Mindestlöhne in Europa im Jahr 2022 – sowie die Frage, ob und wie man in inflationären Zeiten wie diesen angemessene Mindestlöhne sicherstellen kann

Eurofound, die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der EU mit Sitz im irischen Dublin, hat den jährlichen Bericht über die Mindestlöhne in Europa für das Jahr 2022 veröffentlicht:

➔ Eurofound (2022): Minimum wages in 2022: Annual review, Luxembourg 2022

Nach einer zurückhaltenden Anpassungsrunde der Mindestlöhne für 2021 wurden die Nominalsätze für 2022 deutlich angehoben, da die negativen Folgen der Pandemie nachließen und sich die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte erholten. In diesem Zusammenhang haben 20 der 21 EU-Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ihre Sätze erhöht. In den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten war ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen, während der größte Anstieg in Deutschland erfolgte. Unter Berücksichtigung der Inflation stiegen die Mindestlöhne real jedoch nur in sechs Mitgliedstaaten.
Setzt sich der derzeitige Inflationstrend fort, werden die Mindestlöhne im Jahr 2022 in kaum einem Land real steigen. Erhebliche Einbußen bei der Kaufkraft von Mindestlohnempfängern dürften das Bild prägen, sofern das Problem nicht im Laufe des Jahres durch politische Änderungen angegangen wird. Die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen und die entsprechenden Rechtsvorschriften in der EU sind im Großen und Ganzen unverändert geblieben oder wurden für 2022 nur geringfügig angepasst.

Schauen wir in die Zusammenfassung des neuen Berichts:

Die COVID-19-Krise und die steigende Inflation wirkten sich auch 2021 auf Europa aus – in diesem Zeitraum wurden die Mindestlohnsätze für 2022 festgelegt. Alle Länder mit Ausnahme von Lettland haben ihre Sätze erhöht. Es gibt bisher nur wenige Untersuchungen über Mindestlohnbeschäftigte während der Pandemie, aber die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Niedriglohnbeschäftigte (einschließlich Mindestlohnempfängern) von der Pandemie stärker betroffen waren, vor allem weil Branchen und Unternehmen mit einem größeren Anteil an Niedriglohnbeschäftigten stärker von den Schließungsmaßnahmen betroffen waren. Nach vorsichtigen Erhöhungen in vielen Ländern im ersten Jahr der Pandemie kehrte die Lohnfestsetzung im Jahr 2021 für 2022 weitgehend zur Normalität zurück – soweit es der schwierige sozioökonomische Kontext zuließ.

Auf EU-Ebene verhandelten das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Jahr 2021 und in der ersten Hälfte des Jahres 2022 weiter über die vorgeschlagene Richtlinie über angemessene Mindestlöhne und erzielten schließlich am 7. Juni eine Einigung (vorbehaltlich einer formellen Abstimmung vor der Annahme). Vgl. dazu auch den Beitrag Das EU-Parlament hat „sozialpolitische Geschichte in Europa“ geschrieben: Eine neue Richtlinie zu „angemessenen“ Mindestlöhnen und zur Tarifbindung vom 9. Juni 2022.
Einundzwanzig EU-Mitgliedstaaten haben derzeit gesetzliche Mindestlöhne in Form einer rechtsverbindlichen Lohnuntergrenze, die für fast alle Arbeitnehmer gilt; in einigen Ländern gibt es Ausnahmen, beispielsweise für junge Arbeitnehmer, Auszubildende oder Personen, die nicht in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen, weil sie nicht als Arbeitnehmer gelten. In den sechs übrigen Mitgliedstaaten gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn, sondern die Mindestlöhne für einen großen Teil der Beschäftigten werden von den Sozialpartnern für verschiedene Branchen und Berufe kollektiv, als über Tarifverträge vereinbart.

Auch bei der Anpassung der Mindestlöhne stößt man auf die bekannte europäische Heterogenität:

In den meisten Fällen werden die Mindestlohnsätze einmal pro Jahr überprüft und festgelegt, obwohl einige Länder mehr als eine Überprüfung pro Jahr vornehmen oder sie seltener ändern. Dieser regelmäßige Prozess der Festsetzung von Mindestlöhnen hat in der EU verschiedene Formen, darunter dreigliedrige Konsultationen oder Verhandlungen, Empfehlungen von Expertenausschüssen, zweiseitige Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern und einseitige Entscheidungen der Regierungen.

