Das deutsche Alterssicherungssystem (wenn wir von Sondersystemen wie den Pensionen für die Beamten absehen) basiert auf drei – allerdings sehr unterschiedlich großen – Säulen: Auf der umlagefinanzierten und bis auf definierte Ausnahmen obligatorischen gesetzlichen Rentenversicherung, ergänzt für einige um betriebliche Altersvorsorge sowie die partiell staatlich subventionierte private Altersvorsorge (Stichwort Riester-Rente). In den beiden kapitalgedeckten Welten der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge gibt es anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung für die dort Pflichtversicherten keinen Versicherungszwang, es ist eine Frage der individuellen Entscheidung (im Zusammenspiel mit der Landschaft an vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Angeboten), ob man sich ergänzend absichert, wobei das in der betrieblichen Altersvorsorge schon teilweise durchlöchert wurde.
Die älteren Semester unter den Lesern werden sich erinnern: Als um die Jahrtausendwende die damalige rot-grüne Bundesregierung in Person des Bundesarbeitsministers Walter Riester (SPD) eine Absenkung des Absicherungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der diese angeblich mehr als kompensierenden staatlichen Förderung einer privaten Altersvorsorge verknüpft hat (später dann als „Riester-Rente“ in die Umgangssprache eingegangen), gab es einen kurzen Moment, in dem tatsächlich eine Verpflichtung der Betroffenen zur privaten Altersvorsorge eingeführt werden sollte. Dies wurde dann – auch in Reaktion auf einen medialen Aufschrei – schnell wieder von der Agenda genommen und man begnügte sich mit der Ausgestaltung als individuelle Option, wobei das schon damals dahingehend kritisch gesehen wurde, dass gerade diejenigen, die auf die Kompensation der allgemeinen Rentenkürzung angewiesen seien, also die unteren und mittleren Einkommen, möglicherweise unterdurchschnittlich an der der geförderten privaten Altersvorsorge partizipieren, da sie aufgrund der Nicht-Verpflichtung und angesichts ihrer konkreten Haushaltslage die eigene Beitragsbelastung scheuen oder nicht dazu in der Lage sind, das aus dem laufenden Haushaltseinkommen zu stemmen.
Seitdem ist immer wieder der Gedanke, neben der umlagefinanzierten Pflichtversicherung auch andere Alterssicherungsbausteine verpflichtend auszugestalten oder zumindest die Absicherung dort automatisch auszugestalten mit der Anschluss-Option eines dann zu erbringenden aktiven Akts des Austretens (das ist das sogenannte „opt-out“-Modell im Gegensatz zum vorherrschenden „opt-in“-Modell, bei dem man selbst aktiv werden muss, um in den mehr oder weniger Genuss einer zusätzlichen Absicherung zu kommen), diskutiert und teilweise auch gefordert worden. Zuletzt im Kontext der „Nahles-Rente“, denn so ein Modell ist seit 2018 im Rahmen eines Tarifvertrags mit den sogenannten Sozialpartnermodell möglich, wurde bisher aber nicht umgesetzt (vgl. dazu beispielsweise den am 20. April 2022 veröffentlichten Beitrag Nahles-Rente? War da was? von Bernhard Rudolf: »Totgesagte leben doch länger. Nach vier Jahren scheint das erste Sozialpartnermodell in der Chemiebranche jetzt auf gutem Weg zu sein. Das könnte ein Dominoeffekt haben, wenn es auch schade ist, dass das neue Modell große Teile der Arbeitnehmer nicht erreicht.«).
Auch im für Rentenfragen zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat man sich nie von dem Gedanken verabschiedet, wenn schon nicht eine Pflichtversicherung, dann wenigstens eine deutliche Verschiebung hin zu einem „opt-out“-Modell hinzubekommen. In diesem Kontext muss dann sicher auch der Auftrag für ein Kurzgutachten gesehen werden, dass das Ministerium an das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin vergeben wurde. Und die haben geliefert – in dem sie auf die Insel geschaut haben, die seit einiger Zeit nicht mehr Mitglied der EU ist, wo der anvisierte Übergang zu einem betrieblichen Altersvorsorgemodell mit einem deutlich stärker verpflichtenden Charakter in einem mehrjährigen Übergang realisiert worden ist.
