Man kennt das mittlerweile zur Genüge, vor allem bei sozialpolitischen Themen: Da werden bestimmte Themen durchs Dorf der Aufmerksamkeit getrieben und bereits nach wenigen Tagen verschwindet das in der Versenkung. Und viel zu selten, meistens sogar überhaupt nicht, wird seitens der Berichterstattung nachgefragt, was eigentlich aus der Angelegenheit geworden ist. Selbst dann nicht, wenn es sich um wahrhaft existenzielle Dinge handelt.
Am 2. Februar 2022 wurde hier unter der Überschrift „Die Totengräber“: Ein Pflegeheimskandal erschüttert Frankreich und mit Orpea geht es wieder einmal um die großen renditeorientierten Pflegeheimbetreiber berichtet: In Frankreich sorgt das Buch „Les Fossoyeurs“ („Die Totengräber“) von Victor Castanet für Aufregung. Die Zeitung LE MONDE hat vorab Auszüge veröffentlicht, die den schockierenden Alltag in Altenheimen des französischen Konzerns „Orpéa“ anprangern, der in Europa mehr als 1.000 Einrichtungen betreibt. Dem Journalisten Castanet geht es aber nicht eine generelle Kritik an den Alten- und Pflegeheimen, sondern um das „Business mit dem Alter“, den das weltweit führende Unternehmen „Orpéa“ offenbar betreibt. Die „Totengräber“, die Castanet vorstellt, sind nicht die kleinen Angestellten, sondern die Entscheidungsträger, für die die alten Menschen lukrativ sind. Und in dem Beitrag aus dem vergangenen Jahre wurde auch darauf hingewiesen, dass der Orpea-Konzern nicht nur in Frankreich unterwegs ist – in Deutschland spielt er ganz oben mit in der Rangliste der größten privatgewerblichen Pflegeheimbetreiber.
In der FAZ wurde damals der Beitrag Dieser Pflegeheimskandal erschüttert Frankreich veröffentlicht, dessen Formulierung im Titel auf schwerwiegende Missstände hinweist: »Personalmangel, Essensrationierung und Bewohner, die stundenlang in ihren eigenen Exkrementen liegen: Betreiber Orpea steht massiv in der Kritik. Nach einem heftigem Kurssturz an der Börse fliegt der Chef.«
Am 28. März 2022 wurde dann hier unter der Überschrift Was ist eigentlich aus den „Totengräbern“ geworden? Frankreich möchte den Orpea-Konzern verklagen berichtet: Eine Untersuchungskommission der französischen Regierung hat die erhobenen Vorwürfe gegen das Unternehmen nun in weiten Teilen bestätigt. Die Autoren des Berichts haben auf „erhebliche Funktionsstörungen in der Organisation der Gruppe“ hingewiesen. Diese gingen zulasten der Versorgung der Bewohner in den Pflegeheimen von Orpea. Das betreffe beispielsweise die Ernährungspolitik. Auch gebe es in der Buchhaltung „mutmaßlich regelwidrige Praktiken“, unter anderem was Überschüsse aus der öffentlichen Finanzierung angeht.
Dann konnte man dem damaligen Bericht entnehmen: »Die Ergebnisse der Untersuchung sollen nun an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Die muss nun über weitere rechtliche Schritte entscheiden.«
Nun wissen wir alle, dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen, aber wenn sie sich mal in Bewegung gesetzt haben, kann man zu einem späteren Zeitpunkt überrascht werden. Was ist der Stand über ein Jahr später, im Sommer 2023?
Am 30. Juni 2023 berichtet die französische Tageszeitung „Le Monde“, dass zwei Ex-Manager des Konzerns in Untersuchungshaft gekommen sind: Scandale Orpea: deux ex-dirigeants en détention provisoire après l’ouverture d’une information judiciaire: Die ehemaligen Generaldirektoren und Finanzdirektoren des privaten Pflegeheimkonzerns werden der Unterschlagung beschuldigt. Ein weiterer ehemaliger leitender Angestellter, der ebenfalls angeklagt ist, wurde unter gerichtliche Aufsicht gestellt. Die Gruppe ist außerdem Gegenstand mehrerer Voruntersuchungen, insbesondere wegen institutioneller Misshandlung.
Am 29. Juni 2023 ist eine gerichtliche Untersuchung wegen Vertrauensmissbrauchs, Betrugs, Missbrauchs von Sozialvermögen, Geldwäsche in organisierter Form und Korruption eingeleitet worden, wie die Staatsanwaltschaft von Nanterre bestätigt hat.
