Das große Ausscheiden ist sicher. Fast jede dritte Erwerbsperson erreicht in den nächsten 15 Jahren das Rentenalter

„Die“ demografische Entwicklung wird schon seit langem nicht nur thematisiert, sondern gerade hinsichtlich der Ausgestaltung der Sozialpolitik auch gerne instrumentalisiert. Aktuell muss man das wieder einmal zur Kenntnis nehmen, wenn erneut ein gesetzliches Renteneintrittsalter von nunmehr 70 Jahren gefordert wird, weil „wir“ ja alle älter und die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte weniger werden.

➔ Vgl. dazu beispielsweise diese Meldung: „Wir werden länger und mehr arbeiten müssen“: »Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, hat sich für ein späteres Renteneintrittsalter bei gleichzeitig steigender Wochenarbeitszeit ausgesprochen. „Schaut man sich die demografische Entwicklung und die Belastungen der Sozial- und Rentenkassen an, dann sind die Reserven aufgebraucht“, sagte Wolf den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Wir werden länger und mehr arbeiten müssen.“ Wolf zufolge sollte das Renteneintrittsalter stufenweise auf 70 Jahre angehoben werden, „weil das Lebensalter immer weiter steigt“. Ansonsten werde „das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein“, sagte der Präsident des Arbeitgeberverbandes der Metall- und Elektroindustrie.« Damit geht er noch weiter als ein Kollege aus dem Arbeitgeber-Lager: »Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, hatte sich für eine Wochenarbeitszeit von 42 Stunden ausgesprochen. Sie sei leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel unterstützte den Vorschlag der 42-Stunden-Woche. Damit stieß er auf Kritik.«

Nun soll das hier gar nicht weiter analysiert, die Sinnhaftigkeit widerlegt oder sonst wie kommentiert werden – der Verbandsmann merkt offensichtlich gar nicht, dass man die anstehenden notwendigen Problemlösungen mit so einem „unsozialen Bullshit“ mit Sicherheit eher blockiert als das man damit irgendwelche auch nur in Spurenelementen vorhandenen positiven Veränderungsenergien freizusetzen in der Lage ist.

Dabei ist es schon seit langem überfällig, angesichts der tatsächlichen Wucht der demografischen Entwicklung, die wir bereits heute zu spüren bekommen und deren Höhepunkt noch erst kommen wird, über innovative Konzepte zu diskutieren und darüber produktiv zu streiten, wie wir den Arbeitskräftebedarf und den dann auch noch qualitativ differenziert in Zukunft gedeckt bekommen. Dazu muss man a) die vorhandenen Erwerbspersonen mitnehmen (und gerade auch die bislang aus dem Erwerbssystem ausgesonderten Menschen), ihnen b) eine Perspektive aufzeigen, wie und wo sie möglicherweise auch länger arbeiten können, c) die Zuwanderung organisieren (ohne sich der immer noch grassierenden Vorstellung hinzugeben, man könne das bisherige Niedriglohnmodell mit gefügigen Arbeitskkräften aus anderen Ländern dauerhaft stabilisieren) und d) müssen sich noch viel mehr Unternehmen auf den Weg machen, eine Arbeitswelt zu schneidern, in der ganz viele ältere Mitarbeiter unterwegs sein werden.