NEST – ein kapitalgedecktes Alterssicherungssystem mit automatischer Einschreibung und Abwahlmöglichkeit („Opt-out“) in Großbritannien
Die Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung schreibt in einem aktuellen Bericht unter der Überschrift Bewährungsprobe für britisches Modell der betrieblichen Altersvorsorge zur bisherigen Entwicklung: »Zwischen den Jahren 2012 und 2018 hat die britische Regierung schrittweise die automatische Anmeldung zur betrieblichen Altersvorsorge eingeführt. Automatische Anmeldung – auch als Opt-Out-Regelung bezeichnet – bedeutet, dass Beschäftigte automatisch in eine Betriebsrente einbezogen werden, sofern sie sich nicht aktiv dagegen entscheiden. Die Reform hat dazu geführt, dass sich im Vereinigten Königreich die Abdeckung der betrieblichen Altersvorsorge von 42 Prozent im Jahr 2012 auf 86 Prozent im Jahr 2021 erhöht hat … Die im Jahr 2002 von der britischen Regierung eingesetzte Rentenkommission – nach ihrem Vorsitzenden auch als Turner-Kommission bezeichnet – hat hervorgehoben, dass eine Sicherung des Lebensstandards im Alter eine deutliche Ausweitung der zusätzlichen Altersvorsorge erfordere. Hierzu müsse dem Rückgang bei der zusätzlichen Altersvorsorge entgegengewirkt werden. Die betriebliche Altersvorsorge dürfe sich nicht mehr vorrangig an höhere Gehaltsgruppen richten, sondern vielmehr möglichst weite Teile der britischen Beschäftigten einbeziehen.«
➔ Diese Entwicklung ist eingebettet in einen generellen rentenpolitischen Aktivismus auf der Insel. Dazu der im August 2021 veröffentlichte Beitrag Reformen des britischen Rentensystems: Zwischen Versuch und Irrtum von Nicola De Paoli: »In Sachen Altersvorsorge erwies sich dagegen kaum ein Land in Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten als so reformfreudig wie Großbritannien. Ob betriebliche Altersvorsorge, Renteneintrittsalter, Anlagestrategie oder Auszahlungsmodalitäten: Im Rentensystem des Vereinigten Königreichs blieb in mehreren Reformschritten kaum ein Stein auf dem anderen.« Und mit Blick auf Deutschland hebt er hervor: »In der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Altersvorsorge in Deutschland sehen manche in der höheren Flexibilität und der stärkeren Kapitalmarktorientierung des britischen Systems ein Vorbild für Deutschland.« Und auf den ersten Blick scheint das britische System gut vergleichbar zu sein mit dem, was wir hier haben – aber eben nur auf den allerersten Blick, wie De Paoli hervorhebt: »Wie in Deutschland basiert das Rentensystem in Großbritannien auf drei Säulen: der staatlichen Rente, der betrieblichen Altersversorgung und der privaten Altersvorsorge. Doch schon der Ansatz, mit dem der britische Sozialreformer William Beveridge 1942 seine Aufgabe anging, die Rentenversicherung des Vereinigten Königreichs zu modernisieren, unterscheidet sich deutlich von der deutschen Herangehensweise. Beveridges Ziel war, die Menschen vor Altersarmut zu schützen – nicht die Sicherung des Lebensstandards im Alter wie im bundesrepublikanischen Modell. Bis heute ist die gesetzliche Rente für die Briten daher eher eine Art Notgroschen, nicht die zentrale Basis des Lebensunterhalts. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Die maximale Rentenhöhe in Großbritannien beträgt knapp 180 Pfund (210 Euro) pro Woche. 2017 gab der Staat laut OECD 5,6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Rentenzahlungen aus, in Deutschland waren es im Vergleichsjahr 10,2 Prozent.«
Und dann kommt er zu dem hier besonders interessierenden betrieblichen Altersvorsorgesystem in Großbritannien: Unter der Überschrift „Jeder Beschäftigte wird automatisch Mitglied im Betriebsrentensystem – es sei denn, er widerspricht“ führt er zuerst zu den britischen Erfahrungen der Vergangenheit aus: »Das Prinzip der Eigenverantwortung spielte im marktwirtschaftlich geprägten Britannien von jeher eine wichtige Rolle. Auch aufgrund der zahlreichen Altersvorsorgeprodukte hat das Land den größten Versicherungsmarkt Europas und den viertgrößten weltweit. In den 1990er-Jahren wurde jedoch zunehmend deutlich, dass die Angebote für Privat- und Betriebsrenten einen großen Teil der Erwerbstätigen nicht erreichten, die wachsende Altersarmut wurde zu einem der wichtigsten sozialpolitischen Themen. Etwa zeitgleich zur Einführung der Riester-Rente in Deutschland nahm im Vereinigten Königreich die „Stakeholder Pension“ Gestalt an. Sie folgte einem ähnlichen Konzept wie Riester und zielte auf Menschen mit geringem bis mittlerem Einkommen – setzte sich aber anders als ihr deutsches Pendant nie durch. Mit rund zwei Millionen Policen fristet sie bis heute ein Nischendasein. Zum Vergleich: Die Zahl der Riester-Verträge lag Ende 2020 bei rund 16,4 Millionen.«
Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen hat man dann auf der Insel einen großen Sprung nach vorn gewagt: »Den wohl größten Reformschritt wagten die Briten bei der betrieblichen Altersvorsorge. Statt weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen, führte die Regierung einen Mechanismus ein, der sich „Automatic Enrolment“ nennt: Jeder Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 10.000 Pfund oder mehr nimmt automatisch an einer Entgeltumwandlung teil, es sei denn, er widerspricht aktiv (Opt-out-Regelung). Vier Prozent des Bruttoeinkommens fließen so in eine Betriebsrente, der verpflichtende Arbeitgeberanteil liegt bei zusätzlichen drei Prozent, ein weiteres Prozent steuert der Staat über Steuererleichterungen bei.«
Und offensichtlich war das erfolgreich – von oben betrachtet: »So wurden laut einer Zwischenbilanz für das britische Unterhaus vom Februar 2021 im Zeitraum von 2012 bis 2019 mehr als 10,2 Millionen Arbeitnehmer über das „Automatic Enrolment“ neu in das Betriebsrentensystem integriert. Die Zahl der Verträge stieg von 2,1 auf 21 Millionen, wobei ein Arbeitnehmer mehrere Betriebsrenten haben kann, etwa weil er den Arbeitsplatz gewechselt hat. Den Großteil des Zuwachses machten genau jene Arbeitnehmer aus, die bisher durch die Lücken des Systems gerutscht waren: junge Berufstätige, Geringverdiener sowie Menschen, die einen beruflichen Neustart hinter sich hatten.«
»Alle Arbeitgeber in Großbritannien sind seit der Reform verpflichtet, ihren Beschäftigten ein Betriebsrentenmodell anzubieten, entweder über eine firmeneigene Pensionskasse oder über einen Vertrag mit einem privaten Anbieter wie The Lewis Workplace Pension Trust (TLWPT), Standard Life oder True Potential Investor. Für kleine und mittlere Unternehmen gibt es eine weitere Alternative, den National Employment Savings Trust, kurz: NEST. Die Institution war bei ihrer Einführung 2008 hochumstritten, handelt es sich doch um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, die die Betriebsrenten ihrer Mitglieder am Kapitalmarkt investiert und damit in Konkurrenz zu den privaten Versicherern tritt.«
»918.000 überwiegend kleine und mittelständische Arbeitgeber (wickeln) ihre Betriebsrentenprogramme über den nicht gewinnorientierten Trust ab, das verwaltete Vermögen lag 2020 bei rund 9,5 Milliarden Pfund, nach etwa 400 Millionen Pfund 2012.«
In Deutschland schielt man auf das scheinbare Erfolgsmodell in Großbritannien und lässt das in einem Gutachten examinieren
Wie bereits ausgeführt hat das BMAS das DIW beauftragt, den britischen Weg genauer unter die Lupe zu nehmen. Herausgekommen ist nun diese Veröffentlichung dazu:
➔ Johannes Geyer, Lars Felder und Peter Haan (2022): Hintergrund und Erfahrungen von kapital- gedeckten Alterssicherungssystemen mit automatischer Einschreibung und Abwahlmöglichkeit („Opt-out“) am Beispiel von NEST. Kurzexpertise im Auftrag des Bundesministeriums für Finanzen (BMF). Politikberatung kompakt Nr. 182, Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Juni 2022
Die ordnen das ein in die allgemeine Entwicklung. Ich zitiere hier aus der Kurzfassung (Geyer et al. 2022: 4-6):
»International ist ein Trend zu einer stärkeren Individualisierung der Altersvorsorge zu beobachten. Kapitalmarktbasierte Absicherung erhält eine höhere Gewichtung und beitragsorientierte Systeme nehmen zu. Das Langlebigkeitsrisiko und das Investitionsrisiko werden dadurch in stärkerem Maß individuell getragen. Auch in Deutschland weisen die Reformen zur Stärkung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge seit Beginn der 2000er Jahre in diese Richtung. Damit sind für die Betroffenen weitreichendere finanzielle Entscheidungen verbunden und mehr individuelle Verantwortung für die finanzielle Absicherung im Alter.
