Long Covid in Deutschland auf der Basis von Arbeitsunfähigkeiten: Die Zahl der Betroffenen ist überschaubar, die aber haben lange Ausfallzeiten

Erst vor kurzem wurde hier am 28. August 2022 über neue Zahlen Long Covid betreffend aus den USA berichtet, die darauf hindeuten, dass das bisher geschätzte Ausmaß wohl größer zu sein scheint: Das „Schattenmonster“ Long Covid bekommt Umrisse. Und die sind in den USA ziemlich groß. Nun kann man dazu anmerken, dass es sich zum einen um Zahlen die USA betreffend handelt, zum anderen aber auch die neuen Schätzungen auf Hochrechnungen basieren, die aus Haushaltsbefragungen resultieren.

Wie ist die Situation in Deutschland? Dazu hat sich nun das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) zu Wort gemeldet: Krankschreibungen aufgrund von Long-COVID oder Post-COVID: Wenige Betroffene, aber lange krankheitsbedingte Ausfallzeiten, so ist deren Bericht überschrieben. Danach zeigen den Daten der Krankenkasse, dass seit Pandemiebeginn mehr als jeder Fünfte durchgängig erwerbstätige AOK-Versicherte im Zusammenhang mit einer akuten COVID-19-Erkankung ausgefallen ist. In der Folge waren 3,8 Prozent dieser Personen aufgrund einer Long-COVID- oder Post-COVID-Symptomatik arbeitsunfähig. Das entspricht etwa 0,9 Prozent aller erwerbstätigen AOK-Versicherten.

Und wie lange fallen die Erwerbstätigen aus? »Während eine akute COVID-19-Infektion mit durchschnittlich 9,5 krankheitsbedingten beruflichen Ausfalltagen verbunden war, sind es bei Beschäftigten mit einer anschließenden Long-COVID- oder Post-COVID-Symptomatik fast sieben Wochen.«

Das WIdO weist sogleich auf Unterschiede mit Blick auf die Virus-Varianten hin: »So waren in der jüngsten, seit Frühjahr 2022 durch die Omikron-Variante geprägten Krankheitswelle nur 2,1 Prozent der Beschäftigten wegen Long-COVID oder Post-COVID krankgeschrieben, während es beim Vorherrschen der Delta-Variante noch 6,3 Prozent waren.«

Allerdings: »Die erkrankten Beschäftigten waren aber auch in der Omikron-Welle noch schwer beeinträchtigt und fehlten durchschnittlich mehr als fünf Wochen am Arbeitsplatz.«

Schauen wir uns die Zahlen der Krankenkasse genauer an:

»In den zurückliegenden 29 Monaten (1. März 2020 bis 31. Juli 2022) haben insgesamt 1,8 Millionen durchgängig bei der AOK versicherte Beschäftigte im Zusammenhang mit einer akuten COVID-19-Infektion in ihren Unternehmen gefehlt. Damit war seit Beginn der COVID-19-Pandemie mehr als jeder fünfte Beschäftigte (22,5 Prozent) betroffen. Pro Erkrankungsfall gab es im Durchschnitt 9,5 Ausfalltage. 3,8 Prozent der Betroffenen waren laut den Diagnosen ihrer Arbeitsunfähigkeitsmeldung im weiteren Verlauf von Long-COVID oder Post-COVID betroffen. Dies entspricht seit Pandemiebeginn etwa 68.000 AOK-versicherten Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung durchschnittlich 47,4 Tage in ihren Betrieben fehlten.
In der Phase, in der die sogenannte Delta-Variante dominierte (Oktober bis Dezember 2021), gab es dabei verhältnismäßig mehr, absolut betrachtet jedoch weniger von Long-COVID oder Post-COVID Betroffene als in der Phase, in der die Omikron-Variante vorherrschte (Februar bis April 2022). So wurden im Rahmen einer jeweils dreimonatigen Nachbeobachtungszeit in der Delta-Welle 6,3 Prozent von den mehr als 200.000 akut COVID-19-erkrankten Beschäftigten wegen Long-COVID oder Post-COVID arbeitsunfähig geschrieben. Dies traf in der Omikron-Welle nur auf 2,1 Prozent der etwa 782.000 akut erkrankten Personen zu. Von den Arbeitsunfähigkeitsfällen aufgrund von Long-COVID oder Post-COVID stammen mehr als die Hälfte (54,5 Prozent) aus dem Omikron-Zeitraum. Die durchschnittliche Zahl der erkrankungsbedingten Ausfalltage lag jedoch im Delta-Zeitraum mit 44,6 Tagen deutlich über der des Omikron-Zeitraums mit 39,6 Tagen.«

