Es ist ja eine Binsenweisheit, wenn man sagt, mit Studien wird Politik gemacht bzw. etwas demütiger Politik und öffentliche Meinung beeinflusst. Das kann man diese Tage wieder hervorragend studieren am Beispiel des in der 1. Liga der Auftragsforschung spielenden Prognos-Instituts. Parallel wurden gleich zwei Studien abgefeuert, die sich mit zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen beschäftigen – und deren Ergebnisse nicht wirklich als Ausfluss von detailverliebter Arbeit im Elfenbeinturm interpretiert werden sollten, sondern im Kontext der Auftraggeber dieser Ausarbeitungen bzw. mit Blick auf das Unternehmensinteresse, sich für weitere Aufträge in dem Bereich zu empfehlen, zu bewerten sind. Beispiel „Fachkräftemangel“: Im Umfeld des von der Bundesregierung veröffentlichten Fortschrittsberichts 2017 zum Fachkräftekonzept der Bundesregierung, anlässlich dessen natürlich entsprechende mediale Aufmerksamkeit zu erwarten war, veröffentlichte Prognos knackige Zahlen zu dem Thema, die wie erwartet von den immer unter Zeitdruck schreibenden Journalisten gerne aufgegriffen wurden: Unter der Überschrift Prognos blickt auf Fachkräftesituation in Deutschland erfahren wir: »Die Prognos AG hat für das Jahr 2030 eine Fachkräftelücke von etwa 3 Millionen, für 2040 von rund 3,3 Millionen, errechnet.« Diese Zahl wurde dann auch sofort in den Strom der laufenden Berichterstattung eingespeist – vgl. beispielsweise Bis 2030 fehlen drei Millionen Fachkräfte oder (schon etwas vorsichtiger in der Formulierung) 2040 könnten in Deutschland 3,3 Millionen Fachkräfte fehlen. Werden, könnten – egal, die gut platzierte Zahl wird hängen bleiben, auch wenn a) an der Kalkulation von Prognos teilweise sehr deutlich Kritik geübt wurde und b) das Thema „Fachkräftemangel“ nicht so eindeutig ist, wie es zuweilen daherkommt.
Und auch in einem anderen sensiblen Feld – und diesmal als eindeutige Auftragsstudie erkennbar, wenn man hinschaut – meldet sich Prognos mit einer Studie zu Wort: der Rentenpolitik. Und schon die Überschrift der Pressemitteilung offenbart die Stoßrichtung dessen, was der Auftraggeber gekauft hat: Stabiles Rentenniveau belastet zukünftige Generationen: »Mütterrente, Haltelinie und Doppelte Haltelinie: Die Politik diskutiert derzeit Konzepte, um das Rentenniveau zu stabilisieren. Für künftige Generationen wären solche Vorschläge ein schlechtes Geschäft, hat Prognos für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft herausgefunden.«
Nun muss man wissen, um wen es sich bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) handelt. Dazu aus einem Beitrag auf Lobbypedia, einem Projekt von Lobbycontrol: Es handelt sich um »eine marktliberale Lobby-Organisation, die von den Unternehmerverbänden der Metall- und Elektroindustrie (Gesamtmetall) finanziert wird. Sie will u.a. erreichen, dass der Arbeitsmarkt und das Bildungswesen stärker an den Bedürfnissen von Unternehmen ausgerichtet werden. Das operative Geschäft wird von der INSM GmbH betrieben, deren Alleingesellschafter das Institut der deutschen Wirtschaft ist. Die INSM verfügt 2017 über einen Jahresetat von sieben Millionen Euro, die von Gesamtmetall zur Verfügung gestellt werden.«
Dass beide Studien kurz vor der anstehenden Bundestagswahl platziert wurden, ist natürlich kein Zufall.
Anlassbezogen war auch eine Studie aus dem Gesundheitsbereich, die vor kurzem veröffentlicht wurde im Kontext einer gesetzgeberischen Entwicklung hin zur (partiellen) Einführung von Personalbesetzungsquoten im Krankenhausbereich. Darüber wurde in diesem Blog bereits kritisch berichtet – am 28. Juli 2017 unter der Überschrift Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt.
