Eine scheinbar widersprüchliche Angelegenheit: Einerseits Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel, anderseits eine konjunkturell und strukturell steigende Arbeitslosigkeit

Derzeit werden zahlreiche Berichte über die wieder steigende Arbeitslosigkeit veröffentlicht. Und tatsächlich zeigt ein Blick auf die Daten aus der Arbeitsmarktstatistik, dass wir am aktuellen Rand einen deutlich erkennbaren Anstieg der Zugänge in Arbeitslosigkeit aus einer Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen müssen, vor allem aus dem Bereich der Industrie, Verkehr und Lagerhaltung und aus der Leiharbeit (vgl. dazu genauer den Beitrag Arbeitsmarkt: Winter is coming? Ein Blick in die Arbeitsmarktstatistik vom 8. August 2019). Offensichtlich beginnt die konjunkturelle Entwicklung in Verbindung mit den anhaltend unsicheren Erwartungen ihre Spuren auch auf dem Arbeitsmarkt zu hinterlassen. Mit Blick auf die weitere, von nicht wenigen eher pessimistisch bewertete Entwicklung werden zugleich strukturelle Faktoren ins Feld geführt, die auf erhebliche Beschäftigungsrisiken hindeuten. Dabei spielt natürlich auch die wahrscheinliche technologisch bedingte Arbeitslosigkeit eine Rolle – die gesamtwirtschaftlich vermutlich durch einen (fortgesetzten) Beschäftigungsaufbau an anderer Stelle ausgeglichen werden kann, was aber für viele einzelne Betroffene nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass sie nicht arbeitslos und einige auch auf Dauer abgekoppelt werden von dem Beschäftigungswachstum an anderer Stelle.

Und auf der anderen Seite wird man stapelweise mit solchen Meldungen konfrontiert, die viele nicht übereinander bekommen mit dem Geraune über eine (wieder) steigende Arbeitslosigkeit: »Der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern zieht sich durch viele Bereiche. Bemerkbar macht sich das auch bei dem Nordenhamer Garten- und Landschaftsbauunternehmen K. W. Siefken. „Wir können Stellen nicht besetzen“, sagt Geschäftsführer Frerk Siefken, „wenn ich einen gelernten Gärtner oder Steinsetzer suche, finde ich keinen.“ Die Situation habe sich in den Jahren so entwickelt: „Es war ein schleichender Prozess.“« So Jana Budde in ihrem Artikel Fachkräfte fehlen auch im GaLa-Bau. Garten- und Landschaftsbau – da werden nicht viele sofort an einen Mangel an Fachkräften denken. Oder nehmen wir dieses Beispiel aus Nordrhein-Westfalen: Fahrschulen in NRW suchen dringend neue Fahrlehrer: »In Nordrhein-Westfalen werden händeringend neue Fahrlehrer gesucht.« Und bei vielen Menschen wird angekommen sein, dass es in Handwerksberufen immer öfter heißt: Kein Personal. Aber selbst der von vielen sicherheitsorientierten Menschen so bevorzugte öffentliche Dienst reiht sich ein in die Front der klagenden Branchen:

Das schlägt sich dann in solchen Meldungen nieder: Kommunen suchen händeringend nach Personal: »In der freien Wirtschaft klagt man seit Jahren über den Fachkräftemangel. Mindestens genauso dringend suchen aber auch die deutschen Kommunen nach gut ausgebildetem Personal – und vor allem nach Auszubildenden. Ob klassische Verwaltung, Bauamt, IT-Administration, Friedhofswesen, Müllabfuhr, Jobcenter, Stadtreinigung, Wasserwerke oder Kläranlagen – in nahezu allen Sparten fehlen Leute. Selbst attraktive Führungsposten sind immer schwerer zu besetzen … Mehr als 800 000 Stellen in den Kommunen könnten in absehbarer Zeit unbesetzt sein, schreibt die DStGB-Fachzeitschrift Kommunal und warnt vor einem „Kollaps der Kommunalverwaltungen“.«