Und es gibt Unterschiede in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht:

»Über den gesamten Pandemiezeitraum hinweg zeigte sich in der WIdO-Auswertung eine höhere Betroffenheit unter älteren und unter weiblichen AOK-versicherten Erwerbstätigen. So war der Anteil der über 60-Jährigen, die nach einer akuten COVID-Erkrankung längerfristig arbeitsunfähig waren, mehr als viermal so hoch wie der Anteil bei den unter 29-Jährigen (1,4 Prozent versus 0,3 Prozent). Zudem waren ältere Erwerbstätige fast doppelt so lang erkrankt wie jüngere (55,7 Tage je Fall versus 31,8 Tage je Fall). Die Auswertung zeigt zudem, dass Frauen häufiger von Long-COVID oder Post-COVID betroffen waren als Männer (1 Prozent versus 0,7 Prozent). Dieser Unterschied zeigte sich trotz des geringeren Altersdurchschnitts bei den weiblichen Erkrankten (49,1 Jahre versus 50,5 Jahre).«

Erhebliche Unterschiede zwischen den Berufen

Nach der Analyse des WIdO waren in Berufen der Gesundheits- und Krankenpflege sowie in Berufen der Kinderbetreuung und Kindererziehung die meisten Beschäftigten von Long-COVID- oder Post-COVID betroffen.

Mit Blick auf die Betroffenheit von einer COVID-19-Infektion kann man den Daten entnehmen:

»Vor allem Beschäftigte in den Branchen Erziehung und Gesundheitswesen waren von Erkrankungen im Zusammenhang mit einer akuten COVID-19-Infektion betroffen. Betrachtet man alle erwerbstätigen 14,1 Millionen Personen, die im Pandemie-Zeitraum von März 2020 bis Juli 2022 mindestens einen Tag bei der AOK versichert waren, so waren Berufe der Kinderbetreuung und Kindererziehung mit 28.315 Erkrankten je 100.000 AOK-Mitglieder am häufigsten betroffen, gefolgt von medizinischen Fachangestellten mit 25.849 Erkrankten je 100.000 AOK-Mitglieder. In Berufen der pharmazeutisch-technischen Assistenz (24.832 Erkrankte je 100.000 AOK-Mitglieder) und in Berufen der Ergotherapie (24.651 Erkrankte je 100.000 AOK-Mitglieder) wurden ebenfalls viele Krankschreibungen im Zusammenhang mit akuten COVID-19-Infektionen verzeichnet. Die niedrigsten COVID-19-bedingten Fehlzeiten wiesen Berufe in der Landwirtschaft (3.599 Erkrankte je 100.000 AOK-Mitglieder) und im Hochbau (5.809 Erkrankte je 100.000 AOK-Mitglieder) auf.«

Sollte es eine weitere COVID-19-Welle bis Ende 2022 geben, dann könnte das erneut Auswirkungen auf die krankheitsbedingten Fehlzeiten bei Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur haben.

Nun kann man argumentieren, dass eine beispielsweise einwöchige Ausfallzeit im Gefolge einer Covid-19-Infektion sowohl natürlich für die Betroffenen wie auch deren Arbeitgeber problematisch, aber letztendlich überschaubar ist. Anders hingegen in dem Bereich, bei dem es um Long-COVID geht.

Was wissen wir über Long- bzw. Post-Covid unter den Erwerbstätigen?

Die WIdO-Analyse berücksichtigt nur Personen, bei denen vor einer dokumentierten Long-COVID- oder Post-COVID-Symptomatik eine AU-Meldung im Zusammenhang mit einer akuten COVID-19-Infektion in der ärztlichen Vorgeschichte dokumentiert war. Dieser methodische Hinweis ist durchaus von Bedeutung:

➞ »Bei 29 Prozent aller von Long-COVID oder Post-COVID betroffenen Beschäftigten wurde jedoch eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsmeldung dokumentiert, ohne dass zuvor eine Krankmeldung im Zusammenhang mit einer akuten COVID-19-Infektion verzeichnet worden war. Dies war bei knapp 28.000 Personen der Fall. In dieser Beschäftigtengruppe war die Dauer pro AU-Fall zudem deutlich geringer als bei denjenigen mit dokumentierter akuter COVID-19-Infektion in der Vorgeschichte. Erklärungen für diese „Lücke“ könnten falsch-negative Testergebnisse, symptomfreie bzw. nicht-detektierte Akut-Erkrankungen, Akut-Erkrankungszeiten bis zu drei Tagen Arbeitsunfähigkeit, unterschiedliche Dokumentationsgewohnheiten bei Leistungserbringern sowie das uneinheitliche, verhältnismäßig weit und eher unscharf definierte Erkrankungsbild von Long-COVID und Post-COVID sein.«

