Österreich: Von roten Karten, vier Großbaustellen in der Pflege und einer ambitioniert daherkommenden Pflegereform

Nein, am 12. Mai eines jeden Jahres wird nicht der „Tag der Pflege“ begangen, wie man in vielen Medienberichten zu lesen oder hören bekam, sondern der International Nurses Day, der Tag der (beruflich) Pflegenden. Der Tag soll an den Geburtstag von Florence Nightingale, der Pionierin der modernen Krankenpflege, erinnern. Auch der Bundestag hat das aufgegriffen: »Die teilweise schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen nach Ansicht von Fachpolitikern nachhaltig verbessert werden. In einer Debatte über die Pflegeversorgung machten Redner am Donnerstag, 12. Mai 2022, im Bundestag auf die Diskrepanz zwischen der großen Fachkräftelücke einerseits und der zunehmenden Zahl an Pflegefällen sowie dem schwierigen Arbeitsalltag der Pflegekräfte andererseits aufmerksam«, so der Bericht des Parlaments unter der wieder einmal verheißungsvollen Überschrift Der Pflegeberuf soll attraktiver werden. Aber es soll hier gar nicht um die deutsche Debatte gehen, sondern der Blick geht in das Nachbarland Österreich.

Aus Österreich wird am Tag der Pflegenden berichtet, das »verzweifelte Gesundheits- und Pflegepersonal (trägt) seinen Unmut auf die Straßen der Landeshauptstädte. Zeitgleich will die Regierung eine Pflegereform präsentieren«, so der Artikel Tag der Pflege: Österreichweiter Aufstand gegen den Pflegenotstand. »Personalnot, Überlastung, Burn-out: Der Tenor der Beschäftigten im Pflege- und Gesundheitsbereich ist überall gleich … In Wien, Linz, Klagenfurt, Graz und Innsbruck hat die Offensive Gesundheit, ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Arbeiterkammer (AK), Wiener Ärztekammer und Österreichischem Gewerkschaftsbund (ÖGB), zu großangelegten Protesten aufgerufen. Worte des Dankes und der Wertschätzung könne sich Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) am Tag der Pflege sparen, ließ das Bündnis wissen.«

Als hätte die österreichische Bundesregierung auf den Appell gehört, kündigte sie die Umsetzung der seit langem ausstehenden großen Pflegereform an. Auch in unserem Nachbarland wird seit langem über eine dringend erforderliche Pflegereform debattiert.

Im Juni des vergangenen Jahres haben dazu beispielsweise Stefanie Ruep und Gabriele Scherndl unter der Überschrift Die vier Großbaustellen in der Pflege geschrieben: »eim Pflegepersonal blinken die Alarmsignale seit Jahren rot. Immer wieder wurde auf einen Fachkräftemangel hingewiesen. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft älter wird, womit der Bedarf an Personal in allen Bereichen steigt. Das Problem liegt also auf dem Tisch, die theoretische Lösung hat einen Namen: Pflegereform. Doch deren in einem jahrelangen Prozess ausgearbeiteten Inhalte gehen in der Praxis nicht weit genug,« meinen jedenfalls Branchenvertreter. »Die zentrale Herausforderung in allen Bereichen: Es braucht Leute – nach der Pandemie noch mehr als davor. Laut einer Studie denken österreichweit 45 Prozent aller Pflegekräfte wegen der Belastung durch die Pandemie an einen Berufsausstieg.« Es wurden die folgenden vier großen Baustellen hervorgehoben:

Die pflegenden Angehörigen: »Etwa eine Million Menschen in Österreich pflegen einen Angehörigen oder eine Angehörige. Das Wichtigste für sie wäre, sagt Birgit Meinhard-Schiebel von der IG Pflegende Angehörige, ein Rechtsanspruch auf psychosoziale Unterstützung … Im Februar 2020 startete das Burgenland als erstes Bundesland damit, pflegende Angehörige anzustellen. Einige Bundesländer und auch der Bund hatten Interesse am Modell, viel wurde daraus bisher aber nicht: In Oberösterreich läuft ein Pilotprojekt, im Sommer sollen 30 Personen, die beeinträchtigte Personen pflegen, angestellt werden.« Und mit dem damaligen Blick auf die Überlegungen für eine Pflegereform: »In den Plänen zur Pflegereform ist „Entlastung für pflegende Angehörige schaffen und Demenz begegnen“ einer von fünf zentralen Themenbereichen. Die Überlegung, Angehörige für ihre Arbeit zu bezahlen, kommt nicht vor.«
Die Altersheime: »Die stationäre Pflege als Riesensektor ist längst am Anschlag: Straffe Personalschlüssel, zahlreiche Aufgabengebiete, undankbare Arbeitszeiten und ein Lohn, der all dem in den Augen der Betroffenen nicht gerecht wird, sorgen für eine permanente Personalknappheit. Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) ging zuletzt im gesamten Pflegesektor von einem Personalbedarf von 100.000 zusätzlichen Kräften bis 2030 aus. Markus Mattersberger, Präsident des Verbands Lebenswelt Heim, meint, selbst das greife zu kurz. Diese Rechnung sei nur ein „Fortführen der aktuellen Vorgaben“, das werde nicht reichen … Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen könnten oft nicht mehr ihren eigenen Werthaltungen entsprechend arbeiten. „Das führt zu Unmut, zu Frustration, und das ist nicht gut.“ Um das zu lösen, so meint Mattersberger, müsse man mit einem Bedarf an mindestens 125.000 zusätzlichen Leuten rechnen.«
Die 24-Stunden-Betreuung: »Bei der 24-Stunden-Betreuung werden die Pläne des Gesundheitsministeriums aus zwei Perspektiven betrachtet: jener der Agenturen und jener der Betreuerinnen. Die IG24, Interessenvertreterin für Zweitgenannte, ist der Ansicht, dass es mehr Beratungssysteme für Betreuerinnen brauchte, davon ist auch in den Plänen zur Pflegereform die Rede. Außerdem müssten sämtliche Angebote für pflegende Angehörige auch 24-Stunden-Betreuerinnen zugänglich sein – immerhin stünden die beiden Gruppen vor denselben Herausforderungen. In Summe aber, so heißt es von der IG24, seien die Pläne eine „vertane Chance“, wenn es um den Status der Betreuerinnen als Selbstständige geht. „Die Tatsache, dass es sich hier eindeutig um Scheinselbstständigkeit handelt“, stehe nach Einschätzung der IG schon seit 14 Jahren – seit der Legalisierung der Branche – auf der Tagesordnung.« Hinzu kommt: »Große Nachfrage gebe es auch für stundenweise Betreuungsformen, sagt Marchner. Doch für diese gebe es derzeit keine Förderung. Die stundenweise Betreuung sei vor allem für pflegende Angehörige eine wichtige Entlastung.«
Die mobile Pflege: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt (BAG), der Zusammenschluss Österreichs großer Sozialorganisationen Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe, fordert einen Ausbau »der mobilen Pflege und Betreuung. Sozialraumorientierte Dienste und Tageszentren müssten ausgebaut werden. Denn vier von fünf der 455.000 Pflegegeldbeziehenden werden zu Hause versorgt, und weniger als die Hälfte der pflegenden Angehörigen erhalten Unterstützung.«

Das war ein Bericht aus dem Juni 2021. Und heute?

»Bis 2030 brauchen wir 100.000 zusätzliche Pflege- und Betreuungskräfte, und bereits jetzt kommt es in der mobilen Pflege zu Wartelisten und in Pflegeheimen zu leeren Betten, weil das Personal fehlt.« Damit beginnt Anja Eberharter von der österreichischen Diakonie ihren Beitrag Roter Teppich? Eine rote Karte für die Pflege über die sogenannte „Rot-Weiß-Rot-Karte“.

➔ Dabei geht es um die Rekrutierung von Fachkräften in Mangelberufen. Als Staatsangehörige/r eines Drittstaats kann man in Österreich eine Rot-Weiß-Rot-Karte als Fachkraft für 24 Monate beantragen, wenn man a) eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem Mangelberuf laut Verordnung nachweisen kann, b) ein verbindliches Arbeitsplatzangebot in Österreich hat und das Unternehmen bereit ist, das nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag zustehende Mindestentgelt zu bezahlen (im Falle einer betriebsüblichen Überzahlung ist auch diese zu gewähren) und nach bestimmten Kriterien mindestens 55 Punkte erreicht. Die Kriterien und die Punktezahl sowie weitere Informationen gibt es auf dieser Seite: Fachkräfte in Mangelberufen.