Es geht um das Gutachten Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin, das die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beim Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) in Auftrag gegeben hat. Und die Gesellschaft der Krankenhausbetreiber fasst dann auch die gewünschte Botschaft zusammen – obgleich auf den ersten Blick ein eklatanter Fachkräftemangel in der Intensivpflege beklagt wurde:
»Wie die repräsentative Studie zeigt, ist die Versorgung der Patienten objektiv gut. Im Jahresdurchschnitt 2015 lag das Verhältnis von Intensivpatienten zu Pflegekräften bei 2,2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft (VK). Die Empfehlung der Fachgesellschaft Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) eines Pflegekraft-zu-Patienten-Verhältnisses von 2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft wird im Mittel in etwa erreicht. Das DKI-Gutachten belegt außerdem, dass drei Viertel aller Krankenhäuser die Fachkraftquote in der Intensivpflege erfüllen. Diese liegt durchschnittlich bei 44 Prozent je Krankenhaus (zum Vergleich: Die DIVI empfiehlt mindestens 30 Prozent).«
Bei solchen Befunden sind bei einigen die Alarmlampen angegangen. Rainer Woratschka hat das treffend so formuliert:
»Die Stoßrichtung der Krankenhausbetreiber ist klar: Dass sich die Politik nun anschickt, das Problem des Fachkräftemangels in der Krankenpflege mit verbindlichen Personaluntergrenzen anzugehen, gefällt ihnen nicht besonders. „Es macht keinen Sinn, erst Normen festzulegen, die keiner erfüllen kann, und danach dann den Pflegenotstand auszurufen“, sagte DKG-Geschäftsführer Baum.«
Man muss wissen – die Krankenhäuser haben ein handfestes Problem: Nach den Plänen der Regierung sollen sich Krankenhäuser und Krankenkassen auf feste Personaluntergrenzen für besonders sensible Klinikbereiche verständigen – beispielsweise in Intensivstationen oder im Nachtdienst. Die Vereinbarung soll bis zum 30. Juni 2018 getroffen und zum 1. Januar 2019 wirksam werden.
In meinem Blog-Beitrag vom 28. Juli 2017 hatte ich bereits kritische Stimmen gegen das Gutachten zitiert und mit Bezug auf die Standards der Fachgesellschaft darauf hingewiesen, dass die vom DKI gefundenen (angeblichen) Ist-Werte der Personalausstattung zu niedrig sind.
Das ist nun detaillierter und fundierter in einer Stellungnahme bearbeitet worden, die Michael Simon von der Hochschule Hannover erstellt und veröffentlicht hat: Kommentar zur Studie des Deutschen Krankenhausinstituts „Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin“, so ist die Ausarbeitung aus dem August 2017 überschrieben. Darin setzt sich Simon kritisch mit methodischen Aspekten der Studie auseinander und natürlich mit den Befunden, die sie transportiert.
Aus der Stellungnahme einige wichtige Kritikpunkte, die er vorher ausführlich begründet (vgl. Simon 2017: 11 ff.):
»Die vom DKI durchgeführte Befragung weist jedoch erhebliche Limitationen auf … Da nur 25% der befragten Krankenhäuser geantwortet haben, können die Ergebnisse nicht als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten. Da insbesondere auch nach dem Grad der Erfüllung von G-BA Richtlinien gefragt wurde, und die Erfüllung von Vorgaben des G-BA zur Personalbesetzung Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit der von den Vorgaben erfassten Leistungen ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Befragungsergebnisse durch strategisch motivierte Nichtbeteiligung systematisch verzerrt sind.«
So viel zur Repräsentativität der Studie. Und dann lernen wir wieder einmal, wie man durch Ein- und Ausschlüsse Ergebnisse „gestalten“ kann – konkret: weniger Fälle und (scheinbar) mehr Personal:
»Zudem wurden bei der Berechnung so genannte »Stundenfälle«, die nur kurze Zeit auf einer Intensivstation lagen und nicht in der Mitternachtsstatistik erscheinen, nicht berücksichtigt. Auf der Seite der Personalbesetzung wurden hingegen offenbar auch Leitungskräfte, die nicht oder nur gelegentlich in der direkten Pflege tätig sind, mitgezählt.«
Simon schlussfolgert: »Angesichts dieser Limitationen erscheint es gerechtfertigt davon auszugehen, dass die tatsächliche Pflegekraft-Patienten-Verhältniszahl über dem in der Befragung errechneten Wert von 1:2,2 liegt und eher im Bereich von 1:2,5 oder höher zu vermuten ist.«
Aber auch ein Wert von 1:2,2 weicht bereits deutlich von der Empfehlung der DIVI ab – darauf hatte ich auch mit Blick auf die Standards der Fachgesellschaft DIVI (siehe die Abbildung mit den Soll-Personalschlüsseln für Intensivstationen) hingewiesen.