Das WIdO berichtet zum weiteren Vorgehen:

»Die Bezeichnung Long-COVID umfasst aktuell ein breites Spektrum körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen in der Folge einer akuten COVID-19-Infektion. Ein einheitliches Krankheitsbild lässt sich bis dato nicht eingrenzen. Beeinträchtigungen, die über vier Wochen bis maximal zwölf Wochen nach einer Infektion andauern, werden nach aktueller Definition der Weltgesundheitsorganisation als Long-COVID bezeichnet. Länger anhaltende Beeinträchtigungen werden als Post-COVID definiert. Um beide Folgen einer akuten COVID-19-Infektion abzubilden, beinhaltet die vorliegende Auswertung des WIdO gemäß den obenstehenden Definitionen sowohl das Long-COVID als auch das Post-COVID-Syndrom. Ausgewertet wurden die entsprechenden Diagnosecodes, die ab Ende 2020 sukzessive eingeführt und damit auch in den arbeitsunfähigkeitsauslösenden Diagnosen dokumentiert wurden, sowie AU-Fälle mit dokumentierter Akut-COVID-19-Diagnose, die länger als 28 Tage andauerten. Kardiale, neurologische, psychische oder weitere Folgeerkrankungen nach einer COVID-19-Erkrankung, die nicht als Long-COVID- oder Post-COVID klassifiziert wurden, blieben unberücksichtigt.«

Hinsichtlich der am häufigsten von Long- bzw. Post-Covid betroffenen Berufsgruppen ergibt sich das folgende Bild:

Auch wenn sich die allgemeine Lage zu normalisieren scheint, sollte man aufmerksam bleiben mit Blick auf die Langzeitfolgen

In der digitalen September-Ausgabe der Zeitschrift „Gesundheit & Gesellschaft“ wurde ein Interview veröffentlicht mit dem Marburger Kardiologen und Long-Covid-Experten Bernhard Schieffer: „Long Covid wird ein Problem bleiben“.

➞ »Prof. Dr. Bernhard Schieffer ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Marburg. Der 58-Jährige ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung. Bereits in seiner Habilitation befasste Schieffer sich mit dem Renin-Angiotensin-System, das eine zentrale Rolle bei Gefäßpro­zessen und auch bei Covid-19 spielt. Seit Anfang 2021 behandelt er als Teil eines interdisziplinären Teams Long-Covid-Patienten.«

Daraus einige Aspekte. Zur Frage nach dem Umfang der von Long- bzw. Post-COVID-Betroffenen:

»Die Literaturangaben variieren zwischen fünf und 40 Prozent aller Infizierten. Ich schätze, dass zehn bis 15 Prozent signifikante Long-Covid-Symptome entwickeln – egal, wie mild die akute Infektion verläuft. Wir reden hier, konservativ gerechnet, von zwei Millionen Patienten. Jede Corona-Welle zieht neue Fälle nach sich. Es trifft oft jüngere, vorher aktive Menschen. Diese Menschen werden buchstäblich aus ihrem Leben, ihrem Job gerissen. Das sind Mütter, Richterinnen, Polizisten. Die haben Geld verdient, Steuern und Sozialbeiträge gezahlt. Wir brauchen diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt und nicht auf dem Krankenbett.«

Die Versorgungslage diese Menschen betreffend ist problematisch:

»Die Betroffenen sind Suchende in der Wüste. Wir haben noch zu wenig Behandlungsangebote. Einige Long-Covid-Ambulanzen sind am Platzen. Bei uns warten 3.800 Patienten auf einen Termin. Die Wartezeit beträgt vier bis fünf Monate, mindestens. Für Kinder ist die Lage noch schwieriger. Das ist ein großes, schwarzes Loch im Moment. Es gibt nur wenige Kliniken, die Kinder mit Long Covid betreuen.«

Gibt es Gruppen, die besonders gefährdet für Long Covid sind?