Antragsteller müssen aus einer Liste von Voraussetzungen – Berufsausbildung, Berufserfahrung, Alter, Englisch, Deutsch – zumindest 55 Punkte erreichen. So will man sicherstellen, dass nur qualifizierte Arbeitskräfte den Aufenthaltstitel erhalten. Was aber in der Praxis passiert und wie man sich in dem eigenen Punktesystem verheddern kann, darüber berichtet Anja Eberharter mit diesen Beispielen zum Alterskriterium:

➔ Frau K. ist georgisch-russische Staatsbürgerin. Sie ist 2020 nach Oberösterreich gekommen, um eine Ausbildung in der Pflege zu machen. Während der Ausbildung arbeitet sie 20 Stunden in einem Seniorenheim. Frau K. leistet gute Arbeit und ist bei Bewohnerinnen und Bewohnern sehr beliebt. Ein Angebot für eine Vollzeitfestanstellung nach ihrem Abschluss hat sie deshalb schon lange in der Tasche; wäre nicht die Tatsache, dass Frau K. mit einem Schüler:innenvisum nach Österreich gekommen ist. Nach ihrem Abschluss braucht sie deshalb eine Rot-Weiß-Rot-Karte, um im Land bleiben und arbeiten zu können.
Eine reine Formalität würde man meinen, doch die Pflegefachkraft, die extra für den österreichischen Arbeitsmarkt ausgebildet wurde, erreicht die nötigen 55 Punkte als Voraussetzung für die Rot-Weiß-Rot-Karte nicht. Der Grund: Frau K. ist 42 Jahre alt. Die vollen Punkte fürs Alter erhält man nur bis 30. Ab 40 gibt es keine Punkte mehr. Diese Bewertung ist im Allgemeinen zu hinterfragen, für die Pflege und Betreuung passt sie aber jedenfalls nicht … Wenn sie die Rot-Weiß-Rot-Karte nicht erhält, verliert Österreich eine fertig ausgebildete Pflegekraft.«

➔ »Auch Frau H., eine brasilianische Staatsbürgerin, hatte 2021 nach ihrer Ausbildung zur Pflegeassistentin in Salzburg eine Rot-Weiß-Rot-Karte beantragt. Der Arbeitsvertrag im Pflegeheim war bereits unterschrieben. Doch auch sie war 42 Jahre alt und bekam die Karte deshalb nicht. Die Salzburger Politik war empört und wollte eine Änderung des Punktesystems erreichen – blieb jedoch erfolglos.«

Auch die Bewertung der Sprachkenntnisse wird kritisiert. Im aktuellen System bleibt der Berufsalltag unberücksichtigt. Ein Beispiel zu den vorgeschriebenen Englisch-Kenntnissen, die man für das Punktesystem braucht:

➔ »Frau K. spricht Deutsch auf B1+-Niveau. Im Herbst macht sie die Prüfung für B2. Sie beherrscht noch weitere drei Sprachen in Wort und Schrift. Englisch ist nicht darunter. Also null Punkte. Dabei wird Englisch in der Pflege kaum gebraucht. Andere Sprachen gewinnen hingegen an Bedeutung. Die Gastarbeiter:innen, die in den 60ern und 70ern nach Österreich gekommen sind, brauchen vermehrt Pflege. Allgemein steigt der Anteil der Drittstaatsangehörigen unter den Pflegebedürftigen. Für eine kultursensible Pflege werden Sprachen wie Türkisch, Serbisch oder Russisch immer wichtiger. Im Punktesystem der Rot-Weiß-Rot-Karte ist das nicht abgebildet.«

Fälle wie die von Frau K. und Frau H. sind auch volkswirtschaftlich eine Katastrophe. Eine Ausbildung in der Pflege und Betreuung kostet den Staat mehrere Zehntausend Euro. Eine Investition, die sich lohnt – wenn die Absolventinnen auch auf dem Arbeitsmarkt ankommen (können).

Anja Eberharter bilanziert: »Änderungen bei den Altersgrenzen und Spracherfordernissen für die Rot-Weiß-Rot-Karte sind kostenlos und wirken sofort.« Man müsste nur wollen.

Aber jetzt kommt sie endlich, die große Pflegereform. Nun wird alles besser – oder?