Und hier das Ergebnis der Anpassungsrunde:

Nominal sind die gesetzlichen Mindestlöhne zwischen dem 1. Januar 2021 und 1. Januar 2022 in den meisten Mitgliedstaaten stärker gestiegen als im Jahr zuvor. In fünf mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten lag der prozentuale Anstieg der gesetzlichen Sätze im zweistelligen Bereich: Ungarn (19,5 %) sowie Litauen, Estland, Rumänien und Kroatien (alle mehr als 10 %). In den Mitgliedstaaten vor der Erweiterung (also die „alten“ EU-Staaten) fielen die Erhöhungen der Mindestlöhne im Allgemeinen bescheidener aus (die stärksten Erhöhungen erreichten 4-6 % in Portugal, Spanien und Belgien).

In Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn wurden Daten zu ausgewählten Niedriglohnberufen erhoben. Diese zeigen, dass im Zweijahreszeitraum von Januar 2020 bis Januar 2022 überdurchschnittliche Lohnerhöhungen bei Kurieren, Zustellern und Landarbeitern in Standardbeschäftigung in Österreich, bei Personenbetreuern in Finnland und Norwegen und bei Kinderbetreuern in Schweden erzielt wurden.

Das Bild, das sich durch steigende Lohnsätze ergibt, ändert sich jedoch, wenn die steigende Inflation berücksichtigt wird: Von den 21 Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen sanken die realen Sätze zwischen Januar 2021 und Januar 2022 in mehr als zwei Dritteln von ihnen und stiegen nur in sechs Ländern (Ungarn, Kroatien, Rumänien, Portugal, Litauen und Estland). Länder mit Indexierungsmechanismen – insbesondere Belgien, Frankreich und Luxemburg – haben die Mindestlöhne schneller an die Inflation angepasst.

Im Jahr 2022 wird Deutschland das Land mit der größten Erhöhung des Mindestlohns sein: Er wird im Juli von 9,82 Euro auf 10,45 Euro pro Stunde steigen, und der Bundestag beschloss am 3. Juni 2022 eine weitere einmalige Erhöhung außer der Reihe auf 12 Euro pro Stunde ab Oktober.

Die Verfahren zur Festlegung von Mindestlöhnen und die damit verbundenen Rechtsvorschriften in der EU blieben im Großen und Ganzen unverändert oder wurden für 2022 nur geringfügig angepasst.

➞ Die weitreichendste Änderung der Mindestlohngesetzgebung wurde in Rumänien erlassen, wo die Dauer, für die der Mindestlohn an einen Arbeitnehmer gezahlt werden kann, auf 24 Monate begrenzt wurde. Das neue Mindestlohngesetz aus dem Jahr 2020, das einen existenzsichernden Lohn auf der Grundlage eines Warenkorbs vorsieht, wurde jedoch erneut nicht umgesetzt.

Es ist zwar noch zu früh, um zu erwarten, dass die vorgeschlagene EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne Auswirkungen auf nationaler Ebene haben wird, doch gibt es in einigen Mitgliedstaaten bereits Anzeichen dafür, dass der Inhalt der vorgeschlagenen Richtlinie berücksichtigt wird. Einige Akteure richten ihre Debatten auf das Thema aus und beginnen mit der Vorbereitung möglicher Änderungen des Systems oder der Kriterien für die Lohnfestsetzung oder der Anhebung der Löhne im Einklang mit den im Vorschlag genannten „internationalen Referenzwerten“.

➞ Eine Untersuchung der Auswirkungen der 22%igen Erhöhung des Mindestlohns in Spanien im Jahr 2019, ergab, dass Spanien im Jahr 2019 den größten Rückgang der Lohnungleichheit unter den EU 27-Mitgliedstaaten verzeichnete. Dies war wahrscheinlich eine Auswirkung der Erhöhung, die dem relativ hohen Niveau der Lohnungleichheit im Land entgegenwirkte.