Was die Nicht-Berücksichtigung bestimmter Fallkonstellationen mit erhöhtem Personalbedarf nach den Standards der Fachgesellschaft in der DKI-Erhebung für Auswirkungen haben kann, verdeutlicht das folgende Beispiel:
»Da ein erheblicher Teil der Intensivpatienten zu einer Patientengruppe gehört, für die eine 1:1 Betreuung erforderlich ist, ergibt sich aus der DIVI-Empfehlung bereits bei einem Anteil von ca. 1/3 beatmeter Patienten eine erforderliche durchschnittliche Pflegekraft-Patienten-Verhältniszahl von ca. 1:1,5. Stellt man dem die Ergebnisse der DKI-Befragung gegenüber, so ergibt dies bereits bei einem Besetzungsschlüssel von 1:2,2 eine erheblich Lücke. Eine Lücke im Umfang von 0,7 Patienten pro Pflegekraft und Schicht bedeutet bei einer Soll-Besetzung von 1:1,5 eine Überschreitung der aus der DIVI-Empfehlung abzuleitenden maximalen Arbeitsbelastung um ca. 50%.«
Und auch in der kritischen Analyse von Michael Simon werden wir erneut konfrontiert mit dem fundamentalen „Durchschnittsproblem“ – hier mit Blick auf die Intensivpflege:
»Selbst wenn im Jahresdurchschnitt eine Pflegekraft-Patienten-Verhältniszahl von 1:2 eingehalten wird, so können sich hinter einem solchen Durchschnittswert erhebliche Varianzen verbergen. Um dies an einem fiktiven Beispiel zu veranschaulichen: Wenn eine noch relativ unerfahrene Pflegekraft auf einer Intensivstation nur einen Beatmungspatienten versorgt und neben ihr eine erfahrenere und fachweitergebildete Intensivpflegekraft drei Patienten versorgen muss und von diesen Patienten zwei beatmet sind, dann wird in diesem Fall zwar der Durchschnittswert eingehalten, aber dennoch können Patienten durch die Überlastung des Pflegepersonals einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt sein. Ein Jahresdurchschnittswert kann auch nicht verhindern, dass nicht nur einzelne Pflegekräfte, sondern zeitweilig sogar alle Pflegekräfte einer Station überlastet sind, weil sie im Schnitt 3-4 Patienten zu versorgen haben.«
Dem Fazit von Simon kann man sich nur anschließen:
»Sollen Patienten auf Intensivstationen vor den Gefahren einer unzureichenden Personalbesetzung im Pflegedienst geschützt werden, sind verbindliche Mindestbesetzungen, die jeden Tag und jede Schicht eingehalten werden müssen, unerlässlich, so wie dies bspw. in US- Bundesstaat Kalifornien seit 2004 der Fall ist … Und diese Vorgaben müssen auch Vorgaben zur Qualifikation bzw. einem mindestens einzuhaltenden Qualifikationsmix beinhalten.«
Dass das dringend erforderlich ist, kann man auch an einem Beispiel sehen, dass wissenschaftlich gesehen nur anektodische Evidenz hat – die man aber, würde man die Betroffenen untersuchen, möglicherweise auf eine empirisch gesicherte Basis heben könnte: Eine spanische Krankenschwester mit Intensivpflege-Qualifikation, die seit zwei Jahren in einem deutschen Uniklinikum auf der Kinderintensivstation arbeitet, geht nun entnervt wieder zurück nach Spanien, sicher nicht nur, aber laut eigener Aussage auch, weil sie unter den „skandalösen Personalbedingungen“ auf der Station mit lebensbedrohlichen bis tödlichen Konsequenzen für die Betroffenen nicht mehr arbeiten kann und will. Das sollte genau so nachdenklich machen wie die nackten Zahlen, vor allem, wenn die dann auch noch schlimmer sind als eine Studie angeblich zu Tage gefördert hat.