»Die Hilferufe wurden endlich erhört: Die Regierung legt kluge Maßnahmen gegen den Pflegenotstand vor«, so kommentiert Gerald John unter der Überschrift Diese Pflegereform ist mehr als nur ein weiteres Papierl. Er verweist wie andere auch auf das bisherige Verzögern und Verschleppen der versprochenen Pflegereform: »Vollmundigen Ankündigungen folgte lange Zeit wenig Handfestes: Allmählich wurde der ständige Protest gegen das Ausbleiben der Pflegereform für die Regierung peinlich. Selbst eine Pandemie und eine verunglückte Zwischenbesetzung im zuständigen Sozialministerium sind keine Ausrede, um ein solches Schlüsselprojekt ewig zu verschleppen. Zu sehr spüren Pflegebedürftige bereits die sich anbahnende Misere. Gravierendstes Problem ist der wachsende Personalmangel. Obwohl die von der Demografie getriebene Alterungswelle noch gar nicht voll angerollt ist, können Pflegeanbieter mancherorts schon jetzt nicht mehr alle Heimbetten betreuen und nachgefragte Leistungen für zu Hause befriedigen. Dabei ist das Versorgungsniveau hierzulande ohnehin schlechter als in den in Sachen Wohlstand vergleichbaren nordischen Ländern, die weit mehr Geld für professionelle Pflege ausgeben. Österreich vertraute die längste Zeit darauf, dass eh die Angehörigen – meist Frauen – gratis einspringen.«

»Doch es lässt sich nicht behaupten, dass die Regierung die Hilferufe ignoriert habe. Was ÖVP und Grüne nun endlich vorlegten, geht deutlich über ein weiteres Papierl substanzloser Überschriften hinaus … vieles hat Hand und Fuß, inklusive konkreter Umsetzungsfristen und finanzieller Dotierung.«

Solche Sätze machen Lust auf mehr. Was hat die österreichische Bundesregierung da am Tag der Pflegenden der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt? Schauen wir einmal genau hin: »Das Paket umfasst insgesamt über 20 Maßnahmen mit einem Volumen von einer Milliarde Euro – Teil davon sind ein monatlicher Gehaltsbonus und eine Entlastungswoche«, berichtet Gabriele Scherndl unter der Überschrift Die Eckpunkte der milliardenschweren Pflegereform. Die Eckpunkte:

Maßnahmen für den Pflegeberuf: »Das Personal soll mehr Geld bekommen, genauer einen monatlichen Gehaltsbonus – voraussichtlich. Für die Jahre 2022 und 2023 stellt der Bund insgesamt 520 Millionen Euro zur Verfügung. Profitieren sollen davon Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger und -pflegerinnen, Pflegeassistenten und -assistentinnen und Pflegefachassistenten und -assistentinnen. Dieser Gehaltsbonus ist zunächst auf zwei Jahre befristet. Dazu soll eine „Entlastungswoche“ kommen, auf die Pflegekräfte ab ihrem 43. Geburtstag Anspruch haben sollen – unabhängig davon, wie lange sie schon im Betrieb sind. Außerdem soll es für alle Beschäftigten in der stationären Langzeitpflege künftig pro Nachtdienst zwei Stunden Zeitguthaben geben. Pflegeassistenten und -assistentinnen sollen mehr Kompetenzen bekommen. Zugewanderte ausgebildete Fachkräfte sollen einfacher eine Arbeitserlaubnis bekommen, auch die Anerkennung von Ausbildungen, die im Ausland gemacht wurden, soll „entbürokratisiert“ werden.«
Verbesserungen bei der Pflegeausbildung: »Menschen in der ersten Pflegeausbildung sollen mindestens 600 Euro Ausbildungszuschuss pro Monat bekommen. Umsteiger und Wiedereinsteigerinnen sollen ein Pflegestipendium von 1.400 Euro im Monat bekommen, wenn sie in einer vom AMS geförderten Ausbildung sind. Für Jugendliche soll es als Modellversuch eine Pflegelehre in ganz Österreich geben.
Maßnahmen für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige (inklusive 24-Stunden-Betreuung): »Das Pflegegeld für demente Personen oder jene mit schweren psychischen Behinderungen soll erhöht werden, davon sollen 8.500 Menschen profitieren. Der Rechtsanspruch auf Pflegekarenz soll von einem auf drei Monate erhöht werden. Voraussetzung ist, dass dieser Rechtsanspruch in einem Kollektivvertrag oder einer Betriebsvereinbarung vorgesehen ist. Die erhöhte Familienbeihilfe soll nicht mehr auf das Pflegegeld angerechnet werden. Auch für pflegende Angehörige soll es Erleichterungen geben: Die sollen ab 2023 1.500 Euro als jährlichen Bonus bekommen, sofern sie den größten Teil der Pflege zu Hause leisten und selbst- oder weiterversichert sind und die Pflegeperson mindestens auf Pflegestufe vier ist. Davon sollen laut „vorsichtigen Schätzungen“ 30.000 Personen profitieren. Etwa eine Million pflegende Angehörige gibt es in Österreich. Die unselbstständige Beschäftigung in der 24-Stunden-Betreuung soll „attraktiviert“ werden, Details stehen noch aus. Die selbstständige 24-Stunden-Betreuung – in der die allermeisten der über 60.000 24-Stunden-Betreuerinnen tätig sind – soll davon unberührt bleiben und weiterhin bestehen. Seit Jahren sprechen Interessenvertreterinnen und -vertreter von einer „Scheinselbstständigkeit“ von 24-Stunden-Betreuerinnen, weil diese in vielen Fällen stark von Vermittlungsagenturen abhängig sind.« (Scherndl 2022; Hervorhebungen nicht im Original)