Die empirischen Erfahrungen mit ergänzender Altersvorsorge, die auf freiwillige und aktive Entscheidungen der SparerInnen setzen, zeigen niedrige Teilnahmequoten auf. Steuerfinanzierte Anreize können die Teilnahmebereitschaft zwar erhöhen, erreichen aber in der Regel die Mehrheit der Bevölkerung nicht, insbesondere Gruppen mit höheren Armutsrisiken werden unzureichend erreicht.
Entscheidungen zur ergänzenden Altersvorsorge erfordern komplexe Überlegungen und langfristiges Planen. Im Kontrast zum einfachen ökonomischen Modell rationaler Entscheidungen, handeln die Menschen dabei häufig nicht nach den unterstellten rationalen Prinzipien. Die Verhaltensökonomie hat eine ganze Reihe von Verhaltensmustern wie Verlustaversion, Status-Quo Bias oder kurzsichtiges Verhalten identifiziert, die vom Modell rationaler Entscheidungen abweichen. Auch das Finanzwissen (financial literacy) und die Informationen, die zu einer sinnvollen Entscheidung über die private Altersvorsorge nötig sind, können nicht allgemein vorausgesetzt werden. Im Ergebnis sorgen die Menschen zu wenig vor, treffen falsche Investitionsentscheidungen und ihre Absicherung im Alter wird dadurch gefährdet.
Die Politik macht sich inzwischen die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie ebenfalls zu Nutze. Bekannt ist etwa das Behavioural Insights Team, das die britische Regierung 2010 gründete, um diese Erkenntnisse in die Politik einfließen zu lassen. Viele andere Länder sind diesem Beispiel gefolgt und es gibt inzwischen eine große Zahl von Praxisbeispielen für die erfolgreiche Umsetzung dieses Ansatzes. Im Bereich der Altersvorsorge stechen seit einiger Zeit Opt-out Systeme im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge hervor. Diese Systeme haben sich zuerst auf Unternehmensebene in den USA entwickelt und wurden inzwischen in mehreren Ländern in unterschiedlichen Varianten eingeführt. Die Idee des Opt-out nutzt die Trägheit der Menschen aus und ist deutlich effektiver als Anreize oder Informationskampagnen. Im Gegenteil zu einem verpflichtenden System, erlaubt das Opt-out jedoch eine individuelle Entscheidung. Mit der passiven Zustimmung zur Teilnahme sind weitere Entscheidungen zu treffen, etwa die Höhe der Ersparnis oder die Anlagestrategie über den Lebenszyklus.