Wahrlich keine neuen Erkenntnisse und seit vielen Jahren wird auch hier in diesem Blog immer wieder darauf hingewiesen, was da an fundamentalen Verschiebungen auf den Arbeitsmärkten auf uns zukommt bzw. gerade vor unseren Augen abläuft – die zwar in Teilbereichen durch die Corona-Pandemie geboostert wurden (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Die Zahl der Erwerbstätigen ist wieder raus aus dem Pandemieloch – aber nicht nur die Medien suchen nach Antworten auf die eine Frage: Wo sind die alle geblieben? vom 14. Juli 2022), die aber auch schon vor Corona abgelaufen sind: Schon seit vielen Jahren verliert der deutsche Arbeitsmarkt demografisch bedingt jedes Jahr eine Großstadt an Arbeitnehmern, die altersbedingt mehr den Arbeitsmarkt verlassen als Jüngere nachkommen, so in diesem Beitrag vom 10. August 2019 über die „ambivalente Arbeitsmarktentwicklung“, als man mit Corona wenn überhaupt ein mexikanisches Bier verbunden hat. Der isolierte „Demografieeffekt“ beim Arbeitsangebot lag schon in den letzten zehn Jahren zwischen 200.000 und deutlich über 300.000 Erwerbspersonen – pro Jahr. Und das ist noch lange nicht die Spitze der Welle, worauf auch schon immer wieder hingewiesen wurde, denn die vielen aus der Baby-Boomer-Generation, die noch ihre Frau oder ihren Mann stehen im Erwerbsleben, die gehen jetzt erst Kohorte für Kohorte in den Ruhestand (vgl. dazu Mangelland: Millionen werden fehlen. Die Baby-Boomer und die Arbeitsmärkte der Zukunft vom 7. Mai 2022).

Die Bundesstatistiker haben auf ihre Zahlen aus dem Mikrozensus geschaut und das große Ausscheiden in große Zahlen gepackt

Wie groß die Herausforderungen werden, denen wir uns stellen müssen, kann man in Umrissen aus dieser einen großen Zahl ableiten, wenn auch nur sehr schemenhaft (denn die eine große Zahl verwischt zahlreiche und :

»Die Generation der Babyboomer spielt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots in Deutschland eine große Rolle. In den nächsten 15 Jahren werden die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge, geboren zwischen 1957 und 1969, in den Ruhestand gehen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) aus dem Mikrozensus 2021 werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 % der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, bezogen auf das Berichtsjahr 2021.«

Das ist dieser Meldung des Statistischen Bundesamtes entnommen: 12,9 Millionen Erwerbspersonen erreichen in den nächsten 15 Jahren das gesetzliche Rentenalter.

Jüngere Altersgruppen werden ältere zahlenmäßig nicht ersetzen können

»Betrachtet man die Bevölkerung zwischen 15 und 79 Jahren in 5-Jahres-Altersgruppen, so zeigt sich, dass die älteren Altersgruppen durchgehend mehr Erwerbspersonen umfassen als die jüngeren. Die Erwerbsbeteiligung von 63,6 % bei den 60- bis 64-Jährigen zeigt, dass sich diese Altersgruppe schon in der Übergangsphase in den Ruhestand befindet. Die 50- bis 59-Jährigen waren 2021 noch überwiegend am Arbeitsmarkt aktiv (mit 86 %), das sind 11,3 Millionen Erwerbspersonen. Die beiden Altersgruppen zwischen 40 und 49 Jahren, die 2021 mit je 89 % die höchsten Erwerbsquoten aller Altersgruppen aufwiesen, stellten hingegen 2021 zusammen nur 8,9 Millionen Erwerbspersonen. Auch die noch relativ große Gruppe der 30- bis 34-Jährigen reicht im Umfang der Erwerbspersonen nicht mehr an die älteren der Babyboomer heran.«

Zu den Erwerbspersonen bei den Jüngeren muss man wissen: »Die beiden jüngsten Altersgruppen unter 25 Jahren befinden sich teilweise noch in ihrer Bildungsphase. Auszubildende im dualen System, aber auch Studierende, die nebenher arbeiten, werden hier zu den Erwerbstätigen gezählt. Im Jahr 2021 waren unter den 15- bis 19-Jährigen 29 % Erwerbspersonen und 67 % befanden sich ausschließlich in Bildung oder Ausbildung. Von den 20- bis 24-Jährigen standen bereits 71 % dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, während 21 % noch allein ihrer Ausbildung nachgingen. Selbst wenn diese beiden Altersgruppen nach Abschluss ihrer Ausbildung vollumfänglich für den Arbeitsmarkt aktiviert werden könnten, so machten sie 2021 gerade 8,4 Millionen Erwerbspersonen aus.«