Die mobile Pflege, also die ambulanten Pflegedienste, ist in der geplanten Reform kein Thema, sie wird von den Ländern gefördert.

Wie sieht es mit der Finanzierung aus?

Alle jene Maßnahmen, die zu Mehrkosten führen, sind vorerst auf zwei Jahre befristet (bis zum Ende der Gesetzgebungsperiode) – begründet wurde das damit, dass rasch gehandelt werden sollte.

➔ »Die Finanzierung all dieser Maßnahmen ist unterschiedlich. Für den Zuschlag für Beschäftigte will der Bund 530 Millionen Euro in die Hand nehmen, die Verteilung wolle man mit Ländern und Sozialpartnern sicherstellen. Für den sogenannten Ausbildungsfonds will der Bund den Ländern insgesamt 225 Millionen Euro für drei Jahre zur Verfügung stellen, um zwei Drittel der so entstehenden Kosten abzudecken. Das dritte Drittel haben die Länder zu tragen. Das Paket wird nun schrittweise umgesetzt – die ersten Maßnahmen sollen noch vor dem Sommer im Nationalrat beschlossen werden.«

Erste Reaktionen auf die Eckpunkte einer Pflegereform in Österreich

»Die allerersten Reaktionen auf das Paket waren durchwegs positiv, auch wenn weitere Schritte gefordert werden. Die Gewerkschaft GPA spricht von einem „großen Erfolg des gewerkschaftlichen Drucks der letzten Jahre“, verlangt aber im Herbst weitere Reformen zum Personalbedarf und -einsatz. Der Österreichische Gewerkschaftsbund begrüßt die Gehaltssteigerungen, lehnt aber eine Pflegelehre ab«, berichtet Gabriele Scherndl in ihrem Beitrag Die Eckpunkte der milliardenschweren Pflegereform. Es gibt aber auch andere Stimmen: »Auf das erste Hurra folgt Ernüchterung angesichts der von der Regierung präsentierten Pläne für die Pflege. Denn diese sind mehr Personaloffensive als Reform bestehender Strukturen«, so Martina Madner unter der Überschrift Was der Personaloffensive zur echten Pflegereform fehlt. So werde beklagt, dass »ganzheitliche Überlegungen zur Qualität der Langzeitpflege, eine Struktur- und Personalplanung, die sich daraus ergibt und eine nachhaltige Finanzierung im Föderalismus« in den vorliegenden Eckpunkten fehlen würden.