»Primär sind das eher jüngere Menschen, deren Immunsystem zum Zeitpunkt der Infektion oder Impfung oft unbemerkt vorbelastet war. Das kann eine – auch stille – Vorinfektion sein, eine Allergie, eine Autoimmunerkrankung, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder andere Immunbelastungen. Häufig spielt das Epstein-Barr-Virus, kurz EBV, eine Rolle.«

»Insgesamt scheinen Frauen, genauer: Frauen vor der Menopause, stärker betroffen. Das Verhältnis ist 60 oder 70 Prozent Frauen zu 30 oder 40 Prozent Männern.«

Welche Beschwerden werden im Long-COVID-Umfeld beobachtet?

»Es können unterschiedliche Organe wie Herz, Lunge, Nervensystem, Blut und Immunsystem betroffen sein. Das erklärt die Symptomvielfalt. Wir sehen drei Hauptkomplexe: Der eine betrifft den kardiovaskulären Bereich, das ist zum Beispiel das Posturale Tachykardiesyndrom. Betroffene leiden etwa an Schwindel, Schwäche, Herzrasen, Atemnot und vielem mehr. Das kann bis zum Kreislaufkollaps gehen. Außerdem gibt es Symptome, die sich am Kopf darstellen, wie Geschmacksstörungen, Riechstörungen, Tinnitus, Migräne, Kopfschmerzen und vor allem Brainfog, also Nebel im Kopf. Zudem treten periphere neurologische Symptome wie Lähmungen, Muskelzuckungen und -schwächen auf. Viele Patienten zeigen klassische Charakteristika von ME/FCS. Das ist die myalgische Enzephalomyelitis mit Chronic Fatigue Syndrom, die bis zur Bettlägerigkeit führen kann.«

Aber sind da nicht auch viele Menschen dabei, die auf dem „Ticket“ Long-Covid mit ihren Beschwerden zu reisen versuchen? Mit diesem Punkt wird man in der Debatte immer wieder konfrontiert. Dazu Schieffer:

»Wir finden bei nahezu allen unseren Patienten auffällige Laborparameter. Wir sehen oft Veränderungen des Immunsystems: eine Verschiebung im Verhältnis von CD4- zu CD8-Zellen, Monozytosen, erhöhte Eosinophile, Immunglobuline und Zytokine. Schauen Sie sich mal einen Patienten mit Long Covid an: Er ist um Jahre gealtert, hat graue Haare und hat ein paar Jahre Lebenszeit verloren. Das hat alles nichts mit Psychosomatik zu tun.«

Und zu den oft berichteten Angstgefühlen und Depressionen nach einer Infektion: »Wir sehen viele psychische Veränderungen, die mit Genesung wieder abklingen. Das hat trotzdem nichts mit Psychosomatik zu tun, sondern mit entzündlichen Prozessen im Gehirn. Das Renin-Angiotensin-System und vor allem das Enzym ACE2 finden sich in hoher Konzentration im Stammhirnbereich, also dort, wo viele unserer Emotionen und unsere kognitive Leistungsfähigkeit sitzen. Und genau dort greift das Virus oder das Spike-Protein an.«

Es dauert Monate, bis sich die Menschen wieder zurück in ihren Alltag gekämpft haben.

Zu den aus Sicht von Schieffer notwendigen gesundheitspolitischen Konsequenzen:

»Je früher behandelt wird, desto besser. Umso eher können die Patienten zurück in ihr Leben. Dazu braucht es Strukturen in der Vor- und Nachsorge. Wir brauchen in jedem Bundesland ausgewiesene Institute für Long-Covid-Forschung, also etwa Helmholtz-Schwerpunktzentren. Diese Zentren sollten untereinander vernetzt sein und auch sektorenübergreifend mit niedergelassenen Ärzten Versorgungsnetze bilden. Die Zentren erstellen und beginnen die Therapie. Damit gehen die Patienten zurück zum Facharzt, also zum Kardiologen oder Neurologen. Solche Strukturen kann man relativ schnell aufbauen … Wir haben viel Geld in die Grundlagenforschung investiert. Wir dürfen nun nicht Gefahr laufen, die Versorgungsforschung, die an den universitären Schwerpunktzentren sitzt, zu vernachlässigen. Long Covid wird ein Problem bleiben. Das muss auch in den Entgeltsystemen verankert werden. Bisher ist unklar, wie das in die Praxis eingebettet und abgerechnet werden soll. Auch die Krankenkassen müssen überlegen, mit welchen Schwerpunktzentren und welchen Ärzten sie Behandlungsverträge schließen wollen. Ansonsten ist Wildwuchs programmiert.«