Mögliche Perspektiven angesichts des reinen Demografieeffekts

Nun darf man den reinen Demografieeffekt natürlich nicht isoliert betrachten. In der Meldung des Bundesstatistiker gibt es dann so einen ersten Hinweis: »Eine größere Arbeitsmarktpartizipation von Frauen könnte … zur Aktivierung eines insgesamt größeren Erwerbspersonenpotenzials beitragen.« Diese quantitative Schlussfolgerung ergibt sich aus diesen Daten: »Die Erwerbsbeteiligung von Frauen war 2021 über alle Altersgruppen hinweg merklich geringer als die der Männer. Für die Bevölkerung zwischen 30 und 39 Jahren lag die Erwerbsquote der Frauen rund 11 Prozentpunkte niedriger als die der Männer. Für die Altersgruppen zwischen 40 und unter 65 Jahren lag die Differenz im Schnitt bei etwas über 8 Prozentpunkten.«

Das es unterschiedliche Stellschrauben gibt, mit denen die rechnerische Differenz, die sich aus der Demografie ergibt, reduziert werden kann, ist ein altes Thema der Arbeitsmarktforschung.

Hier sei nur als ein Beispiel auf die Szenarien hingewiesen, mit denen das IAB der Bundesagentur für Arbeit seit langem arbeitet – und in denen eine immer wieder in der Berichterstattung über die Größenordnung der notwendigen Zuwanderung genannte Zahl auftaucht:

➔ Johann Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber (2021): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. IAB-Kurzbericht Nr. 25/2021, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), 2021
»In Deutschland führt die demografische Entwicklung langfristig dazu, dass die Zahl der erwerbsfähigen Menschen sinkt und damit auch das Erwerbspersonenpotenzial. Eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und vor allem von Älteren kann diesen Trend lediglich abschwächen. Zuzüge aus dem Ausland stärken zwar die demografische Basis, reichen jedoch nicht zwingend, um den demografischen Effekt vollständig zu kompensieren. Wie auch schon in früheren Projektionen des Erwerbspersonenpotenzials werden mehrere Projektionsvarianten gerechnet, um den Wanderungseinfluss darzustellen. In dem Kurzbericht werden zwei Varianten ausführlicher diskutiert: eine aus einem stochastischen Prognosemodell abgeleitete Variante und eine Variante mit extrem hohen Wanderungen, bei der das Erwerbspersonenpotenzial langfristig in etwa konstant bleiben würde. Eine Sensitivitätsanalyse ergänzt die Betrachtung um die Frage, welche Effekte sich bei deutlich höheren Anstiegen der Erwerbsquoten ergeben könnten.«

Und je nach Ausgestaltung der Szenarien verändern sich die Werte erheblich:

Szenario 1: Das demografische Szenario: »Dieses Szenario blendet das Wanderungsgesche­hen völlig aus der Betrachtung aus, es entspricht also einer – hypothetischen – Situation, in der niemand nach Deutschland zuzieht, aber auch niemand das Land verlässt. Außerdem basiert Szenario 1 auf konstanten Erwerbsquoten. Da­ mit zeigt das Szenario die rein demografische Entwicklung auf, die im Wesentlichen durch die Alterung geprägt wird … Beispielsweise erreicht der geburtenstärkste Jahrgang 1964 im Jahr 2031 das 67. Lebensjahr. Die Demografie beeinflusst das Erwerbspersonenpotenzial erstens über eine ge­ringere Bevölkerungszahl und zweitens via Alte­rung, denn der Anteil der Älteren mit ihren relativ niedrigen Erwerbsquoten nimmt zu … Bis zum Jahr 2035 nimmt (das Erwerbspersonenpotenzial) bei diesem Szenario mit 7,18 Mil­lionen Personen um 15 Prozent ab. Der Rückgang setzt sich nach 2035 fort, sodass das Erwerbsper­sonenpotenzial 2060 mit 31,30 Millionen Arbeits­kräften um gut 16,11 Millionen unter dem Stand im Ausgangsjahr 2020 läge. Den Betrieben in Deutschland würde dann ein Drittel weniger po­tenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.«

Aber keine Panik, dass ist eben nur das reine Demografie-Szenario. Die IAB-Forscher haben das erweitert, um Auswirkungen des Verhaltenseffekts und des Migrationseffekts.

