Versuchen wir uns zu erinnern: Am Ende des ersten Corona-Jahres 2020 und im Frühjahr 2021 gab es eine Debatte darüber, dass Corona offensichtlich doch nicht als „großer Gleichmacher“ durch das Land gezogen ist, sondern sowohl die Infektionsrisiken wie auch die schweren bis hin zu tödlichen Verläufen ungleich verteilt waren. Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge Das Corona-Virus und die Ungleichheit: Vom anfänglichen „großen Gleichmacher“ zu einem in Umrissen immer deutlicher erkennbaren „Ungleichheitsvirus“ vom 6. März 2021 sowie Das Corona-Virus als „Ungleichheitsvirus“: Die Umrisse werden deutlicher erkennbar. Und „Menschen mit Migrationshintergrund“ diesseits und jenseits der Statistik vom 21. März 2021. Damals gab es nur erste Ergebnisse von Studien, die darauf hingewiesen haben, dass es sehr wohl eine sehr ungleiche Verteilung der Risiken und Lasten gab. Nur ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr: »Mit Hilfe von Daten der Krankenkasse AOK Rheinland/Hamburg wurde untersucht, ob eine Tätigkeit im Niedriglohnsektor und Arbeitslosigkeit das Risiko für einen COVID- 19-bedingten Krankenhausaufenthalt für Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland erhöht. Nach der Analyse der Wissenschaftler ist das Risiko für einen COVID-19-bedingten Krankenhausaufenthalt in Abhängigkeit vom Erwerbsstatus erheblich – für Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System wird beispielsweise eine fast doppelt so große Wahrscheinlichkeit berichtet wie für regulär Erwerbstätige.«
Mittlerweile wurde auch hier weiter beobachtet und neue Daten sind verfügbar. »Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit hatten im Jahr 2021 im Schnitt ein mehr als doppelt so hohes Risiko an Covid-19 zu versterben wie Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das hat eine Datenanalyse der AOK Nordost von rund 1.600 Sterbefällen ergeben. Auch Menschen, die in sozial benachteiligten Ortsteilen wohnen, haben im Schnitt ein höheres Sterberisiko«, berichtet die Krankenkasse AOK Nordost unter der Überschrift Covid-19: Ausländische Versicherte haben doppelt hohes Sterberisiko. Was haben die genau ausgewertet?
»Für die Datenanalyse untersuchte die AOK Nordost, wie viele ihrer rund 1,7 Millionen Versicherten in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2021 mit einer gesicherten Covid-19-Diagnose ins Krankenhaus eingeliefert wurden und dort innerhalb von vier Wochen verstarben. Im nächsten Schritt wertete die Krankenkasse aus, welche Vorerkrankungen eine Rolle bei den 1583 Verstorbenen spielten.
Menschen, die an Diabetes oder einer anderen Stoffwechselkrankheit litten, hatten ein 62 Prozent höheres Sterberisiko als Versicherte ohne Stoffwechselerkrankungen. Auch andere Vorerkrankungen erhöhten das Sterberisiko signifikant. Darüber hinaus wurden in der Datenanalyse noch weitere Merkmale der Verstorbenen wie Wohnort, Beschäftigungsstatus und Staatsbürgerschaft untersucht.
Als der mit Abstand größte „Risikofaktor“ für eine tödlich verlaufende Covid-19-Infektion entpuppte sich eine ausländische Staatsbürgerschaft: Ausländische Versicherte der AOK Nordost hatten im Schnitt ein rund 2,3 Mal höheres Sterberisiko als deutsche Versicherte. Eine statistisch belastbare Differenzierung nach Herkunftsländern war in der Studie nicht möglich, dafür war die Fallzahl von 141 verstorbenen ausländischen Versicherten nicht groß genug.«
Dazu wird Nico Dragano, Professor für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, zitiert: „Der Befund fügt sich ein in Studien aus anderen Industrieländern. Auch dort haben Migrantinnen und Migranten höhere Infektionsrisiken und sind auch unter den Covid 19-Sterbefällen überrepräsentiert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Migrantinnen und Migranten arbeiten häufiger in Berufen, die ein hohes Infektionsrisiko haben, wie etwa in der Reinigungsbranche und in der Altenpflege. Zudem wohnen Migranten häufiger in beengten Verhältnissen und haben pro Kopf weniger Platz zur Verfügung. Auch beengte Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko, sich zu infizieren.“
Das ein niedrigerer sozioökonomischer Status das Infektionsrisiko erhöht, zeigt sich auch in Datenanalyse der AOK Nordost. AOK-Versicherte, die in den am stärksten sozial benachteiligten Gebieten in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wohnen, hatten laut der Analyse ein 11 Prozent höheres Sterberisiko als die Bewohner aller anderen Ortsteile.
Selbst der Tod kommt wesentlich früher: »Auch beim Durchschnittsalter der an oder mit Covid-19 Verstorbenen zeigen sich in der Analyse deutliche Unterschiede: Die Versicherten mit deutscher Staatsangehörigkeit starben im Schnitt im Alter von 82 Jahren. Die Versicherten mit ausländischer Staatsangehörigkeit wurden im Schnitt nur 68 Jahre alt – sie starben durchschnittlich 14 Jahre früher.«
Die Datenanalyse der AOK Nordost zeigt, dass es im Jahr 2021 offenkundig nicht ausreichend gelungen ist, Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit besser über die Gefahren einer Corona-Infektion – und auch über den Nutzen der Corona-Impfung aufzuklären.