Ausblick und Schlussfolgerungen

Wenn sich die gegenwärtigen Inflationstrends fortsetzen, werden die Mindestlöhne im Jahr 2022 in keinem Land real steigen und erhebliche Verluste bei der Kaufkraft der Mindestlohnempfänger werden das Bild beherrschen – es sei denn, das Problem wird durch zusätzliche Aufstockungen oder andere Unterstützungsmaßnahmen für die Geringverdiener im Laufe des Jahres angegangen.

Ausgehend von den Mindestlohngesetzen scheint nur etwa die Hälfte der Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen die Inflation oder die Entwicklung der Lebenshaltungskosten bei der Festlegung der Sätze zu berücksichtigen. Angesichts der beispiellosen Inflation wäre es lohnenswert zu überprüfen, inwieweit die Systeme und Praktiken zur Festsetzung von Mindestlöhnen an die aktuellen Umstände angepasst werden können und werden.

Die Frage, wie sich gesetzliche Mindestlöhne auf andere Löhne auswirken und inwieweit Tarifverträge zu höheren Löhnen führen, ist nach wie vor wichtig, zumal das politische Ziel darin besteht, Tarifverhandlungen zu fördern. Zwar wurden in jüngster Zeit mehrere EU-weite Studien durchgeführt – insbesondere die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission zum Richtlinienvorschlag -, doch fehlt es in vielen Mitgliedstaaten an eingehenden und qualitativ hochwertigen evaluativen Untersuchungen auf nationaler Ebene zu den Auswirkungen von Mindestlohnerhöhungen auf Arbeitnehmer und Unternehmen. Darüber hinaus fehlt es in vielen Mitgliedstaaten an Daten über Tarifverträge und Tariflöhne. Da die nationalen Entscheidungsträger im Bereich der Mindestlöhne in der Lage sein sollten, ihre Informationen aus unabhängiger Forschung zu beziehen, sollten die politischen Entscheidungsträger in Erwägung ziehen, angemessene Ressourcen für eine solche Forschung und Dateninfrastruktur bereitzustellen.

Die Mindestlöhne sind im Jahr 2022 deutlich gestiegen. Die steigende Inflation frisst diese Lohnerhöhungen jedoch wieder auf und nur durch Flexibilität bei der regelmäßigen Festlegung der Mindestlöhne kann ein allgemeiner Kaufkraftverlust bei den Mindestlohnempfängern vermieden werden.

Am 6. Juni 2022 erzielten der Rat der EU und das Europäische Parlament eine politische Einigung über die von der Kommission im Oktober 2020 vorgeschlagene Richtlinie über angemessene Mindestlöhne. Nach der förmlichen Annahme müssen die EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umsetzen.

Mit der Richtlinie soll die Festlegung angemessener Lohnuntergrenzen in den Ländern gefördert werden, die über gesetzliche Mindestlohnsysteme verfügen (21 der 27 Mitgliedstaaten). Jeder Mitgliedstaat entscheidet über diese angemessene Höhe und bewertet, ob der Mindestlohn einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten kann, wobei die sozioökonomischen Bedingungen, die langfristige Produktivitätsentwicklung und die Kaufkraft des Mindestlohns berücksichtigt werden.

Wie kann man im Zeitalter der Inflation angemessene Mindestlöhne sicherstellen?

Dieser Frage sind Carlos Vacas‑Soriano und Christine Aumayr-Pintar in einem Eurofound-Blog-Beitrag nachgegangen (How to ensure adequate minimum wages in an age of inflation, 15.06.2022).

Nach den eher vorsichtigen Erhöhungen im Jahr 2021 haben alle Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Lettland) ihre Regelsätze zwischen Januar 2021 und Januar 2022 erhöht, und zwar in den meisten Ländern stärker als im Vorjahr. Der Median der nominalen Erhöhung in allen Mitgliedstaaten liegt bei 5 % (die durchschnittliche Erhöhung liegt bei über 6 %), und wie im Jahr 2021 sind die Erhöhungen in Mittel- und Osteuropa viel größer.

