die 50 Prozent der Menschen in Beschäftigung zu haben – das sei trotz der Widrigkeiten der Corona-Pandemie erreicht worden. Jetzt bestehe die Chance, durch verbesserte Verfahren und zielgenauere Vermittlungen einen noch höheren Anteil in Jobs zu bringen.«
Nun wird der eine oder andere an die besondere Struktur der Geflüchteten aus der Ukraine denken, also vor allem den hohen Anteil an Frauen und darunter von Müttern mit oftmals kleinen, betreuungsbedürftigen Kindern. Ist da nicht generell ein Problem in unserem Land (Stichwort Kita-Notstand)? Das wird auch angesprochen – inklusive der üblichen eher verzweifelt daherkommenden Rufe nach „flexiblen Übergangslösungen“ wie der bekannten Instrumentalisierung von Tagespflegepersonen (die aber auch nicht vor Ort rumsitzen und nur darauf warten, dass sie gebraucht werden): Zum Hemmnis könnte nach Terzenbachs Ansicht die Kinderbetreuung werden. „Es stehen zu wenig Betreuungsplätze zur Verfügung, die Kommunen haben in ihrer Bedarfsplanung die Krise nicht vorhersehen können. Deshalb brauchen wir temporäre Brückenlösungen, etwa den Ausbau des Angebots von Tagesmüttern, die sich um mehrere Kinder kümmern.“
Andere Stimmen kommen vergleichbar positiv daher: »Mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn nach Deutschland gekommen. Erstaunlich viele haben schon Jobs gefunden«, so Tina Groll in ihrem Beitrag Die unbemerkte Integration: Wer »ist eigentlich tatsächlich gekommen und zunächst auch geblieben? Die neuesten Daten stammen vom Dezember 2022, demnach lebten Ende des Jahres 762.000 erwerbsfähige Erwachsene mit ukrainischer Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik, zwei Drittel davon sind Frauen, meist Mütter. Denn außerdem hielten sich Ende des Jahres mehr als 300.000 Kinder unter 15 Jahren und gut 100.000 … Senioren über 65 Jahren in Deutschland auf.«
Dann kommt ihre These: »Anders als 2015 und 2016 verläuft die Integration der Ukrainerinnen und Ukrainer auf dem deutschen Arbeitsmarkt aber nahezu unbemerkt.« Auch Groll verweist auf die Zahl der Menschen aus der Ukraine, die bereits einer sozialversicherungspflichtigen oder zumindest einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen:
»Wer nun einwendet, dass dennoch die überwiegende Mehrheit nicht arbeitet, sondern Sozialleistungen bezieht, sollte sein Augenmerk auf die große Zahl der Flüchtlinge legen, die derzeit als unterbeschäftigt gelten: Das waren im Januar 346.000 Personen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Unterbeschäftigung drückt aus, dass zahlreiche Arbeitskräfte vorhanden sind, die aber temporär dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Für die ukrainischen Geflüchteten gilt hier in der Regel, dass sie bereits alles Mögliche dafür tun, um rasch eine Beschäftigung zu finden – sie machen etwa Integrations- und Sprachkurse oder Weiterbildungen.«
Mit Blick auf die potenzielle Arbeitsmarktintegration hebt sie hervor: »Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen deutschen und ukrainischen Arbeitslosen. Während unter den Deutschen jeder Vierte über 55 Jahren alt ist, sind es bei den Ukrainerinnen und Ukrainern nur 15 Prozent.« Arbeitsmarktforscher gehen »davon aus, dass die Arbeitslosigkeit bei den ukrainischen Geflüchteten nur temporär sein wird – sofern sie denn in Deutschland bleiben werden.«
Das ist ein bedeutsamer Nebensatz – „sofern sie denn in Deutschland bleiben werden“. Dieser Aspekt ist der mit der größten Unsicherheit und sollte jeden voreiligen Schluss verbieten, dass die Geflüchteten aus der Ukraine einen dauerhaften Beitrag zur Lösung der Arbeitskräfteknappheit in vielen Branchen hier leisten werden bzw. können.
