Da war doch vor einiger Zeit was jeden Tag in den Medien? Irgendwas mit diesen Intensivstationen, die – für eine Zeit lang – sichtbarste Speersitze der Corona-Pandemie. Parallel zu den Corona-Wellen wurde täglich über die Belegungszahlen der Intensivstationen berichtet. Und immer wieder wurde auch auf das Problem hingewiesen, dass vorne und hinten Personal fehlt. Dass (nicht nur) viele Pflegekräfte nach Monaten außergewöhnlicher Zusatzbelastungen am Ende ihrer Kräfte waren und sind.
Aber zwischenzeitlich ist das alles schon Geschichte, die Sorgen der Nation haben sich verschoben auf die Realisierung des anstehenden Sommerurlaubs oder der Frage, ob die Mineralölkonzerne nun auch wirklich die Steuersenkung der Bundesregierung für Benzin und Diesel weitergeben an die tankenden Kunden. Und ob die Züge der Deutschen Bahn nicht unter dem Massenansturm der mit 9-Euro-Monatstickets gedopten Bundesbürger auseinanderbrechen werden.
Da ist es mehr als passend, wenn mal wieder das Augenmerk auf die Intensivstationen und den dort anzutreffenden real existierenden Pflegenotstand geworfen wird.
Genau das leistet Michael Simon, der bis Anfang 2016 an der Hochschule Hannover mit den Arbeitsschwerpunkten Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik gelehrt hat, mit einer neuen Studie:
➔ Michael Simon (2022): Pflegenotstand auf Intensivstationen. Berechnungen zum Ausmaß der Unterbesetzung im Pflegedienst der Intensivstationen deutscher Krankenhäuser. Study der HBS-Forschungsförderung Nr. 474, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, Juni 2022
Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung als Förderer der Studie, hat daraus eine Zusammenfassung entnommen. Die steht unter der Überschrift: Auf deutschen Intensivstationen fehlen bis zu 50.000 Pflegekräfte. Da ist sie wieder, die eine große Zahl, die gerne von den Medien aufgriffen werden. Das ist verständlich, zugleich aber auch gefährlich, denn die Wirklichkeit ist in der heterogenen Pflegewelt wie auf vielen anderen Arbeitsmärkten auch, wesentlich vielgestaltiger, als es die eine Zahl für ganz Deutschland anzuzeigen vermag. Aber eine eben medientaugliche Vereinfachung und zugleich kommt es natürlich auf die Größenordnung an, nicht hinter dem Komma, sondern die Zahl schlägt eine Aufmerksamkeitsschneise in der Nachrichtenflut, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind und sie legt den Finger auf eine klaffende Wunde: den bereits vor Corona existierenden und durch Corona weiter vorangetriebenen Pflegenotstand, hier in der intensivmedizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Simon hat den bundesweiten Bedarf an Pflegepersonal auf Intensivstationen anhand von Daten der Krankenhausstatistik, die bis zum Jahr 2020 vorliegen, sowie des Intensivregisters berechnet.
Die Studie leistet eine kritische Auseinandersetzung mit den bislang immer wieder auftauchenden Zahlen zu fehlenden Pflegefachkräften:
»In deutschen Krankenhäusern gab es 2020 knapp 28.000 Intensivbetten, von denen durchschnittlich circa 21.000 belegt waren. Die Zahl der Pflegekräfte in diesem Bereich entsprach etwa 28.000 Vollzeitäquivalenten. Unter Fachleuten und in der medialen Berichterstattung hält sich die Einschätzung, dass bundesweit ungefähr 3000 bis 4000 Pflegefachkräfte in Vollzeit fehlen. Diese Zahlen sind allerdings abgeleitet von den Stellenplänen der Krankenhäuser, die wiederum von der wirtschaftlichen Situation abhängen. Ein Krankenhaus, das gezwungen ist, Kosten zu sparen, kürzt den Stellenplan. Das wahre Ausmaß des Personalmangels wird dadurch gar nicht sichtbar. Folgt man nicht nur wirtschaftlichen Kriterien bei der Berechnung, gehe die Unterbesetzung „weit über die bisher diskutierte Zahl“ hinaus, schreibt Simon.«
Simon bezieht sich für seine Berechnungen auf fachliche Empfehlungen und gesetzliche Mindestvorgaben (die eigentlich mindestens einzuhalten wären):
»Zwar gibt es für die Intensivpflege zurzeit kein verbindliches Verfahren der Personalbedarfsermittlung, wohl aber die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Seit 2019 gibt es zudem eine bundesweit geltende Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), die Mindestbesetzungen auch für Intensivstationen vorgibt.«