Inzwischen gibt es Systeme mit automatischer Einschreibung und Abwahlmöglichkeit unter anderem in Neuseeland, Litauen, Großbritannien, Italien, Türkei, Polen und in einigen Bundesstaaten der USA.«
Es wird dann darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Expertise die Erfahrungen mit dem britischen Modell eines Opt-out, dem National Employment Savings Trust (NEST), betrachtet werden. »Das Ziel von NEST war es insbesondere im Bereich unterer und mittlerer Einkommen eine höhere Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge zu erreichen.« Offensichtlich sieht man in dem Gutachten hier einen Erfolg: »Die Einführung des Opt-out Systems hat die Zahl der Personen, die über eine Betriebsrente sparen, deutlich erhöht. Waren im Jahr 2012 nur 10,7 Millionen anspruchsberechtigte ArbeitnehmerInnen in einer Betriebsrente eingeschrieben, hat sich diese Zahl bis zum Jahr 2020 auf 19,4 Millionen Personen (88 Prozent der berechtigten Beschäftigten in der Privatwirtschaft und mehr als 90 Prozent im öffentlichen Dienst) erhöht … Auswertungen nach unterschiedlichen Merkmalen der Beschäftigten zeigen, dass die Partizipationsquote in allen Bereichen der Beschäftigten deutlich gestiegen ist und typische strukturelle Unterschiede in der Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge, z.B. zwischen großen und kleinen Unternehmen, sich erheblich verringert haben.« Die Wissenschaftler des DIW weisen auf einen weiteren für Deutschland möglicherweise interessanten Aspekt der Umsetzung hin: »Die Umsetzung in Großbritannien fand über einen sehr langen Zeitraum und gestaffelt nach Unternehmensgröße statt. Das hatte den Vorteil, dass zunächst nur wenige große Unternehmen, die teilweise bereits Erfahrung mit Betriebsrenten hatten, NEST umsetzen mussten. So konnte man Erfahrungen sammeln und die kleineren Unternehmen konnten sich darauf vorbereiten. Ein weiterer Aspekt, der die Umsetzung erleichtert hat, ist die Möglichkeit bereits existierende Betriebsrentensysteme in das neue System zu überführen. Vor einer ähnlichen Frage stünde man auch in Deutschland, da auch hier in Teilen der Wirtschaft gut funktionierende betriebliche Absicherungen existieren.«
Das hört sich doch alles sehr überzeugend an. Aber es gibt auch kritische Hinweise in der Kurzexpertise des DIW: »In Großbritannien stellt sich dabei allerdings inzwischen die Frage der Portabilität der Ansprüche, da ArbeitnehmerInnen mit häufigen Jobwechseln eine Reihe von unterschiedlichen Betriebsrentenansprüchen ansammeln.« Außerdem: »Die Opt-out Raten in Großbritannien sind niedrig und mit etwa zehn Prozent auf ähnlichem Niveau wie beispielsweise in den USA oder Neuseeland. Personen, die das System verlassen, können sich häufig die Beiträge nicht leisten oder sind schon kurz vor der Rente und brauchen diesen Baustein nicht.«
Die aus dem Ruder laufenden Inflationsentwicklung der vergangenen Monate als „Bewährungsprobe“ für den National Employment Savings Trust (NEST)
»Laut aktuellen Studien wirkt sich der derzeitige Anstieg der Lebenshaltungskosten … spürbar auf die Beitragszahlungen in die betriebliche Altersvorsorge aus«, berichtet nun die Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung:
Zuerst einmal rückblickend Entwarnung: »Befürchtungen, die COVID-19-Pandemie könne sich negativ auf die Beteiligung an der betrieblichen Altersvorsoge auswirken, haben sich nicht bestätigt. So ist der Anteil der eingeschriebenen Beschäftigten als auch der Anteil derjenigen, die ihre Beitragszahlungen eingestellt haben, stabil geblieben.«
Nun aber: »Der aktuelle Anstieg der Lebenshaltungskosten schlägt sich in der Beteiligung an der betrieblichen Altersvorsoge nieder. So haben nach dem aktuellen Rentenbericht von Scottish Widows elf Prozent der Erwachsenen ihre Beiträge bereits reduziert. Laut einer Erhebung der Versicherungsgesellschaft Canada Life haben fünf Prozent der Erwachsenen angegeben, ihre Beiträge zur betrieblichen Altersversorgung eingestellt zu haben. Darüber hinaus geben sechs Prozent an, darüber nachzudenken, ihre Beiträge auszusetzen und weitere neun Prozent könnten dies in Zukunft in Betracht ziehen.«