»Einige Branchen profitieren jetzt bereits von den Geflüchteten: Vor allem die Dienstleistungsbranche verzeichnet wegen des Zuzugs der Menschen aus der Ukraine einen Beschäftigungszuwachs. Jobs fanden sie hier vor allem in der Zeitarbeit, im Gartenbau und im Gebäudemanagement, aber auch in Hotellerie und Gastronomie sowie in der Industrie.«
Es handelt sich hier unvermeidlich um fragile Momentaufnahmen, die nur erste Umrisse beleuchten (können). Das Umfeld, in dem sich Fragen der Arbeitsmarktintegration bewegen, ist überaus unsicher und beweglich. Viel wird davon abhängen, wie lange der Krieg in der Ukraine seine Schneisen der Zerstörung noch schlagen wird. Noch wollen die meisten der Geflüchteten verständlicherweise zurück in die Heimat – und sollte hoffentlich bald die Katastrophe beendet werden können, dann steht ein viele Jahre in Anspruch nehmender Wiederaufbau des Landes an, für den man natürlich viele derjenigen brauchen wird, die hier temporär Schutz gefunden haben. Es ist kompliziert.
Ein Blick über die Grenze: Wie läuft es in der Schweiz?
Auch die Schweiz hat sich für Schutzsuchende aus der Ukraine geöffnet: »Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs wurde in der Schweiz im März 2022 erstmalig der Schutzstatus S aktiviert. Geflüchtete aus der Ukraine erhielten dadurch rasch ein Aufenthaltsrecht und somit auch eine Arbeitserlaubnis. Eine Befragung der geflüchteten Personen zeigt, dass sie sehr gut ausgebildet und motiviert sind, sich in den Schweizer Arbeitsmarkt zu integrieren.« Das kann man dem Beitrag Hohe Arbeitsmarktchancen für Personen mit Schutzstatus S von Tobias Fritschi, Alissa Hänggeli und Peter Neuenschwander entnehmen, der am 25. Januar 2023 veröffentlicht wurde.
Über 70.000 Geflüchtete aus der Ukraine haben in der Schweiz bislang den Schutzstatus S erhalten. Viele davon sind in erwerbsfähigem Alter. Im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) hat die Berner Fachhochschule zur Arbeitsmarktintegration eine repräsentative Umfrage bei 8.000 Personen mit Schutzstatus S durchgeführt.
Die Befunde aus der Schweizer Studie (vgl. hierzu auch den Schlussbericht von Tobias Fritschi et al.: Arbeitsmarktrelevante Merkmale von Personen mit Schutzstatus S, Januar 2023) decken sich in vielen Punkten mit dem, was wir derzeit in Deutschland sehen:
»Bei den Schutzsuchenden handelt es sich um eine sehr gut ausgebildete Personengruppe. 70% der befragten Personen im Alter von 18 bis 59 Jahren verfügen über einen Hochschulabschluss und knapp ein Viertel besitzt einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Sie haben damit einen höheren Bildungsstand als der Durchschnitt der Schweizer Wohnbevölkerung, bei der 42% über einen Hochschulabschluss und 45% über einen Abschluss auf Sekundarstufe II verfügen.
Da viele Schutzsuchende Ausbildungen und Berufserfahrungen in Branchen mit Fachkräftemangel – z.B. Bau- und Ingenieurwesen, Gesundheits- und Sozialwesen, Pädagogik oder Informatik – aufweisen, ist ihr Potenzial im Schweizer Arbeitsmarkt sehr hoch.
Für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration sind Sprachkenntnisse zentral. Die Umfrage zeigt, dass 83% der Befragten einen Sprachkurs besuchen oder diesen bereits abgeschlossen haben. 44% der erwachsenen Befragten geben an, in Englisch oder einer Landessprache das meiste zu verstehen und sich gut mündlich ausdrücken zu können. Bei den unter 25-Jährigen geben dies sogar über 60% an.«
Die Ergebnisse der Befragung lassen auf ein großes Potenzial von Personen mit Schutzstatus S für die Arbeitsmarktintegration schließen, so das Fazit. Eine vergleichbare Einschätzung gab es auch in der im November 2022 veröffentlichten Studie Ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz. Ergebnisse einer Befragung zu Fluchterfahrungen und zur Lebenssituation von Dirk Baier, Judith Bühler und Andrea Barbara Hartmann von Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.