➔ Die fachlichen Empfehlungen der DIVI zur Personalbesetzung auf den Intensivstationen (und die Versuche, die damit verbundenen Personalschlüssel in Frage zu stellen) haben eine längere Geschichte, die in die Zeit weit vor Corona reicht. Vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt vom 28. Juli 2017 sowie der Beitrag Immer diese Studien. Und die so wichtige Kritik daran. Die Intensivpflege in deutschen Krankenhäusern als Beispiel vom 31. August 2017. Und zu dem nicht nur die Intensivstationen betreffenden Thema Pflegepersonaluntergrenzen vgl. zuletzt denn Beitrag Wenn unter der Untergrenze noch eine Kelleretage ist. Die an sich fragwürdigen Pflegepersonaluntergrenzen in Krankenhäusern und ihre Nicht-Einhaltung vom 10. Dezember 2021. Darin wurden Zahlen zur Problematik der Nicht-Einhaltung der Untergrenzen präsentiert, die vom GKV-Spitzenverband erhoben wurden. Zur Datengrundlage: Für das zweite Quartal 2021 liegen Nachweise über die Einhaltung von Pflegepersonaluntergrenzen in zwölf pflegesensitiven Bereichen von rund 1.300 Krankenhäusern vor … Diese Nachweise umfassen 74.000 Meldungen über die Patientenbelegung und Pflegepersonalbesetzung von rund 8.400 Stationen je Monat sowie je Tag- und Nachtschicht. Zu den Ergebnissen: »Aus den Nachweisen geht hervor, dass 12,5 Prozent der Schichten unterbesetzt waren. Im Bereich neurologische Schlaganfalleinheit waren sogar rund 20 Prozent der Schichten unterbesetzt – also jede fünfte Schicht! Das ist ein besorgniserregendes Bild, denn die Einhaltung der Mindestbesetzung ist erforderlich und wichtig, um Patientinnen und Patienten vor unerwünschten Ereignissen sowie Pflegekräfte vor Überlastung zu schützen.« Der Anteil der unterbesetzten Schichten an allen Schichten in der Intensivmedizin wurde mit 15,8 Prozent ausgewiesen.
Auf der Basis der DIVI-Empfehlungen sowie der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung kommt Simon zu den folgenden Befunden:
➔ Nach der PpUGV wären für 21.000 Intensivbetten bundesweit 50.800 Vollzeitkräfte erforderlich – deutlich mehr als die vorhandenen 28.000. Um die Pflegepersonaluntergrenzen einhalten zu können, wäre also eine Verdoppelung des gegenwärtigen Personalbestandes notwendig.
➔ Um die Empfehlungen der DIVI zu erfüllen, bräuchte es sogar 78.200 Vollzeitkräfte. Daraus ergibt sich für das Jahr 2020 eine Unterbesetzung von 50.000. Um die auszugleichen, wäre eine Verdreifachung des Personalbestandes nötig.
Man kann die Zahlen auch umgedreht betrachten:
➔ »Mit dem aktuellen Personalbestand dürften nach Vorgaben der PpUGV nur 11.700 der 28.000 Intensivbetten genutzt werden. Folglich müssten circa 60 Prozent der vorhandenen Betten „gesperrt“ werden. Dass Betten nicht mit Intensivpatientinnen oder -patienten belegt werden, passiert im kleineren Rahmen einzelner Kliniken schon jetzt häufig, wenn akut Personal fehlt.
➔ Legt man die Empfehlungen der DIVI zugrunde, wären angesichts der aktuellen Personallage sogar nur rund 7500 Intensivbetten belegbar. Rund 75 Prozent der vorhandenen Betten dürften folglich nicht belegt werden.«
Und am aktuellen Rand? »Vermutlich liegt die Zahl der Pflegekräfte inzwischen sogar noch niedriger als 2020, weil es während der Pandemie zahlreiche Kündigungen gab, analysiert Simon. So ergab eine Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts, dass im Herbst 2021 in mehr als zwei Dritteln der befragten Krankenhäuser weniger Intensivpflegepersonal tätig war als noch Ende 2020.«
Aber haben wir nicht „zu viele“ Intensivbetten?
»Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über viele Intensivbetten. Während im Durchschnitt der OECD-Länder circa 12 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner vorgehalten werden, sind es in Deutschland 34. Vergleichbare europäische Länder kommen sogar mit weniger als 10 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner aus. So liegt die Intensivbettendichte in Norwegen bei 8,5 und in Dänemark bei 7,8. Das vergleichsweise große Angebot an Intensivplätzen hat in der Corona-Pandemie dabei geholfen, Schlimmeres zu verhindern, es wird aber von manchen Politikern und Experten kritisch betrachtet.«
Dazu Michael Simon: „Es wäre jedoch verfehlt, einfach nur eine drastische Reduzierung der Zahl der Intensivbetten zu fordern und anzunehmen, damit könne das Problem gelöst werden.“ Da die Intensivstationen offensichtlich ausgelastet und vielfach sogar überlastet sind, sei davon auszugehen, dass es einen entsprechenden Bedarf gibt.
Und ein wichtiger Hinweis – auch vor dem Hintergrund, dass noch vor einigen Monaten „nur“ immer die Belegung der Intensivstationen mit Corona-Patienten im Fokus der Berichterstattung stand:
Man dürfe das Problem der Intensivstationen nicht isoliert betrachten. Viele Probleme würden auf die Intensivstationen ausgelagert, da auch die Normalstationen „seit mehr als 30 Jahren unterbesetzt“ seien. Ob Patienten von einer Normalstation auf eine Intensivstation oder von dort wieder zurückverlegt werden können, sei in hohem Maße auch davon abhängig, wie gut Normalstationen besetzt sind.