Das wird auch seitens des RKI bestätigt: Die im Februar 2022 veröffentlichte repräsentative 9. Covimo-Studie des RKI – COVID-19-Impfquotenmonitoring in Deutschland als Einwanderungsgesellschaft (COVIMO-Fokuserhebung) – verdeutlicht, dass die Impfkampagne Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen signifikant seltener erreicht hat.
»Von den erwachsenen Befragten mit sehr guten Deutschkenntnissen gaben 92 Prozent an, mindestens einmal gegen Covid-19 geimpft worden zu sein. Von den Personen mit schlechten Deutschkenntnissen gaben nur 75 Prozent an, mindestens einmal gegen Covid-19 geimpft worden zu sein. Diese Personen wurden in Arabisch, Türkisch, Russisch, Polnisch und Englisch interviewt. Die geringere Impfquote unter Migranten mit schlechten Deutschkenntnissen hat laut der Studie mehrere Gründe: Befragte mit schlechten Deutschkenntnissen hatten im Schnitt signifikant weniger Vertrauen in die Impfung und das Gesundheitswesen. Sie glaubten fälschlicherweise deutlich häufiger, dass die Covid-19-Impfung die Covid-19-Erkrankung selbst auslösen könne, dass die Impfung Chemikalien in giftiger Dosierung enthalte und dass die Impfung die menschliche DNA verändern könne.«
Covid-19 und die soziale Ungleichheit
Anfang Februar 2022 wurde diese Übersichtsarbeit aus dem RKI veröffentlicht:
➔ Jens Hoebel et al. (2022): Soziale Ungleichheit und COVID-19 in Deutschland – Wo stehen wir in der vierten Pandemiewelle?, in: Epidemiologisches Bulletin, 5, 2022, S. 3-10
Folgende Kernaussagen lassen sich der Arbeit entnehmen:
➔ Das Infektions- und Sterbegeschehen verlagerte sich ab der zweiten Pandemiewelle* zunehmend in sozioökonomisch benachteiligte Regionen. Auch in der vierten Pandemiewelle zeigt sich ein besonders starker Anstieg von COVID-19-Fällen in sozioökonomisch stark benachteiligten Regionen.
* Das anfängliche Ausbruchsgeschehen in Deutschland zu Beginn der ersten Pandemiewelle (März und April 2020) war zunächst durch höhere Infektionszahlen in wohlhabenderen Regionen gekennzeichnet, was mit Reiseaktivitäten von Personen aus sozioökonomisch bessergestellten Gruppen wie Geschäfts- oder Skireisende in Zusammenhang gebracht wird. Danach verlagerte sich das Infektionsgeschehen zunehmend in sozioökonomisch benachteiligte (deprivierte) Regionen Deutschlands. Analysen weisen darauf hin, dass Personen aus sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen ihre Mobilität berufsbedingt weniger einschränken konnten, da sie weniger Möglichkeiten zur Arbeit im Home-Office hatten, was zu dieser regionalen Dynamik beigetragen haben kann.
➔ Bundesweite Studiendaten auf Einzelfallebene zeigen, dass Menschen mit niedriger Bildung ein doppelt so hohes Infektionsrisiko haben wie Menschen mit hoher Bildung.
➔ Personen aus sozioökonomisch benachteiligten Gruppen und deprivierten Regionen werden weniger getestet, sodass Infektionen häufiger unerkannt bleiben.
➔ Potenziale zur Steigerung der Impfbeteiligung unter Erwachsenen liegen insbesondere bei den unter 60-Jährigen mit niedriger und mittlerer Bildung.
➔ Um dem erhöhten Infektions- und Sterberisiko sozioökonomisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen in der Pandemie entgegenzuwirken, bedarf es niedrigschwelliger und lebensweltnaher Infektionsschutz-, Test- und Impfangebote, die aufsuchende Ansätze beinhalten.
Soziale Unterschiede im COVID-19-Geschehen kommen besonders deutlich bei schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen zum Ausdruck – ein Muster, das international berichtet wird. »Auch in Deutschland sind beträchtliche soziale Unterschiede in der Häufigkeit von Todesfällen im Zusammenhang mit COVID-19 zu beobachten. Insbesondere während der zweiten Pandemiewelle stieg die COVID-19-assoziierte Sterblichkeit in sozioökonomisch benachteiligten Regionen stark an. Dadurch übersteigt die Zahl der COVID-19-Todesfälle in sozioökonomisch hoch deprivierten, also sozial benachteiligten Regionen seit etwa Mitte der zweiten Welle jene in wenig deprivierten, also wohlhabenden Regionen … Eine weiterführende Analyse zeigt, dass die COVID-19-assoziierte Sterblichkeit in den hoch deprivierten Regionen während der zweiten Pandemiewelle bis zu 1,5-mal so hoch lag wie in den wohlhabenden Regionen, wobei Einflüsse weiterer Faktoren wie die regionale Altersstruktur, Siedlungsstruktur und Bevölkerungsdichte bereits statistisch herausgerechnet sind.« (Hoebel et al. 2022: 5).