»Gerade für eine beitragsdefinierte Rente ist eine kontinuierliche und möglichste frühe Beitragszahlung wichtig. Zum einen wegen des Zinses-Zins-Effekts. Zum anderen, weil im Modell der britischen Betriebsrente neben dem Beschäftigtenbeitrag auch die Aufstockungen durch Arbeitgeberinnen sowie Arbeitgeber und den Staat entfallen. So verliert in einer Modellrechnung von Canada Life eine heute 40-jährige Person, die ein Gehalt von 50.000 GBP pro Jahr bezieht, bei einem einjährigen Aussetzen der Beitragszahlung bis zum Renteneintritt mit 67 Jahren 15.000 GBP. Der aktuell rasante Anstieg der Lebenshaltungskosten ist daher die bisher größte Herausforderung für das neue britische Betriebsrentensystem.«
Und der Anstieg der Lebenshaltungskosten ist enorm – wobei die offiziell ausgewiesene an sich schon sehr hohe Inflationsrate das Ausmaß gerade für die unteren Einkommensgruppen eher unterzeichnet aufgrund der vom Durchschnitt abweichenden Ausgabenstruktur dieser Haushalte:
Kein NEST für alle
Und abschließend sei hier noch auf die kritischen Hinweise zu NEST verwiesen, die man in dem Beitrag von Nicola De Paoli aus dem vergangenen Jahr lesen konnte: »Die grundlegenden Probleme der britischen Altersvorsorge hat die Reform jedoch lediglich gemildert, nicht gelöst. Dem Bericht für das Unterhaus zufolge sind noch immer 12,2 Millionen Menschen im Land ohne ausreichende Altersversorgung – vor allem solche, die sich mit mehreren, schlecht bezahlten Jobs durchschlagen müssen und die Voraussetzungen für eine Betriebsrente nicht erfüllen.« „Die Altersvorsorge von Geringverdienern und Teilzeitkräften ist ein Problem“, wird eine Versicherungsexpertin zitiert.
»Auch Selbstständige können bisher kaum am Betriebsrentensystem teilhaben, sie müssen sich aus eigenem Antrieb um ihre Altersvorsorge und eine private Rentenversicherung kümmern. Doch offenbar tun das immer weniger: Laut einer Untersuchung des Institute for Fiscal Studies vom Oktober 2020 verfügten 2018 nur noch 16 Prozent aller Selbstständigen über eine private Police – 1998 waren es noch bei 48 Prozent. Zugleich stieg im selben Zeitraum der Anteil der Selbstständigen an den Berufstätigen von 12,9 auf 15,1 Prozent.«
»Hinzu kommt, dass sich Pensionäre in Großbritannien ihren „Pension Pot“ aus betrieblicher Rente und privater Vorsorge seit 2015 auch auf einen Schlag auszahlen lassen können, statt eine lebenslange regelmäßige Zahlung zu beziehen. Das birgt die Gefahr, dass manche, die sich für die Einmalzahlung entscheiden, die eigene Lebenserwartung unterschätzen, die Summe vorzeitig ausgeben und trotz Vorsorge in der Altersarmut enden.«
Und dann vor dem Hintergrund der aktuellen „cost of living“-Krise in Großbritannien besonders relevant:
»Kritiker bemängeln zudem, dass die Beiträge für die Betriebsrente in Zukunft für einen auskömmlichen Lebensstandard im Rentenalter nicht ausreichen werden und schlagen vor, die Beiträge aufzustocken. Damit müssten allerdings zwangsläufig auch die Arbeitnehmer mehr zahlen. Große öffentliche Begeisterung für diesen Ansatz ist daher nicht zu spüren. Sozialexperten weisen außerdem darauf hin, dass bereits heute mehr als zehn Millionen Briten wirtschaftlich auf wackligen Füßen stehen: Jeder zehnte Einwohner des Vereinten Königreichs verfügt über keinerlei finanzielle Rücklagen.«
Fazit: »Und wie alle Rentensysteme weltweit kämpft auch das britische mit den Folgen der steigenden Lebenserwartung und der anhaltenden Niedrigzinsphase. Beide Entwicklungen zusammengenommen führen dazu, dass es sowohl für die staatlichen als auch für die privaten Altersvorsorgeprodukte zunehmend schwieriger wird, attraktive Renditen zu erwirtschaften – und das angesparte Kapital gleichzeitig für einen immer längeren Zeitraum reichen muss. In der Folge schrumpfen die Auszahlungen aus der Betriebsrente. So haben die Rentenreformen zwar dazu geführt, dass immer mehr Menschen eine betriebliche Altersversorgung haben – dass die Pensionszahlungen am Ende ausreichen, um den Lebensstandard aus der Zeit des Berufslebens zu halten, ist jedoch keineswegs sicher.«