Nun muss man wissen: Die nun eröffnete offizielle Untersuchung geht zurück auf eine Voruntersuchung, die bereits im Mai 2022 eingeleitet wurde, nachdem die Orpea-Gruppe selbst Beschwerden eingereicht hatte, in denen sie interne „Missstände“ anprangerte, „die insbesondere von ehemaligen hochrangigen Führungskräften begangen worden sein sollen“. Mit der Untersuchung beauftragt worden waren die Generalinspektionen des französischen Gesundheits- und des Finanzministeriums. Sie haben damals sechs Wochen ermittelt.
➔ Die Le Monde hat an anderer Stelle über die Einschätzung des Verfassers von „Les Fossoyeurs“ („Die Totengräber“) berichtet. Victor Castanet beklagt eine fatale Gleichzeitigkeit von „zu schnell“ und „zu langsam“ hinsichtlich der staatlichen Untersuchungen im vergangenen Jahr: Trotz des Umfangs der Aufgabe wurden die administrativen Untersuchungen „mit einer schädlichen Eile“ durchgeführt, da die Präsidentenmehrheit darauf bedacht war, das Thema vor den Wahlen „unter den Teppich zu kehren“, so Victor Castanet. Und die Generalinspektionen für soziale Angelegenheiten (IGAS) und Finanzen (IGF) begannen ihre Arbeit zwei Wochen nach der öffentlichen Bekanntgabe des Inhalts des Buches, so dass die Orpea-Leitung vor ihrem Besuch „Zeit hatte, gründlich aufzuräumen“, kritisiert der Journalist in der Neuauflage seines Buches, die im Januar 2023 erschienen ist. Insgesamt wird mit Blick auf das französische Pflegeheimsystem bilanziert: Der Skandal hat zu verstärkten Kontrollen, strengeren Haushaltsregeln und mehr Transparenz geführt, aber nichts am chronischen Personalmangel in den Pflegeheimen geändert.Der Skandal hat zu verstärkten Kontrollen, strengeren Haushaltsregeln und mehr Transparenz geführt, aber nichts am chronischen Personalmangel in den Pflegeheimen geändert.
Erneut wird aus die bereits im Mai des vergangenen Jahres veröffentlichten Rechercheergebnisse des Journalistenkollektivs Investigate Europe hingewiesen, die herausgefunden haben, dass die 2007 gegründete luxemburgische Holding Lipany „Vermögenswerte im Wert von 92 Millionen Euro angehäuft“ hat, „hauptsächlich Anteile an zahlreichen von Orpea betriebenen Pflegeheimen und Kliniken“ in Frankreich und drei anderen europäischen Ländern. Und das „zweifelhafte Finanzgeschäfte getätigt“ worden sind. Lipany gehört Roberto Tribuno, einem Buchhalter und Steuerberater, der früher der Chef von Orpea in Italien war. Diese Holding „macht fast keine Gewinne und hat noch nie Dividenden ausgeschüttet“. Ihre Aktivitäten werden „vollständig durch Schulden finanziert“ – und zwar auf „zumindest undurchsichtige Weise“, so die Erkenntnisse der investigativen Recherche. Dazu auch und immer noch lesenswert der Artikel Pflegeheimbetreiber in der Kritik: Orpeas schmutziges Geheimnis von Leila Minano, Maxence Peigné und Nico Schmidt aus dem Mai 2022.
Neben der gerichtlichen Untersuchung dieser Missstände ist Orpea auch von mehreren Voruntersuchungen betroffen, darunter eine Untersuchung wegen institutioneller Misshandlung und Finanzdelikten. Die Gruppe ist auch Gegenstand einer Untersuchung wegen „Fälschung und Gebrauch von Fälschungen und Verstoß gegen das Arbeitsrecht durch missbräuchliche Verwendung von befristeten Verträgen“.
Wie gesagt – die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber man kann einerseits hoffen, dass das nicht versandet. Auf der anderen Seite – das war sicher auch der Grund der Beschwerden seitens des Orpea-Konzerns über ehemalige Mitarbeiter – werden wir hier erneut Zeugen einer Personalisierung von strukturell höchst problematischen Zuständen und man kann als Unternehmen weitermachen, ohne dass die Missstände dem institutionellen Gefüge als solches zugeschrieben werden.
„Der“ Finanzmarkt hat auf alle Fälle schon reagiert – und das mehr als deutlich:
In Deutschland hat sich an der Positionierung des Konzerns ganz vorne in der Rangliste der privat-gewerblichen Heimbetreiber nichts geändert: Unter den Top 30 Pflegeheimbetreiber 2023 liegt die Orpea Deutschland GmbH nach Korian, Alloheim und Victor’s Group weiterhin auf Platz 4 mit 147 Pflegeheimen und 13.044 Pflegeheimplätzen.