Dennoch haben diese nominalen Erhöhungen der gesetzlichen Sätze die Kaufkraft der Mindestlohnempfänger im Allgemeinen nicht gestärkt, da die steigende Inflation nach vielen Jahren der Abwesenheit in Europa wieder in den Vordergrund getreten ist. Infolgedessen sind die gesetzlichen Mindestlöhne zwischen Januar 2021 und Januar 2022 in mehr als zwei Dritteln der EU-Länder real gesunken. Das bedeutet, dass sich die höheren gesetzlichen Sätze in weniger als einem Drittel der Mitgliedstaaten real auswirken, nämlich in den sechs Ländern am unteren Rand der nachstehenden Abbildung (mehrere mittel- und osteuropäische Länder sowie Portugal):

Abb.: Veränderung der gesetzlichen Mindestlöhne gegenüber dem Vorjahr (in %), real und nominal, Januar 2021 – Januar 2022

Lesen wir den Beitrag weiter:

»Es besteht Handlungsbedarf. Da es unwahrscheinlich ist, dass die Inflation in diesem Jahr stark zurückgeht, kann nur ein entschlossenes politisches Eingreifen – seitens der Lohnsetzer oder der Verhandlungsparteien – den Lebensstandard der Mindestlohnempfänger sichern; dies könnte durch zusätzliche Zuschläge zu den gesetzlichen Sätzen, höhere Erhöhungen in den Verhandlungen oder andere Unterstützungsmaßnahmen für Niedriglohnempfänger geschehen.

Nur etwa die Hälfte der Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ist gesetzlich verpflichtet, die Inflation oder die Entwicklung der Lebenshaltungskosten bei der Festlegung der Sätze zu berücksichtigen. Dies ist ein Bereich, in dem die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne bedeutende Änderungen bewirken könnte. Indem die Lohnfestsetzer verpflichtet werden, klare Kriterien wie die Kaufkraft des Mindestlohns zu verwenden, wird die Richtlinie sie dazu verpflichten, die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen, um den Lebensstandard der Mindestlohnempfänger zu erhalten. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie schnell die Lohnfestsetzer reagieren oder reagieren können, wenn sich die Umstände ändern.

Einige Mitgliedstaaten mit automatischen Indexierungsmechanismen in ihrem Mindestlohnfestsetzungsverfahren – wie Belgien, Frankreich und Luxemburg – haben die Löhne schneller an die Inflation angepasst. So wurden in Belgien im März und Mai 2022 aufgrund der Indexierung zwei Erhöhungen um jeweils 2 % vorgenommen, nachdem bereits im September 2021 und im Januar 2022 zwei identische Erhöhungen durchgeführt worden waren.

Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die über keine automatischen Indexierungsmechanismen verfügen, ihre gesetzlichen Mindestlöhne mindestens alle zwei Jahre zu aktualisieren. Obwohl die meisten Mitgliedstaaten bereits über einen jährlichen Aktualisierungszyklus verfügen (und einige wenige auch innerhalb eines Jahres regelmäßig eine Anhebung vornehmen), kann eine Wartezeit von ein bis zwei Jahren auf die Wiederherstellung der Kaufkraft für jemanden, der bereits finanziell angespannt ist, wie eine Ewigkeit erscheinen.

Dies ist ein Grund, warum es wichtig ist, die Möglichkeit von Ad-hoc-Eingriffen in den Prozess der Festsetzung von Mindestlöhnen beizubehalten, wenn solche Eingriffe gerechtfertigt sind – wie es in diesem Kontext der hohen Inflation der Fall ist. So hat Griechenland beispielsweise beschlossen, seinen gesetzlichen Mindestlohn ab Mai 2022 außerhalb des regulären Anhebungszyklus aufgrund von Inflationsbedenken um mehr als 7 % anzuheben.

Wie angemessen die Löhne der Mindestlohnempfänger Ende 2022 sein werden, hängt von der Flexibilität der etablierten Verfahren zur Festsetzung des gesetzlichen Mindestlohns und dem politischen Willen ab, die Kaufkraft der Geringverdiener zu erhalten. Es wird auch vom Willen der Sozialpartner und ihrer Fähigkeit abhängen, Verhandlungsergebnisse zu erzielen, die dem Inflationsdruck Rechnung tragen.«