Szenario 2: Das Verhaltensszenario: »Das Szenario 2 setzt auf Szenario 1 auf, berücksichtigt aber zusätzlich zu dem rein demografischen Effekt steigende Erwerbsquoten von Frauen und Älteren. Damit ist es deutlich realistischer als Szenario 1 … Aufgrund der höheren Erwerbsquoten verläuft der Abwärtstrend des Potenzials weniger extrem. Bis 2035 sinkt das Erwerbspersonenpotenzial hier um 4,46 Millionen auf knapp über 42,95 Millionen Personen (–10 %). Im Unterschied zu Szenario 1 ergibt sich ein positiver verhaltensbedingter Effekt aus höheren Erwerbsquoten von etwa 2,72 Millionen … Im Laufe der Zeit schwächen sich die Zuwächse bei den Er­ werbsquoten aber immer mehr ab.«

Und dann ist da ja noch diese Zuwanderung.

Szenarien 3 und 4: Der Einfluss der Zuwanderung: »Der Migrationseffekt auf das Erwerbspersonen­potenzial hängt neben der Alters­ und Geschlechts­struktur der Zu­- und Fortzüge entscheidend vom Wanderungssaldo ab. Dessen Höhe zu prognos­tizieren, ist ein schwieriges Unterfangen … Die Wanderungsstatistik zeigt eine enorme Fluk­tuation der Wanderungsströme.« Die IAB-Forscher modellieren die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials unter der Annahme einer jähr­lichen Nettozuwanderung von 100.000 und 400.000 Personen. Der Wande­rungssaldo mit 100.000 Personen ist erheblich niedriger als der Saldo der letzten Jahre. Aber dennoch halten die Wissenschaftler diesen Wert langfristig für realistisch (was weniger an den Zuzügen liegt, sondern an den angenommenen Fortzügen).
Was passiert bei einem Wanderungssaldo von 100.000 Personen als Referenzszenario? »Eingerechnet sind dabei stei­gende Erwerbsquoten, auch von neu zugezogenen Migrantinnen und Migranten. Bei diesem Szenario sinkt das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 um 2,98 Millionen und danach bis 2060 um weitere 6,12 Millionen Arbeitskräfte.« Beim Referenzszenario gibt es bis 2035 rechnerisch 1,49 Millionen zusätzliche Erwerbspersonen – »also viel zu wenig, um den demografi­schen Effekt auszugleichen.«
»Für eine vollständige Kompensation der Demogra­fie bräuchte es jedoch eine jährliche Nettozuwan­derung von 400.000 Personen« – wohlgemerkt Nettozuwanderung, was in praxi bedeuten würde, dass wir mindestens vom Zwei- bis Dreifachen an Bruttozuwanderung pro Jahr ausgehen müssen. Solche Zuwanderungszahlen muss man erst einmal realisieren (können).

Die IAB-Wissenschaftler bilanzieren eine überragende Bedeutung des Demografieeffekts: »Durch eine höhere Erwerbsbeteiligung und bei den derzeit als wahrscheinlich erscheinenden Wanderungsannahmen lässt sich der Effekt der demografischen Alterung wohl kaum mehr kompensieren.«

Und man möchte wirklich nicht zusätzlich problematisierend enden, aber man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das nur die ganz große quantitative Abschätzung ist. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass nicht irgendwelche älteren homogenen Arbeitskräfte ausscheiden, sondern Menschen mit den vielfältigsten Qualifikationen, darunter gerade viele mit einer soliden Qualifikation im Handwerk, als Facharbeiter oder in Gesundheitsberufen, dann ahnt man, was das Ausscheiden von fast 13 Millionen Erwerbspersonen in den kommenden 15 Jahren noch an Kopfschmerzen verursachen wird.