Nun gibt es wie immer mehrere, teilweise seit langem grundgelegte Entwicklungen, die zu dem jetzigen Zustand geführt haben. Aber besonders relevant ist dieser offensichtlich alle unterschiedlichen Bereiche betreffende Einflussfaktor: die demografische Entwicklung. Beispiel Fahrlehrer: »Zurückzuführen sei der Mangel auch auf den demografischen Wandel. „Das Durchschnittsalter eines Fahrlehrers in NRW liegt jetzt schon bei 54 bis 55 Jahren“,« wird Kurt Bartels, der Vorsitzende des Fahrschulverbandes Nordrhein, zitiert. Und in dem Artikel über die Probleme der Kommunen kann man diesen Passus finden: »In den kommenden zehn Jahren geht etwa ein Drittel der Beschäftigten in Gemeinden, Städten und Landkreisen in den Ruhestand. Gleichzeitig bewerben sich immer weniger junge Leute um eine Ausbildung. „Für die zweite und dritte Qualifikationsebene bekommen wir kaum noch Leute“, klagte Münchens Personalreferent Alexander Dietrich.«

Welche gewaltigen strukturellen Verschiebungen auf den vielen Arbeitsmärkten bereits in den vergangenen Jahren stattgefunden haben, kann man sich verdeutlichen, wenn man einen Blick auf die Veränderung der Altersverteilung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit dem Jahr 2000 wirft:

Mittlerweile liegt der Altersschwerpunkt der Belegschaften in den meisten Unternehmen zwischen 50 und 60 Jahren, auch die Zahl der 60 bis 65 Jahren alten Beschäftigten hat erheblich zugenommen. Die „Babyboomer“ dominieren den Arbeitsmarkt der Gegenwart. Viele dieser Arbeitnehmer werden zum einen aufgrund der rentenrechtlichen Änderungen der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte so lange wir möglich arbeiten müssen (was wiederum neue Herausforderungen für viele Unternehmen bedeutet, die in der Vergangenheit eine eher jugendzentrierte Strategie haben fahren können), zugleich werden aber Jahr für Jahr viele Arbeitnehmer altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen und in den Ruhestand wechseln (oder wechseln müssen).

Und zugleich werden „unten“ deutlich weniger Arbeitskräfte „nachwachsen“ aufgrund der demografischen Entwicklung, denn die Geburtenrate seit Anfang der 1970er Jahre lag kontinuierlich in einem Bereich, in dem es zu Schrumpfungsprozessen kommen muss, auf alle Fälle sind die jüngeren Jahrgänge, aus denen heraus die altersbedingten Abgänge kompensiert sowie ggfs. wachstumsbedingte Zusatzbedarfe gedeckt werden müssten, deutlich kleiner bestückt als die geburtenstarken Jahrgänge. Das kann nicht ohne Folgen bleiben für das Arbeitsangebot auf dem Arbeitsmarkt. Man kann sich die Entwicklung der letzten Jahren mit einem Blick auf das Erwerbspersonenpotenzial verdeutlichen – das spricht für sich:

Schon seit vielen Jahren verliert der deutsche Arbeitsmarkt demografisch bedingt jedes Jahr eine Großstadt an Arbeitnehmern, die altersbedingt mehr den Arbeitsmarkt verlassen als Jüngere nachkommen. Und eines ist bei allen Unsicherheiten von Prognosen an dieser Stelle sicher: Die den Demografieeffekt darstellenden roten Balken werden in den vor uns liegenden fünfzehn bis zwanzig Jahren noch deutlich tiefer nach unten gehen, denn die ganz stark besetzten rentennahen Jahrgänge kommen erst noch an den Punkt, wo sie in den Ruhestand gehen.

Und man kann der Abbildung auch entnehmen, warum es trotz dieser bereits seit vielen Jahren beobachtbaren negativen demografischen Entwicklung dennoch zu einem Beschäftigungsanstieg kommen konnte. Maßgeblich dafür ist der Verhaltenseffekt (das beinhaltet zum einen die steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen, vor allem die der Mütter von kleinen Kindern, zum anderen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nach hinten, also eine Erhöhung des tatsächlichen Renteneintrittsalters). Und natürlich der Migrationseffekt, der gerade in den Jahren seit 2013/14 für eine erhebliche – quantitative und zugleich erst einmal nur potenzielle – Entlastung auf Seiten des Arbeitsangebots gesorgt hat. Allerdings bedeutet eine quantitative Kompensation altersbedingter Abgänge wie viele Menschen wissen und zunehmend auch erfahren eben nicht, dass es auch eine qualitative Kompensation der abgehenden Arbeitskräfte gibt oder geben kann. Und es sind vor allem die vielen gut qualifizierten Facharbeiter, Handwerker und Angestellte mit einer ordentlichen Berufsausbildung im mittleren Qualifikationssegment, die jetzt und in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen bzw. gehen werden. Die zu ersetzen ist vor dem Hintergrund der Spezifitäten des deutschen Ausbildungssystems und seiner Nicht-Entsprechung in den meisten Ländern um uns herum eine echte Bürde.