Elisabeth Potzmann, Präsidentin des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands, fehlt ein „klares Bekenntnis zur Professionalisierung der Pflege“. »Potzmann kritisiert, dass sowohl die Pflegefachassistenz, also auch die Pflegeassistenz mit neuen Kompetenzen ausgestattet werden. Diese dürfen laut Regierungsplänen künftig Infusionen an- und abschließen und Zugänge entfernen, müssen dafür nicht mehr einen Arzt oder eine Ärztin für eine Anweisung zurate ziehen. „In Wirklichkeit verkauft man uns hier eine Entlastung der Ärzte als Aufwertung des Pflegeberufs“, sagt die Expertin. „Wenn man den Beruf wirklich hätte aufwerten wollen, hätte man Kompetenzen der Medizin hin zum gehobenen Dienst verschoben.“ Hilfsmittel, die man für professionelle Pflege verwendet, also zum Beispiel Inkontinenzeinlagen für die Betten von Pflegebedürftigen, müssen im Moment von einem Arzt oder einer Ärztin verordnet werden. Selbst Nachbestellen kann die diplomierte Pflegekraft nicht alleine. „Für jedes Pflaster, dass wir kleben müssen, brauchen wir eine Anweisung eines Arztes. Wir werden da am Gängelband des Systems bewusst klein gehalten“, ärgert sich Potzmann über dieses Versäumnis.«

Auch bei der Personalbemessung werden Versäumnisse beklagt. Hinsichtlich der quantitativen Personalausstattung nennt Potzmann diese Beispiele: „In einem Bundesland arbeitet die Pflege auf einer Station zu viert bei 30 Patienten, über die Bundesländer-Grenze hinweg sind es sechs. Das kann eigentlich nicht sein, ist aber so.“ Bei manchen Pflegeheimträgern arbeite ein Nachdienst alleine, bei anderen wenigsten zwei Personen.

Potzmann bekommt an dieser Stelle Unterstützung von anderer Seite: »Kai Leichsenring, der sich beim „European Centre for Social Welfare Policy and Research“ wissenschaftlich mit Pflege auseinandersetzt, weist auf die unterschiedlichen Vorgaben in den Bundesländern hin. Während es im Burgenland Mindestvorgaben für Personal basierend auf Pflegeminuten gibt, bauen die Systeme in Wien, Oberösterreich und die Steiermark auf den Pflegestufen auf. In Salzburg oder Tirol gibt es keine gesetzlich verankerten Personalschlüssel.« Und dann kommt ein Kritikpunkt, den man auch aus der deutschen Diskussion kennt:

Kai Leichsenring sieht in der „Tendenz zum Downgrading, also teures Personal zu vermeiden“ das größere Problem.

»Für Martin Nagl-Cupal, Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft, ist das zusätzliche Geld zwar „ein sehr deutliches Signal“ … Aber auch er vermisst Angebote, die die gehobene Pflege attraktiver machen. Seine Vermutung, warum man darauf verzichtet, ist: „Für das System ist es wesentlich günstiger, auf Assistenzberufe zu setzen als auf den gehobenen Dienst. In Summe ist das nicht der beste Schritt, weil Investitionen in die Qualität jedenfalls sinnvoll und rentabel sind.“ Nagl-Cupal spricht von der Möglichkeit zur Spezialisierungen der gehobenen Pflege, wie etwa Dialyse oder Wundmanagement, die seit der Novelle des Gesundheits-und Krankenpflegegesetzes 2016 auf dem Tisch lägen: „Passiert ist da aber noch sehr wenig.“«

Und manche Berufe werde schlichtweg vergessen. Kai Leichsenring erinnert beispielsweise an die Fachsozialbetreuung: „Ein wunderbares Berufsbild, in dem zwar seit 15 Jahren ausgebildet wird, das aber trotzdem noch kaum zum Einsatz kommt. Dabei hätten sie für die Langzeitpflege eindeutig den besseren Skillsmix als etwa die Pflegeassistenz. Denn dabei geht es weniger um Akutversorgung in Spitälern als darum, Lebensqualität im Alttag im Alter herzustellen.“

Und die vielen Betreuungskräfte aus Osteuropa?

Zu dem auch in Deutschland so bedeutsamen Thema der irreführend immer wieder als „24-Stunden-Betreuung“ bezeichneten Beschäftigung von bislang zumeist „selbstständigen“ (faktisch „scheinselbstständigen“) Betreuungspersonen vorwiegend aus Osteuropa (vgl. dazu und mit einem besonderen Blick auf die beiden Umsetzungsvarianten in Österreich den Beitrag „24-Stunden-Betreuung“: Von einer unlösbaren Gleichung aus den Untiefen der deutschen Pflegepolitik bis hin zu einer scheinbaren Lösung aus Österreich vom 26. Juni 2021) wird kritisch angemerkt:

»Wie die 24-Stunden-Betreuung ins System inkludiert wird, müssen die Sozialpartner erst bis zum Herbst ausverhandeln. Die Qualität in diesem Bereich wird im Moment einmal pro Jahr überprüft. „Per angekündigtem Hausbesuch“, sagt Leichsenring. Dass da bei 98 Prozent alles wunderbar läuft, sei wenig verwunderlich. Eine Initiative aus der Praxis rund um Hilfswerk Österreich-Geschäftsführerin Elisabeth Anselm forderte eine Qualitätsoffensive mit regelmäßigen Qualitätskontrollen und mehr Geld dafür. In Summe würde das zusätzlich 220 Millionen Euro kosten – zusätzlich zur Förderung von 550 Euro pro Betreuungskraft, was insgesamt 160 Millionen Euro pro Jahr ausmacht.«

»Organisationen warnen, dass das System bald zusammenbrechen könnte. Sie errechneten: 220 Millionen Euro bräuchte es seitens der öffentlichen Hand, um das abzuwenden«, berichtet auch Gabriele Scherndl unter der Überschrift 24-Stunden-Betreuung: Die Lücke in der großen Reform. Die angekündigte Pflegereform wurde rundherum gut aufgenommen. Länder, Organisationen, Interessenvertretungen und selbst die Gewerkschaft lobten die präsentierten Pläne. Nur im Bereich der 24-Stunden-Betreuung blieb es still. Die wird in der Reform vorerst aber ausgespart. Scherndl skizziert den österreichischen Rahmen für die sogenannte „24-Stunden-Betreuung“:

»Dabei ist sie eine wesentliche Säule des österreichischen Pflegesystems – zumindest seit sie legal ist. Lange existierte das Modell, 24-Stunden-Betreuerinnen aus dem Ausland nach Österreich zu bringen, unter dem Radar – 2007 wurde dies legalisiert und mittlerweile in ein Modell gegossen, das auf den ersten Blick das Beste für beide Seiten bringt: Für zumindest einen Teil der Pflegebedürftigen in Österreich ist es nun leistbar, rund um die Uhr zu Hause betreut zu werden. Und für die betreuenden Personen – der allergrößte Teil sind Frauen – ist der Lohn in Österreich besser als im Heimatland. Nur: Die Beschäftigung ist höchst prekär. Der Stundenlohn liegt weit unter dem, was man in einem anderen Pflegejob bekommen würde – die Betreuerinnen werden in vielen Fällen in massive Abhängigkeit gedrängt. Die Pfleglinge bekommen teils keine adäquate Betreuung, weil es an Qualitätssicherung mangelt. Ändern sollte das seit 2019 ein Qualitätszertifikat für die Vermittlungsagenturen, bis heute ist das aber freiwillig.«

Was enthält die angekündigte Pflegerreform für diesen Personenkreis bzw. für die Pflegebedürftigen, die das in Anspruch nehmen?

Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hat angekündigt, »man wolle zumindest die Förderung von 550 Euro pro Monat und Betreuungskraft valorisieren, also an die Inflation anpassen.« Das ist das Mindeste. Man müsse die Förderung aber von 550 auf 680 Euro anheben, wird etwa Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich zitiert. Momentan gibt die öffentliche Hand 160 Millionen Euro pro Jahr für diese Förderungen aus. Die Forderungen aus dem Bereich der Wohlfahrtsverbände gehen weiter: »Zusätzlich zur Valorisierung müsse man das Fördersystem aber auf neue Beine stellen, fordert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. Man brauche ein Bonussystem, dass daran geknüpft ist, dass man eine zertifizierte Agentur in Anspruch nimmt. Außerdem müsse sichergestellt werden, dass die Klientinnen und Klienten sich Qualitätssicherung leisten können – also dass regelmäßig eine Pflegefachkraft vorbeikommt. Denn die Betreuerinnen sind – zumindest offiziell – genau das: Betreuerinnen und keine Pflegerinnen. Diese Besuche durch Fachkräfte kosten Geld, auch da müsse die Politik finanziell mehr mithelfen, so eine Forderung.«

Ob es überhaupt spürbare Verbesserungen in diesem Graubereich des Pflege- und Betreuungssystem geben wird, kann man frühestens im Herbst dieses Jahres beurteilen. Es bleibt, wie in anderen Ländern und dort teilweise noch mehr, eine der großen Baustellen, auf denen dringend gearbeitet werden sollte.